Der Pakt des Lucifer von sarah
Durchschnittliche Wertung: 4, basierend auf 5 BewertungenKapitel Freundschaft
Sein Vater, ein reicher italienischer Kaufmann und Günstling der Familie Medici, war viel auf Reisen gewesen, die ihn weit fort aus der Heimat geführt hatten. Luciano selbst dagegen verließ sein Dorf auf der Insel Elba, wo er aufgewachsen war, bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr nicht .Für ihn endete die Welt dort, wo die Strände ins Meer übergingen. Schon, als er noch ein Kind war, fürchteten ihn die Menschen in jenem kleinen Dorf. Es hieß, er habe Hexenaugen, böse Augen, mit denen er die Menschen zwingen konnte Sachen zu tun, die sie nicht tun wollten. Oft warfen die Jungen mit Steinen nach ihm und übertrafen sich im Erfinden von schmutzigen Schimpfwörtern, die sie ihm nachriefen. Einmal fragte er seine Mutter, weshalb Gott ihn schlechter gemacht habe als die anderen, und sie antwortete ihm, dass er ihn nicht schlechter, sondern anders und mächtig gemacht habe und dass die Menschen diejenigen fürchteten, die mächtig waren. Gott habe ihn zu etwas besonderem auserkoren und ihm darum diese Augen geschenkt. So wartete der kleine Luciano also geduldig darauf, dass Gott ihm seine Aufgabe offenbaren würde.
Als die Spanier schließlich nach Elba kamen, begannen schlechte Zeiten für die Familie Carmini, und Lucianos Vater floh mit Frau und Kindern nach Pisa. Luciano betrat eine Welt voller Wunder, ein Hafen, in den Schiffe aus Indien, Afrika und der Neuen Welt einliefen, ein Turm, der so schief stand, dass er es vermied in seine Nähe zu kommen, aus Angst er könne ihm auf den Kopf fallen und überall Künstler, Wissenschaftler und Musiker, die über Fragen diskutierten, die Luciano niemals zu stellen gewagt hätte: Wer ist Gott? Was ist der Mensch? Wohin führen uns unsere Wege? Gemäß dem Wunsch seiner Mutter besuchte der junge Luciano die Universität von Pisa, um Theologie zu studieren. Doch seine heimliche Leidenschaft galt den Naturwissenschaften. Einer seiner Professoren war ein junger Wissenschaftler namens Galileo Galilei, der seit seiner Entdeckung der Fallgesetze ein angesehener Mann in Pisa war. Er erkannte schnell die wissenschaftliche Begabung und die fast an Fanatismus reichende Wissbegierde seines Schülers, und weihte ihn in seine Beobachtungen in der Astronomie ein, dass die Erde sich um die Sonne drehe und nicht der ruhende Pol im Universum sei, um den die anderen Planeten kreisten, wie es Aristoteles behauptet hatte; eine Erkenntnis, die er vor dem Rest der Welt noch Jahrzehnte lang geheim halten würde. Wohlwissend dass seine Entdeckung neuen Streit zwischen den Wissenschaftlern und der Kirche hervorrufen würde, die Aristoteles‘ Lehre zum Dogma erklärt hatte.
Luciano war sich sicher, nun endlich seine Bestimmung gefunden zu haben: Er glaubte nicht, dass Galileis Beobachtungen dem Wort Gottes entgegen standen, und wenn sie der Bibel widersprachen, die die Erde als den Mittelpunkt der Welt festgelegt hatte, so mochte dies daran liegen, dass es Menschen waren, die die Bibel auslegten; Menschen jedoch waren fehlbar. Gott aber hatte beschlossen sie aus ihrer Unwissenheit zu befreien und darum hatte er ihn, Luciano Carmini auserkoren, das Wissen um die Bewegung der Himmelskörper unter den Menschen zu verbreiten. So kehrte er nach Abschluss seines Theologiestudiums in sein Heimatdorf auf der Insel Elba zurück und von der Kanzel herab predigte der junge Priester vom Anfang eines neuen Zeitalters und sein flammender Blick, dem sich keiner entziehen konnte, vermochte diejenigen zu überzeugen, die wissenschaftlichen Beweisen keinen Glauben schenken wollten. Doch die Kunde von den „ketzerischen Predigten“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Umgebung und Bischöfe und andere Kirchenfürsten, die die Unantastbarkeit der Kirche durch die Verbreitung des heliozentrischen Weltbilds bedroht sahen, beschlossen den „Hexer mit dem dämonischen Blick“ aus dem Weg zu räumen. Luciano Carmini wurde der Ketzerei und Hexerei angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt: Fünfundzwanzig Jahre seines Lebens verbrachte er in einem Gefängniskerker auf der Insel Palmaiola. Bei seiner Einkerkerung stach man ihm die Augen aus, da man fürchtete er könne versuchen einen Gefängniswärter zu verhexen und zu fliehen. In dem Moment, da man ihm das Augenlicht raubte, schwor Luciano dem Gott ab, der ihn verraten hatte und verpfändete seine Seele dem Teufel. Luzifer, der gefallene Engel, hatte wie er selbst versucht den Menschen die Wahrheit zu bringen und wie er von der Kirche, so war Lucifer von Gott verdammt worden. Sie waren Brüder. Dieser Moment war die Geburtsstunde des Famulus Diaboli. Und in den Jahren seiner Haft reifte sein wahnwitziger Plan, der Luzifer die Herrschaft über die Menschen und ihm seine Rache an Gott und der Kirche bringen sollte.
Im Jahre 1627 wurde Famulus von einem französischen Mönch befreit. Der Custos des Franziskanerklosters in Nancy hatte seinem 8o-jährigen Vater , der, nachdem der Name Carmini nach Lucianos Verurteilung in der ganzen Toskana als geächtet galt, ins Ausland geflohen war, an dessen Sterbebett die Absolution erteilt und ihm versprochen seinen Sohn mit dem hinterlassenen Geld aus der Kerkerhaft freizukaufen. Um die Bestechung zu vertuschen, ließ der Gefängniswärter Luciano Carmini offiziell an einer Lungenentzündung sterben. Famulus Diaboli jedoch begab sich als Mönch unter den Schutze seines Befreiers...
Als er den Klostervorsteher vier Jahre darauf durch seine Kuttendiener töten ließ, antwortete er auf die Frage des sterbenden Custos, warum er das getan habe, mit einem kalten Lächeln: „Ich habe meine Schuld beglichen. Ihr befreitet mich aus der Haft, nun befreie ich Euch vom Leben.“
Als Athos erwachte, blickte er in zwei dunkle leere Augenhöhlen. Ein Blitz erhellte in flüchtigem blauem Licht den Totenkopf, der sich über ihn beugte. In der erhobenen Hand hielt der Fremde einen Dolch. Hinter ihm erkannte Athos eine gesichtlose Gestalt in einer schwarzen Kutte. Mit einem Ruck setzte der Musketier sich auf und griff neben sich. Doch der Degen, den er dort vermutete, war nicht, wo er zu sein hatte. Wo, zum Teufel, befand er sich hier? wie war er hierher gekommen? Wer war jener Mann, der ihn bedrohte und...?
Die Kerzen. Das Kruzifix. Saint-Eustache. Aramis. Der Wein.
Mit einem Schlag kehrte Athos Erinnerung zurück. ‚Wenn alles gutgeht‘ hatte Aramis gesagt, nachdem Athos das Gift geschluckt hatte, ‚werde ich bei Euch sein, wenn Ihr morgen um Mitternacht in Saint-Eustache erwacht‘. Wenn alles gutgeht! Nun, es schien nicht alles gutgegangen zu sein! Der, den er vor sich sah, konnte kein anderer sein als Famulus Diaboli, der Wahnsinnige. Der Mörder von Saint-Eustache. Vorsichtig erhob sich Athos. Famulus schien jede seine Bewegungen zu spüren und folgte ihnen mit seinen leeren Augen.
„Ihr seid erwacht, de la Fère?“ Die Stimme klang leise und beinahe zart.
„Was habt Ihr mit Aramis getan?“ fragte Athos kalt, jedoch ohne die bange Erregung in seiner Stimme völlig unterdrücken zu können.
„Ihr meint den Verräter d’Herblay? Aramis?“ Famulus lächelte falsch, „So nannte ihn auch sein hitziger Freund mit dem gascognischen Akzent.“
„D’Artagnan!“ Athos wurde totenbleich. Was hatte das zu bedeuten?
„Ihr könnt Euch glücklich schätzen! Ihr habt sie überlebt, alle vier, um etwa eine halbe Stunde: d’Herblay, Euren d’Artagnan, den Stallmeister des Kardinals und jenen, den sie Porthos nannten...“
Donner krachte und Blitze schossen wie Schmerzenspfeile vom Himmel und bohrten sich in Athos‘ Herz. Er schwankte und griff hinter sich, als suche er Halt. Doch in diesem Moment geschah etwas eigenartiges: Der Kuttenträger, der bis hierhin reglos hinter Famulus verharrt hatte, nahm für die Dauer eines Blitzschlages die Kapuze seiner Kutte vom Kopf.
D’Artagnan?!
Spielte sein Verstand ihm einen Streich? War diese... Vision nichts weiter als ein Gespenst? Nein, es war keine Einbildung: D’Artagnan war quicklebendig und gab sich als der Handlanger des Custos aus. Doch weshalb schritt er nicht ein, obgleich er den schwächlichen alten Mann mit Leichtigkeit überwältigen könnte? Er schien auf etwas zu warten... auf jemanden! Dann mussten auch die anderen noch am Leben sein! Athos musste sich dazu zwingen nicht erleichtert aufzuatmen und den Custos dadurch misstrauisch zu machen.
„Ihr... werdet auch mich töten?“ fragte er, um Zeit zu gewinnen.
„Ich?“ Beinahe angewidert verzog Famulus die Lippen, „Die Mächtigen der Welt sind mächtig, weil sie töten ohne jemals ihre Hände mit Blut zu beflecken! Das hat mich einmal mein Kerkermeister gelehrt. Ein weiser Mann. Nein, ich werde Euch nicht töten, de la Fère... und ich kann auch dafür sorgen, dass es kein anderer tut.“
Athos schwieg verwirrt.
„Ich sehe in Euch einen Seelenverwandten.“ Als der Musketier scharf die Luft einsog, lachte Famulus kurz auf und trat einen Schritt näher an Athos heran, „Glaubt mir, de la Fère, sehen kann auch, wer blind ist. Und wer gelitten hat, wie ich, der erkennt eine Seele, in der der gleiche Schmerz wohnt. Wie Ihr glaubte ich einst an die Güte Gottes und die Gerechtigkeit unter den Menschen und wie Ihr wurde ich von beiden enttäuscht: von der Menschheit ebenso wie von dem, den sie den Herrn nennen... Versucht nicht mir weiszumachen, Ihr wüsstet nicht, was Rache bedeutet!“
Für einen Augenblick stand Athos wie versteinert vor jenem Mann, der in seiner Seele zu lesen vermochte wie in einem offenen Buch, und er begann zu begreifen, wie dieser Mann es fertig gebracht hatte gläubige und herzensgute Menschen zu Teufelsanbetern und Mördern zu machen.
„Ihr wollt mich verführen...“ sagte er schließlich mit einer Stimme, die nicht so ruhig und fest klang, wie es ihm lieb gewesen wäre, „Doch mein Vertrauen in Gott – was immer dieses Wort, diese Idee auch bezeichnen mag – könnt Ihr nicht erschüttern.“
„Gott!“ Die Stimme des Custos war schrill und verächtlich geworden, er wandte seinen Kopf und starrte mit leeren Augen auf das Kruzifix „Gott ist ein Betrüger, der sich als Schöpfer der Welt darstellt und sie in die Gestalt zwängt, die er für sie vorgesehen hat! Katholiken, Hugenotten – allesamt naive Mitläufer. Die Bibel – ein einziger Schwindel, der den Betrug Gottes legitimiert! Warum hat Er die Menschen in Stände unterteilt? Die, die Seinen Schwindel kennen, sind reich und mächtig durch Ihn – warum sollten sie Ihn verraten? Und die anderen lässt Er in Unkenntnis über die Wahrheit, für sie hat Er die Hölle erschaffen,. damit sie lernen Ihn zu fürchten! Warum verdammte Er Luzifer! Weil er sich erhob, weil er zweifelte am Wort Gottes!“
„Das ist nur ein Bild!“ Athos beobachtete durch die Kirchenfenster, wie dunkle Schatten gebückt um die Kirche herum schlichen, „ Sowie die Bibel aus Gleichnissen und Bildern besteht, so ist der Teufel ein Bild für die Versuchung, das Böse!“
„Das Böse?“ In den Augenhöhlen des Custos schien ein Funke zu glühen, „Was ist das, das Böse? Versucht garnicht erst mir zu antworten, Ihr werdet keine Antwort finden! Es sind die Mächtigen, die definieren, was gut und böse ist! Seht, im alten Rom war es etwas durchweg Gutes heidnischen Göttern ein Opfer darzubringen, in der heutigen Zeit gilt es als Sünde. Verpönt ist, wer der hugenottischen Konfession angehört, doch wer weiß, wie man in der Zukunft dazu stehen wird? So, wer kann schon sagen, was gut und böse ist? Und wer kann beweisen, dass wir nicht alle Opfer eines gigantischen Schwindels sind, der das zum Guten macht, was eigentlich böse ist und umgekehrt? Wer kann beweisen, dass wir nicht in dem unseren Gott sehen, der in Wahrheit der Teufel ist?“
„Ihr seid verrückt!“
Was für ein Wahnsinn! Das Opfer einer Welt, die von Zweifeln zerrissen ist!
„Nun gut“ Der Custos spielte mit dem Dolch in seiner Hand, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. „Ich habe Euch Eure Chance gegeben...Sie nicht zu ergreifen war Eure Entscheidung.“ Er warf seinem Kuttenmann die Waffe zu, „Tötet ihn!“
In diesem Moment wurden sämtliche Eingänge der Kirche gleichzeitig aufgerissen. Durch das Hauptportal und die Seiteneingänge strömten Gardisten Seiner Eminenz, angeführt von Rochefort in die Kirche und in dem Seiteneingang, der dem Kruzifix, unter dem sich die Szene abgespielt hatte, am nächsten war, erschienen Aramis und Porthos und zwischen ihnen die Marquise de Rambouillet, ihre älteste Tochter Julie sowie ein Mönch mittleren Alters, der dem Gewand nach zu urteilen, dem Orden der sogenannten „domini canes“ angehörte, bei dem es sich demzufolge also um den Inquisitor handelte, der zusammen mit Famulus die Untersuchung gegen die Marquise leiten sollte. Das Entsetzen auf dem Gesicht des letzteren zeugte davon, dass er den kleinen Disput zwischen dem Klostervorsteher und dem Totgeglaubten mitangehört hatte.
„Ihr hattet recht, Abbé“, sprach er zu Aramis, „Dieser Mann ist tatsächlich der Mörder von Saint-Eustache!“
„...und das Oberhaupt des Lucifer-Paktes.“ setzte dieser hinzu.
Seiner Selbstsicherheit beraubt, aufgrund der vielen Geräusche, die auf ihn eindrangen und die er zuzuordnen versuchte, drehte Famulus sich ein paarmal um die eigene Achse. „Nein!“ krächzte er mit der erstickenden Stimme eines Mannes, der weiß, dass sein Plan durchkreuzt, sein Lebenswerk zerstört und sein Tod nahe ist. Seine Hände ballten sich in einer hilflosen Geste zu Fäusten und mit einem Mal strömten all die Gefühle, die er über Jahre hinweg in seinem Herzen verschlossen hatte, unkontrollierbar wie eine Meute halb verhungerter Wölfe aus seinem Innern und entluden sich in einer Aufwallung von Hass, der sich gegen denjenigen richtete, den er für seine Niederlage verantwortlich machte: den Abbé d’Herblay. Mit einem unmenschlichen Schrei, der die Anwesenden sekundenlang lähmte, riss er d’Artagnan seinen Dolch aus der Hand und schleuderte ihn in die Richtung, aus der er Aramis‘ Stimme vernommen hatte, während ein letzter ohrenbetäubender Donnerschlag den Himmel zerriss. Wie in Zeitlupe sah Aramis die Waffe auf sich zufliegen, die mit kaltblütiger Genauigkeit auf sein Herz gerichtet war. Unfähig sich zu rühren, unfähig zu schreien, nahm er aus den Augenwinkeln Porthos und Julie wahr, die entsetzt die Augen aufrissen. Doch auf halben Weg stieß das Mordwerkzeug auf ein Hindernis: D’Artagnan war in die Schussbahn des Dolches gerannt, um den tödlichen Stoß abzuwehren. Mit einem Stöhnen brach er zusammen, als der Dolch seine Schulter durchbohrte.
Gleichzeitig schrien seine drei Freunde auf und rannten auf ihn zu. Athos, der ihm am nächsten stand, fing d’Artagnan auf, als er fiel. Inzwischen überwältigte Rochefort den Verursacher der gesamten Aufregung von hinten.
„D’Artagnan! D‘Artagnan, könnt Ihr sprechen?“
Es kostete den Musketier seine ganze Kraft die Augen zu öffnen und den Mund zu einem etwas missglückten Lächeln zu verziehen.
„Dieser Fall...“ stammelte er, „hat mir schon... ein paar geprellte Rippen .... tausend blaue Flecken... au... und eine Beule eingebracht. Da fällt ein Arm in der Schlinge doch kaum noch auf!“
Porthos konnte sich ein Grinsen unter Tränen nicht verkneifen und Athos seufzte erleichtert auf, als er d’Artagnan sprechen hörte. Aramis jedoch stand totenbleich vor dem Verwundeten und starrte ihn nur aus großen Augen an. D’Artagnan erwiderte den Blick, so gut er es vermochte, und hob dem Abbé seinen gesunden Arm entgegen.
„würdet Ihr... vielleicht jetzt meine Hand ergreifen, Aramis? Ich fürchte nämlich, dass ich... alleine nicht hoch komme!“
Statt die dargebotene Hand zu nehmen, ließ sich Aramis auf die Knie nieder und umarmte den Freund stumm. Doch sein Schweigen sagte mehr, als es leere Phrasen wie „Ihr habt mir das Leben gerettet“ oder „Vergebt mir, mein Freund!“ in dieser Situation vermocht hätten. Mit einem erleichterten Seufzer schloss d’Artagnan die Augen. Endlich konnte er es seinem Körper erlauben ohnmächtig zu werden.