Die Liebeshändel des Abbé d'Herblay von Dogtanianette
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 5 BewertungenKapitel Im Glockenturm
Der Abbé d'Herblay stand hoch oben im Glockenturm der Kirche von Noisy, die sich majestätisch am Rande des kleinen, quadratischen Marktplatzes erhob.
Er trug bereits seine großen, goldenen Flügel, die mit Hilfe eines soliden Ledergurtes an seinem Körper befestigt worden waren. Gesicht und Hände waren gleichfalls in dem selben Goldton geschminkt. Über seinen schwarzen Locken schwebte gar zierlich ein Hauch von Heiligenschein.
Dem sonst doch so unerschrockenen Abbé war es recht elend zu Mute und er fühlte zu seinem großen Ärger, wie seine Beine versagten. Das hübsche Gesicht des Priesters hatte den Ton von Alabaster angenommen und er biss sich krampfhaft auf die Unterlippe, um sie am Zittern zu hindern. Niemand sollte seine Angst sehen! Das ließ sein Stolz nicht zu. Er musste sich ermannen.
Entschlossen schleppte sich Aramis darum mit weichen Knien und zusammengebissenen Zähnen zum Fenster, beugte sich ein Stück hinaus und sah nach unten. Doch sogleich erfasste ihn Schwindel und er zog sich rasch wieder ins Innere des Turmes zurück. Er lehnte sich erschöpft gegen die Mauer und schloss für einen Moment die Augen. "Ist alles in Ordnung, Herr?" fragte einer der zwei jungen Burschen, die ihn im Auftrag der Brüder vom Turm herunterlassen sollten. "Natürlich!" führ der Abbé ihn ärgerlich an und öffnete schleunigst wieder die Augen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. "Ich sammelte lediglich meine Kräfte für diese wichtige Aufgabe und sprach ein kleines Gebet. Ist alles bereit?" "Ja, es sollte nun halten, Herr Abbé" erwiderte der rothaarige junge Mann mit einem breiten Grinsen. "Na großartig!" blaffte Aramis und verzog das Gesicht. "Nun denn, schreiten wir zur Tat!"
Wieder trat der Abbé beherzt zum Fenster. Er durfte vor diesem grünen Jungen jetzt keine Schwäche mehr zeigen. Erneut sah er hinab, vermied es aber sorgsam, sich noch einmal so weit wie eben hinauszulehnen. Tief, tief unter sich gewahrte er den Marktplatz von Noisy le Sec, der schwarz vor Menschen war. Klein wie Ameisen kamen sie ihm vor. Sie umstanden dicht gedrängt die große Tribüne der Jesuiten, die neben dem Marktbrunnen aufgebaut worden war und einen prächtigen Anblick bot.
Ein am Querriegel des Turmfensterkreuzes befestigtes Seil war stetig abwärts führend über den Marktplatz gespannt worden. Das andere Ende hatte man sorgfältig an einem Gerüst am Ende der großen Theaterbühne angebunden, welches jedoch durch einen schwarzen Vorhang fast vollständig verborgen blieb. Die Menge sah gebannt auf den Prediger, eine winzige, fleischfarbene Puppe in einer schwarzen Soutane. Plötzlich hob der Mann beide Arme zum Himmel und eine Trommel ertönte. Auf einmal erstarb jedes Geräusch auf dem Platz. Aramis drehte sich zu den beiden wartenden Burschen um. Jetzt musste alles schnell gehen. In Kürze würden sie unten das Zeichen geben! Auf Aramis' Anweisung hin, setzte einer der jungen Männer nun eine Rolle auf das Seil, die an der Unterseite eine Art Haken aufwies. Diesen befestigte er sogleich an Aramis' Flügeln, an denen zu diesem Zwecke auf der Rückseite ein kleiner Ring angebracht worden war. An dieser Konstruktion wurde nun eine Leine angebracht, die der Rothaarige gleich in der Hand behielt. Sein Gehilfe nahm das Seil ebenfalls zwischen seine kräftigen Fäuste.
Der Abbé kletterte nun auf das Fenstersims und ließ sich durch das Gitter aus dem Fenster gleiten, wobei er sich krampfhaft am Stabwerk festklammerte. Als er endlich,beide Beine über dem Abgrund baumelnd, auf der Sohlbank saß, schloss er schaudernd die Augen. Ihm war übel. Aramis drehte sich nun noch einmal zu seinen Helfern um und sprach:" Es ist soweit. Seht zu, dass ihr mich langsam hinunterlasst. Ich soll schweben und nicht wie ein Stein zur Erde fallen!"
"Seid unbesorgt, Herr Abbé, Ihr werdet mit uns zufrieden sein." kam es selbstsicher zurück. "Das hoffe ich!" murmelte Aramis sauertöpfisch vor sich hin. Er sah die beiden noch einmal scharf aus schwarzen Augen an: "Und ihr habt das schon einmal gemacht,ja?" "Oh gewiss, gnädiger Herr" erwiderte der Rothaarige eifrig. "Erst letztes Jahr hatten wir die Ehre, dem Herrn Abbé Cartier behilflich zu sein!" Aramis nickte errötend. Er erinnerte sich nun an den kugelrunden Abbé, den man- da sich kein Freiwilliger gefunden hatte- für diesen Zweck extra aus einem anderen Kloster geholt hatte. Der bedauernswerte Bruder hatte sich dort eine Konkubine im Stall gehalten und Begierde war eben keine Zierde. "Nun denn"sprach Aramis mit seltsam belegter Stimme und räusperte sich verlegen."Zieht an und wehe euch wenn ihr loslasst! In diesem Moment stieg eine Signalrakete zum Himmel auf. Nun gab es kein Zurück mehr! Nachdem sich der Priester noch einmal davon überzeugt hatte, dass die jungen Leute das Seil straff angezogen hatten, spannte er alle Muskeln an, so als gelte es, ein Duell zu bestreiten. Dann rutschte Aramis mit einem tiefen Seufzer über die nach unten geneigte Außenfensterbank nach vorne. In diesem Augenblick glaubte er zu sterben! Als er dann so völlig losgelöst zwischen Himmel und Erde an der hin- und herschwingenden Leine baumelte, verging ihm für eine Weile Hören und Sehen. Doch als das Pendeln sich gelegt hatte und er sich zu seiner großen Verwunderung noch am Leben befand, öffnete er vorsichtig wieder die Augen. Unter ihm gähnte der Abgrund. Die Höhe war geradezu niederschmetternd. Doch zum Glück währte dieser Zustand nicht allzu lange und er verlor nach und nach immer mehr an Höhe. Schon schien die Welt dort unten nicht mehr ganz so klein zu sein. Immer näher kam der Marktplatz und die Dinge nahmen nach und nach immer klarere Konturen an. Nach einer Weile erkannte Aramis bereits Details. Schließlich konnte er sogar einzelne Gesichter ausmachen. die Menge starrte ihm entgegen und Schrecken spiegelte sich auf vielen Mienen. Irgendwie erfüllte ihn das mit Befriedigung! Ein Mann stach besonders aus der Menge hervor, da er die anderen um mehr als einen Kopf überragte. Plötzlich blinzelte Aramis überracht. Er kniff die Augen zusammen um besser sehen zu können. Dieser Mann hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinem alten Freund Porthos! Doch das konnte ja nicht sein. Was sollte Porthos hier zu suchen haben? Der saß doch in seinem Schloss Pierrefonds und wurde allmählich immer beleibter über seinen Schmäusen. Und dennoch sah der Mann ganz genau wie Porthos aus. Er blickte ebenfalls sehr erstaunt zu ihm hoch und schien ihn gleichfalls zu erkennen. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf. Es gab nun für Aramis keinen Zweifel mehr-es war Porthos. Plötzlich zuckte es verdächtig um die Mundwinkel des Riesen. Aramis war sich bewusst, dass er in den Augen seines Freundes einen höchst lächerlichen Anblick bieten musste. 'Das wird mir ja ewig nachhängen!' dachte er gerade, als seine Aufmerksamkeit plötzlich von Porthos abgelenkt und von etwas Anderem, höchst Unerfreulichem, in Anspruch genommen wurde. Das Seil, an dem er hing, hatte auf einmal bedenklich zu schwanken begonnen. Der Abbé sah nach oben, wollte schreien, doch vor Entsetzen versagte ihm die Stimme. Im selben Moment fiel er auch schon in die Tiefe und die Erde raste auf ihn zu. Die Höhe war ja immer noch beachtlich. Hart schlug Aramis neben der Tribüne auf. Als er so auf der Erde lag und ihm allmählich die Sinne schwanden, dachte er absurderweise noch, dass ein gefallender Engel nun wirklich kein gutes Aushängeschild für den Orden sei. Wie zum Hohn hörte er noch ein ohrenbetäubendes Brausen, als das Feuerwerk gezündet wurde. Menschen schrien in Panik durcheinander. Dann umfing in tiefe Dunkelheit und es wurde still.
Als Aramis wieder zu sich kam, lag er im feuchten Gras. Alles tat ihm weh. Jeder Atemzug, jede Bewegung! Als er langsam die Augen öffnete, erblickte er direkt über sich de Worminger. Entsetzt wollte er aufspringen aber rasende Kopfschmerzen ließen ihn sofort wieder zurücksinken. Er konnte sich kaum rühren. Was war nur geschehen? "Bewegt Euch nicht!" flüssterte De Worminger heiser. "Ihr könnt froh sein, dass ihr noch lebt. Wir sahen uns genötigt, Euch wegen der aufgeregten Menge rasch vom Ort Eures Missvergnügens zu entfernen. Hier seid Ihr in Sicherheit." Aramis versuchte wieder, sich aufzurichten, doch eine erneute Schmerzenswelle überrollte ihn. Zudem kniete Worminger unmittelbar über ihm und drückte seinen Körper nach unten. "Ich werde Euch den Gürtel lockern, dann werdet Ihr Euch besser fühlen" raunte er ihm zu. Aramis verzog angewidert das Gesicht, was ebenfalls weh tat. Er sah Worminger scharf an:"Und wie werdet Ihr Euch dann fühlen?" Er hatte erst jetzt bemerkt, dass seine Flügel entfernt worden waren und sein Hemd halb offen stand. "Nehmt Eure dreckigen Pfoten von mir!" schrie Aramis aufgebracht und versuchte verzweifelt, sich aus dieser unerfreulichen Lage zu befreien. Doch seine Verletzungen machten ihn in diesem Augenblick einigermaßen wehrlos. Er war dem anderen ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb! Panik stieg in ihm hoch. "Ihr wolltet mich umbringen! Habt Ihr den Verstand verloren?" rief Aramis in höchster Aufregung. Worminger brachte sein Gesicht ganz nahe an das von Aramis und ließ eine Hand auf dessen entblößte Brust herunterwandern. "Mit Eurem Unfall habe ich nichts zu tun mein Lieber. Ich würde ihn aber als glücklichen Zufall für mich verbuchen!" "Ihr lügt. Ihr habt das Seil manipuliert oder diese Burschen bestochen. Gesteht es nur!" schrie der Abbé auf seiner Meinung beharrend. De Worminger lachte rau auf. "Warum sollte ich unser kleines Abkommen so abrupt beenden? Es gefällt mir gerade viel zu gut Euch springen zu sehen, wenn ich pfeife! Ich beiße nicht die Hand, die mich füttert, d'Herblay...." "Aber wer hat dann" fiel Aramis wieder ein, wurde jedoch von Worminger unwirsch unterbrochen. "Ich weiß es nicht! Zerbrecht Euch datüber nicht Euren hübschen Kopf, ihr braucht ihn noch. Später wird sich ein Arzt Eure Blessuren ansehen. Viel später....." Aramis begann um Hilfe zu rufen. Es war das Einzige, was er noch tun konnte, obwohl es entwürdigend war. "Es wird Euch niemand hören" versetzte Worminger. "Es sind nur meine Leute in der Nähe, also spart Euch das. Und jetzt...."
Der Schlag kam schnell und unerwartet. Worminger gab ein ächzendes Geräusch von sich und riss die Augen auf. Dann sank er in sich zusammen und fiel mit seinem ganzen Gewicht auf Aramis. Angewidert drehte dieser den Kopf zur Seite. Doch schon erschien ein neues-ihm höchst vertrautes- Gesicht in seinem Blickfeld. Nie war es ihm so schön erschienen, wie in diesem Augenblick!
Porthos zog Worminger von seinem Freund herunter. "Es scheint, als sei ich gerade im richtigen Moment gekommen" sagte er und kniete sich neben seinem Freund ins Gras."Euch schickt der Himmel, Freund Porthos!", krächzte Aramis mit vor Erleichterung überkippender Stimme. "Welches Glück Euch zu sehen!"
Porthos zwinkerte ihm aufmunternd zu. "Ich habe gesehen, wie die beiden Padres Euch weggetragen haben. Durch die völlig verrückt spielende Menge konnte ich ja leider nicht gleich bis zu euch vordringen. Ich bin euch dann gefolgt. Es kam mir seltsam vor, dass sie den Weg zum Park einschlugen, statt Euch in ein Haus zu bringen. Am Schlossparktor stellten sich mir auf einmal zwei seltsame Gestalten in den Weg. Ich musste sie erst auf meine Art davon überzeugen, mich durchzulassen! Durch dieses kleine Intermezzo habe ich dann kurz eure Spur verloren, aber dann hörte ich Euch rufen und hier bin ich. Sagt, könnt Ihr Euch bewegen?" "Bewegen Porthos?" rief Aramis freudlos aus. "Ich kann kaum zwinkern!" "Nun, dann werde ich Euch tragen. Ihr müsst sofort zu einem Arzt." Porthos hob Aramis mühelos vom Boden auf und sie entfernten sich langsam von diesem unerfreulichen Ort. Worminger ließen sie auf Aramis Bitten hin einfach auf dem Rasen liegen. "Der wacht schon wieder auf" meinte Porthos gelassen. "Ich habe nicht sehr fest zugeschlagen,schließlich ist er ein Mann der Kirche, auch wenn er sich nicht so benimmt".
Sie näherten sich den ersten Häusern. "Sagt, Freund" hub Porthos nach einer Weile wieder zu sprechen an "was wollte denn der Padre genau von euch? Wollte er euch -ähem- die letzte Ölung erteilen?"
Aramis, der seinen Kopf erschöpft an die Schulter seines großen Freundes gelehnt hatte, musste trotz seiner Schmerzen lachen. "Ich glaube, dass Ihr den tieferen Grund seines Handelns gar nicht wissen wollt!"
Porthos trug seinen alten Freund bis zum Gasthof "Zum halben Hähnchen". "Macht Euch keine Gedanken mein Freund. Wir werden Euch schon wieder hinkriegen. Wir sorgen jetzt erstmal für Euch".
"Ihr sprecht von Euch in der dritten Person wie seine Majestät der König es zu tun pflegt, Porthos?" fragte Aramis verwirrt. "Oh, mir scheint, Ihr seid sehr stolz geworden. Nun, das wird wohl an Eurer neuen Würde als Schlossbesitzer liegen,wie?" "Mein lieber Aramis" entgegnete Porthos und zog die Augenbrauen hoch "wenn ich von wir rede, dann meine ich damit auch wir, nämlich Athos und mich!" "Athos ist hier?" rief Aramis überrascht. "Aber wie kann das sein?" "Nun, er erwartet mich oben im Gasthof. Und er wird entzückt sein, wenn ich Euch gleich mitbringe! Wir wollten Euch eigentlich erst morgen aufsuchen. "Aber was treibt euch beide denn nach Noisy?" fragte Aramis verwundert. "Nun, Ihr seid der Grund. Wir wollten Euch besuchen. Euer letzter Brief klang doch recht traurig. Und da Ihr sonst nicht zu Sentimentalitäten neigt, beschlossen wir, nach Euch zu sehen!"
Aramis kam das alles wie ein Traum vor. Schon bald würde er aufwachen, und sich wieder in seiner Klosterzelle befinden. Doch bis es soweit war, wollte er die Zeit mit seinen alten Feunden erst noch von Herzen genießen!