„Ein Wolf im Palais Cardinal?“ von Armand-Jean-du-Plessis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 24 BewertungenKapitel Ein neuer Morgen
Das war keine gute Idee gewesen. Rochefort blickte besorgt in die dichter werdenden Nebelschleier des Lac de Constance. Instinktiv rückte er sein verstärktes schwarzes Lederwams mit den zahlreichen Metallnieten zurecht. In dieses Wams waren die wichtigen Papiere sorgsam eingenäht worden. Anweisungen von Kardinal Richelieu, sowie Unterstützungszusicherungen mit dem Siegel des Königs. Sie waren für Konrad Widerholt bestimmt, den Kommandanten der Festung Hohentwiel. Es war wichtig, dass Widerholt bei der Stange gehalten wurde. Natürlich bei der französischen Flagge, denn die Festung kontrollierte fast ganz Oberschwaben. Und die Raubzüge von Konrad Widerholt erstreckten sich über ganz Südwestdeutschland und er war auf Entführung und Lösegelderpressung spezialisiert. Ein moderner Raubritter, dachte der Graf von Rochefort bei sich, und dabei soll er ein glühender Anhänger des protestantischen Christentums sein. Nun, wie auch immer – er war ein erklärter Feind der Habsburger und hielt diese ganz schön auf Trab. Darum war eine offizielle Zusicherung, dass Frankreich ihn unterstützte, auch so wichtig. Aber dieses schwankende Boot zu nehmen, um den Bodensee zu überqueren, wie die Einheimischen die riesige Wasserfläche nannten, war vielleicht doch nicht der ideale Plan gewesen. Bis vor wenigen Augenblicken hatte der Comte de Rochefort noch den Anblick genossen. Die spiegelglatte Oberfläche des Sees in der Morgendämmerung, die leichten Nebelschwaden, die über das Wasser zogen – es war wie ein Bild aus einer anderen Welt gewesen, einer friedvollen, fast feengleichen Welt. Das hatte sich schlagartig geändert, als ein Schiff aus dem Nebel aufgetaucht war. Die Flagge machte es deutlich, es gehörte zur kaiserlichen Flottille unter dem Kommando von Oberst Christoph Karl Waldburg-Wolfegg. Verdammt, was tat dieses Schiff um diese Uhrzeit mitten auf dem Lac de Constance?
Noch jemand fühlte sich gar nicht wohl auf dieser schwankenden Nussschale, die man Fischerboot nannte. Luna, die Halbwölfin, zitterte am ganzen Körper. Oh, wie sie schwankenden Untergrund hasste. Kein sicherer Boden um abzuspringen und es wird einem sogar etwas schwindlig. Der Schwarze Wolf musste verrückt geworden sein sich in ein solches Ding zu begeben. Luna hatte sich mit aller Kraft gesträubt um ihm klar zu machen, welcher Irrsinn das sei. Sie hatte sogar seine Autorität ganz kurz in Frage gestellt und ihn angeknurrt und geschnappt. Natürlich nur in die Luft um ihren Protest zu zeigen. Dann hatte man versucht sie mit Futter in dieses schwankende Ungetüm zu bringen. Lächerlich, so dumm war sie doch nicht. Das war fast eine Beleidigung. Außerdem war dies hier ein ausgezeichnetes Jagdgebiet – hier gab es mehr Beute als einen Fleischknochen. Sie war doch zudem eine ausgezeichnete Schwimmerin, wenn schon über das große Wasser, dann doch bitte aus eigener Kraft, das war doch viel sicherer und besser. Doch schließlich hatte man ihr diese Riemen angelegt, die eigentlich für das lustige Schlittenziehspiel gedacht waren, und sie einfach zu dritt in dieses Boot gehoben. Dass zwei der Männer wohl noch wochenlang ihre Bisswunden versorgen mussten, war nur ein kleiner Trost, weil jetzt saß sie in diesem verflixten Ding. Natürlich hatte sie nur die beiden Helfer angegriffen und nicht den Rudelführer. Diese beiden Unverschämten würden nie wieder versuchen, eine Luna gegen ihren Willen anzuheben. Das hatte sie ganz deutlich an ihren schreckgeweiteten Augen gesehen, aber auch dies war nur eine kleine Genugtuung. Jetzt ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Das hasste Luna ebenfalls, einzelne Schüsse waren ja noch in Ordnung, selbst wenn sie die nicht mochte. Sie hatte ja empfindliche Ohren und hörte alles viel deutlicher als diese Zweibeiner. Aber dieses Geräusch tat wirklich weh. Und das Boot begann noch viel stärker zu schwanken. Langsam wurde es wirklich unheimlich, dabei hatte eine stattliche Halbwölfin doch sonst nie so etwas wie Angst...
Der Kapitän des kaiserlichen Schiffes muss wahnsinnig sein, dachte Rochefort bei sich, als er sich krampfhaft an der schmalen Reling des Fischerbootes versuchte festzuhalten. Warum lässt er eine Kanone abfeuern. Er hätte es noch verstanden, wenn sie aufgebracht worden wären, oder man ihnen signalisiert hätte, das kleine Segel zu streichen. Aber ohne Warnung mit Kanonen auf ein Fischerboot zu schießen? Wusste man, dass er mit wichtigen Papieren unterwegs war? Suchte man einen Spion oder Verräter? Aber selbst das war kein hinreichender Grund um zu feuern. Und Warnschuss war das auch keiner gewesen. Die Kugel war nur knapp am Boot vorbeigegangen und hatte dieses fast zum Kentern gebracht. Da ertönte ein weiterer Knall und diesmal wurde das Fischerboot getroffen. Hinten beim Ruder splitterte Holz, der Fischer, den Rochefort angeheuert hatte, war wohl sofort tot, als er von der Wucht der Kanonenkugel von Bord gerissen wurde. Innerhalb weniger Sekunden war alles mit Wasser vollgelaufen, dann stellte sich das Boot auf, das Gewicht des kleinen Mastes genügte das Kentern einzuleiten und es versank wie ein Stein.
Zuerst überkam die Halbwölfin Panik, noch so ein Knall und die Welt wurde plötzlich schräg. Doch dann war da überall Wasser. Damit konnte sie umgehen. Mal ein wenig wegpaddeln von diesem unnützen Ding. Sie hatte es ja gewusst. Warum hatte man nicht auf sie gehört? Das Wasser war auch gar nicht so kalt. Und jetzt erst mal umsehen. Das Boot ging gerade unter, gut so. Das würde nicht mehr schwanken und einen schwindelig machen. So, jetzt noch mit dem Schwarzen Wolf ans Ufer schwimmen, sich abbeuteln. Dann könnte man ja vielleicht doch noch diesen Fleischknochen zerbeißen. Aber wo war der Rudelführer? Es roch nach Blut, aber nein, der Geruch stimmte nicht, das war er nicht. Luna begann zu suchen. Keine Geruchsspur zu finden und dieses weiße Zeugs, das man Nebel nannte, wurde immer dichter. Natürlich waren Menschen keine so guten Schwimmer wie sie, jedoch sich über Wasser halten sollte man sich doch können. Ob der Anführer verletzt war? Tauchen mochte sie nicht so gern und unter Wasser würde sie kaum etwas sehen, denn es war auch über Wasser recht düster. Luna schwamm zurück zu der Stelle, wo das Boot versunken war.
Verdammt, so will ich nicht enden, dachte Rochefort fluchend. Wieder versuchte er seinen linken Arm zu bewegen. Doch der Schmerz war unerträglich. Seinem ledernen Wams verdankte der französische Geheimdienstchef wohl schon mehrmals das Leben. Es war nahezu stichfest und würde vielleicht sogar eine Kugel so stark abfedern, dass sie nicht mehr tödlich wäre. Im Wasser, mit einem vermutlich gebrochenen Arm, aber war es eine fatale Last. Auch die schweren Lederstiefel waren beim Versuch zu schwimmen ein echtes Hindernis. Aber was heißt hier schwimmen. Zuerst müsste er einmal zurück an die Oberfläche, die Luft wurde langsam knapp. Er war nur ein leidlicher Schwimmer, denn er hatte nie viel Gelegenheit gehabt zu üben. Und unter diesen Bedingungen war es fast unmöglich. Es waren an die zwei Kilometer bis zum Ufer – nun, es hätten auch zweihundert sein können – in seinem Zustand würde er das niemals schaffen. Aber der Graf von Rochefort hatte einen unbändigen Lebenswillen oder vielleicht war es auch einfach nur Sturheit. Aufgeben kam nicht in Frage. Dort war es ein wenig heller und da, jetzt war dort ein dunkler Schatten, dann wieder etwas heller. Mit der gesunden rechten Hand und den Füßen begann er ein, zwei Tempi in dieser Richtung zu machen. Sollte er versuchen die Stiefel abzustreifen? Nein, keine Zeit, er musste an die Wasseroberfläche und es war fraglich, ob er die Stiefel im Wasser nur mit den Beinen und einer Hand überhaupt abstreifen konnte.
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„Ziel zerstört, Kapitän“, meldete ein Bootsmann. Ein grimmiges Lächeln umspielte die Lippen des Kapitäns. Er liebte den Donner von Kanonen. Seine Lädine hatte an jeder Seite nur 8 Geschütze und war mit ihren 30 Metern eigentlich ein Lastschiff. Von den Kapitänen auf den Weltmeeren wäre das Kommando über einen Laden, wie der Schiffstyp eigentlich hieß, wohl verächtlich belächelt worden. Aber fast 500 Soldaten konnte man auf seine „Stolz von Lindau“ pferchen. Er würde dem Namen Weiss alle Ehre machen, wie sein älterer Bruder, der sogar den Titel „Admiral vom Bodensee“ erhalten hatte. Ja, er würde seinen Bruder eines Tages sogar übertreffen. Der Geheimbericht über einen Spion, der den See überqueren wollte, war ihm da gerade recht gekommen. Und es hatte sich ausgezahlt die Mannschaft Tag und Nacht trainieren zu lassen. Mit nur zwei Schüssen war der Feind versenkt worden. Sonst hätte ihn der Nebel vielleicht gerettet. Zufrieden blickte er durch sein Fernrohr. Leider konnte man kaum mehr etwas erkennen. Aber das Boot war schnell gesunken, daran bestand kein Zweifel. Und es war ein direkter Treffer gewesen. Vielleicht hatte man dadurch die Schweden aufgeschreckt, aber das war egal. Er fieberte geradezu einer Schlacht mit der „Drottning Kristina“ entgegen. Eine Revanche für die von diesem neuen schwedischen Kriegsschiff gekaperten kaiserlichen Schiffe war längst überfällig.
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Endlich, da war er ja, Lunas geliebter Rudelführer. Er war anscheinend getaucht. Sofort paddelte sie aufgeregt zu ihm hin. Freudig umkreiste sie Rochefort, doch dann stutzte sie kurz. Irgendetwas stimmte nicht. Seine Bewegungen waren seltsam. Er spuckte Wasser und wäre fast wieder untergegangen. Sein linker Vorderlauf bewegte sich ja gar nicht. Oh nein, er schien ernsthaft verletzt zu sein! Und er roch seltsam. Natürlich konnte Luna Gefühle riechen. Da waren Ärger und Wut, das war verständlich. Er war ja aus diesem dummen Boot gefallen und es war eine Art Angriff gewesen. Da war aber auch Angst, ja fast Panik, in seinem Geruch. Das hatte die Halbwölfin so gut wie noch nie beim Schwarzen Wolf gerochen. Sofort wurde auch sie unruhig. Und er konnte sich kaum über Wasser halten, vielleicht hatte er Angst vor dem Ertrinken. Menschenwölfe waren ja schlechte Schwimmer und wenn er nur drei Läufe einsetzen konnte, war er wahrscheinlich wirklich in Gefahr. Luna schwamm ganz nahe an ihn heran. Am liebsten hätte sie sein Gesicht jetzt abgeleckt, aber im Wasser ging das schlecht, sie musste ja ständig in Bewegung bleiben. Da ergriff der Graf von Rochefort mit seiner gesunden Hand das Ledergeschirr von Luna. „Los, Luna, los“, hörte sie. Ah, das war das Schlittenkommando. Die Stimme war heiser und es war ein Zittern darin gewesen, aber zweifelsfrei ein Kommando. Normalerweise mochte es Luna gar nicht beim Schwimmen angefasst zu werden. Da konnte man leicht unter Wasser gedrückt werden. Aber diesmal war das etwas anderes. Das war auch kein Ziehspiel, das war klar. Der Anführer brauchte Hilfe. Da gab es kein Zögern oder den Versuch zu protestieren.
Könnten sie das schaffen? Luna war inzwischen voll ausgewachsen und wog um die fünfunddreißig Kilogramm. Da war kein Gramm unnötiges Fett, ihre Muskelkraft war enorm. Aber konnte sie ihn zwei Kilometer über den Bodensee ziehen? Verdammt, sie waren absichtlich weit weg vom Ufer gesegelt. Dann war da noch dieser Nebel. Einerseits schützte er sie vor dem feindlichen Schiff, so dicht wie er jetzt geworden war. Andererseits sah man kein Ufer. Wenn Luna eine falsche Richtung einschlug, oder gar im Kreis schwamm – konnte man im Kreis schwimmen, wie man immer bei verirrten Wanderern im Nebel an Land behauptete, dass sie im Kreis gingen? Solche Gedanken brachten nichts. Er musste es Luna leichter machen. Versuchen mit den Beinen mit zu schwimmen, dann wieder flach und ruhig am Wasser liegen, wieder mitschwimmen. Luna begann nach einer Weile zu keuchen. Oh mein Gott, wie lange waren zwei lächerliche Kilometer! Vielleicht sollte er loslassen. Alleine würde es Luna sicher schaffen. Ob er ein Stück alleine schwimmen könnte? Der linke Arm schmerzte höllisch, aber das war nicht das Hauptproblem. Die Erschöpfung, die nasse Kleidung und ja, auch die Verletzung, er würde nicht weit kommen. Er hatte es ja fast nicht geschafft die zwei, drei Meter an die Oberfläche zu kommen, als er untergegangen war. Vielleicht konnte er sich treiben lassen. Sein Vater hatte ihm als Kind den Trick gezeigt wie man am Rücken liegend ruhig eine Zeitlang im Wasser treiben konnte. Jedoch mit der Kleidung und dem kaputten Arm? Rochefort verwarf den Gedanken wieder. Luna würde auch nicht wegschwimmen, wenn er loslassen würde. Sie war treu bis in den Tod. Wenn Menschen doch auch nur annähernd so loyal wären! Seine Gedanken begannen abzuschweifen. Er dachte an den Kardinal. Ja, diesem Mann war er treu und ergeben bis in den Tod. Der Gedanke gab ihm neue Kraft. Er würde nicht aufgeben. Richelieu gab auch niemals auf. Lunas Tempo war kaum langsamer geworden, auch wenn sie etwas keuchte. Ja, sie konnten beide noch etwas durchhalten.
Man konnte das Land bereits deutlich riechen. Saftiges Gras, Weiden und Pappeln am Ufer, Haubentaucher und Blässhühner…hmm, nein, jetzt war keine Zeit für die Jagd auf Wasservögel. Und das war eine Beute, die man fast nie erwischte. Der Nebel lichtet sich auch etwas. Es war viel, viel schwerer gewesen den Schwarzen Wolf zu ziehen als sich Luna das vorgestellt hatte. Das Wasser hatte regelrecht Wiederstand geleistet. Ihre Läufe hatten angefangen schwer zu werden und ein Art Brennen war zu spüren gewesen. Aber dort war das Ufer. Diese kurze Strecke würde sie auch noch schaffen. Einfach immer geradeaus und nicht nachlassen. Eine Luna würde das schaffen, ja, sie würde das schaffen, sie musste es einfach.
Die rettende Uferböschung, er hatte sie erreicht. Mit letzter Kraft zog sich Rochefort ins feuchte Gras, fast hätten seine Beine nachgegeben, selbst beim Kriechen. Mühsam rollte er sich auf den Rücken. Die Sonne ging gerade hinter den Bäumen auf. Die Nebelschwaden begannen sich langsam zu verflüchtigen. Ein neuer Morgen war angebrochen und er würde ihn erleben. Erleichterung und Dankbarkeit überwältigen den Comte de Rochefort. Tränen schossen dem Mann ins Gesicht, den man die wandelnde Klinge des Kardinals nannte und der in ganz Europa gefürchtet war. Hier lag er nun, verletzt und schutzlos, völlig erschöpft und allein. Schutzlos und allein? Welch ein Unsinn! Hier war sie – Luna, die Halbwölfin, und leckte ihm liebevoll die salzigen Tränen von den Wangen…