Je suis une femme von Engel aus Kristall
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 38 BewertungenKapitel Kapitel 10
Kapitel 10
Am Samstag fuhr ich wie gewöhnlich zum Wochenmarkt, um Mélisses Ware dort anzubieten. Es war ein sehr sonniger Herbsttag, ich hoffte, dass das Wetter vorhalten würde. Obwohl es noch recht warm war, kündigte sich der Winter langsam an. Die Blätter hatten sich bereits bunt verfärbt, eins nach dem anderen riss der Wind von den Bäumen. Es wurde sehr früh dunkel, in der Dämmerung machte ich mich auf den Heimweg, in der Tasche die Einnahmen, mit denen die alte Schneiderin durchaus zufrieden sein konnte.
In Gedanken weilte ich schon bei dem Ausflug mit dem jungen Grafen, auf den ich mich die ganze Woche gefreut hatte. Von meiner Umgebung bekam deshalb ich nicht mehr viel mit, und bemerkte erst als Fleurette die Ohren zurück legte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Die Stute wieherte plötzlich schrill. Im selben Moment brachen drei Reiter aus dem Gebüsch, umkreisten meinen Wagen. Erschrocken erkannte ich, dass sie sich bis zur Unkenntlichkeit vermummt hatten.
„Was wollt Ihr? Lasst mich zufrieden.“ Ängstlich blickte in von einem zum anderen. Eine dumme Frage, natürlich waren sie auf das Geld aus, sie mussten wissen, dass ich ein lohnendes Geschäft bot.
Einer der Reiter versuchte plötzlich nach Fleurettes Zügeln zu greifen, doch die Stute stürmte davon, als sie die Bewegung neben sich bemerkte. So schnell hätte ich niemals zu reagieren vermocht. Zitternd hielt mich auf dem heftig schaukelnden Wagen fest. Die Männer jagten hinterher.
„Lauf, Fleurette, lauf!“ trieb ich die Stute an. Sie kannte den Heimweg, ich verließ mich auf sie. Aber die Räuber hatten gefährlich aufgeholt, auf der Straße gab es kein Entrinnen. Ich ließ das Pferd jäh nach links wenden, das konnten die Männer nicht voraus sehen. Ehe sie begriffen was ich vor hatte, holperte der Wagen bereits die Böschung am Wegrand hinunter. Das weiche Gras schluckte jedes Geräusch, aber es bremste auch die Fahrt.
„Sucht das närrische Ding!“ hörte ich einen der Banditen rufen. Ich hatte erwartet, dass sie nicht so bald aufgaben. So schnell ich konnte, band ich die Stute los, um sie laufen zu lassen. Fleurette wusste auf sich selbst aufzupassen. Sie galoppierte Richtung des Flusses davon. Die vermummten Männer fielen prompt darauf herein.
So kam ich zwei Stunden später, aber heil mit Pferd und Wagen vor Mélisses Haus an. Die alte Frau war schon ganz aufgebracht vor Sorge. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, als ich ihr berichtete, dass ich fast Wegelagerern zum Opfer gefallen wäre.
„Gott sei Dank, bist du ihnen entkommen!“ Erleichtert drückte sie mich an sich. „Das waren bestimmt die Vasseur-Brüder, mit denen ist nicht zu spaßen! Der Graf hat eine hohe Belohnung auf ihre Köpfe ausgesetzt.“
Lächelnd reichte ich meiner Gönnerin den Geldbeutel. Nachdem Fleurette versorg war, tranken wir beide in der Küche noch eine Tasse Tee, um die Nerven zu beruhigen. Es war fast elf, als ich schließlich todmüde ins Bett fiel.
Am nächsten Morgen bemerkte ich, dass die zottige Stute das Abenteuer nicht ganz so gut überstanden hatte. Ihr rechter Vorderlauf war ganz heiß und geschwollen. Während ich das Bein versorgte, kam Mélisse in den Stall, um zu sehen, wo ich blieb.
„Aber Anne, solltest du dich nicht langsam zurecht machen? Oder willst du so zu deiner Verabredung mit dem jungen Grafen gehen?“ fragte sie mich belustigt. „Ohne Frühstück verlässt du mir jedenfalls nicht das Haus.“
Ich drehte mich um, als sie mich ansprach. „Nein, Madame, natürlich nicht. Fleurette lahmt, sie wird in der Dunkelheit gestern Nacht gestolpert sein.“
Die alte Frau trat neben mich. „Das ist schlecht. Aber du gehst jetzt trotzdem ins Haus, Essen ist in der Küche. Ich werde mich um die Stute kümmern.“
„Zu Befehl, Madame“, lachte ich. Sie würde ja doch keinen Widerspruch dulden, also tat ich was sie wollte. Hastig schlang ich das Croissant hinunter, das sie mir hingestellt hatte, und zog mich danach um. Mélisse hatte mir als Lohn für meine Arbeit das hübsche Kleid geschenkt, für das ich auf dem Markt in Lille voller Bewunderung gewesen war.
Als ich noch versuchte meine rote Mähne zu bändigen, hörte ich draußen bereits die alte Frau mit Olivier de la Fére sprechen. Ihn warten zu lassen, würde einen denkbar schlechten Eindruck machen, so ließ ich mein Haar wie es war, und eilte hinaus. Dummerweise stolperte ich über die Türschwelle, sodass ich eher hüpfend und fluchend erschien, als würdevoll, wie es sich für eine Dame gehörte.
Der junge Graf lachte amüsiert auf. „Immer mit der Ruhe, wir haben noch den ganzen Tag Zeit.“ Er bot mir die Hand an, um mir in den Einspänner zu helfen, vor dem ein großer Schimmel stand. Ich murmelte verlegen einen Gruß, mein uneleganter Auftritt war mir äußerst unangenehm.
„Wartet noch einen Moment, meine Lieben“, bat Mélisse, als Olivier den Wagen gerade in Bewegung setzen wollte. Sie eilte ins Haus, um kurz darauf mit dem Butterkuchen zurück zu kehren, den sie diesen Morgen gebacken hatte. „Und nun ab mit euch, viel Spaß.“
„Ich empfehle mich, Madame.“ Olivier bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln, und trieb dann den Schimmel in einen gemütlichen Trab. Nach einer Weile, in der ich betreten geschwiegen hatte, schaute er mich neugierig an. „Wollt Ihr heute noch das ein oder andere Wort mit mir wechseln?“
„Entschuldigung, Monsieur, ich… das…“
„Kein Grund so rot zu werden, ich beiße nicht, das schwöre ich. Überhaupt gelte ich als sehr umgänglich.“
Jetzt konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen. Aber ich wusste immer noch nicht, worüber ich mit ihm reden sollte.
„Erzählt mir doch ein wenig über Euch“, fuhr er fort, als ob er meine Gedanken erahnte. „Woher kommt Ihr? Was ist mit Eurer Familie?“
Das waren genau die Fragen, vor denen ich mich gefürchtet hatte. Zögernd erzählte ich ihm das Nötigste. Dass mein Vater mich nicht liebte, mich an einen Mann zu verheiraten gedacht hatte, den ich hasste, und ich vor dieser Ehe geflohen war.
„Ich bewundere Euren Mut“, meinte er nachdenklich, nachdem ich mit meinen Worten am Ende angelangt war. „Dieser Mann, auf den die Wahl Eures Vaters gefallen ist, hätte Euch nicht verdient gehabt…“
Erstaunt sah ich ihn von der Seite her an. „Denkt Ihr?“
Der Graf nickte leicht. „So, wie Ihr ihn beschreibt, wäre er mit einer Dienstmagd, der er befehlen kann, besser beraten gewesen.“
Wenn ich an Raymond zurück dachte, hatte Olivier mit seiner Vermutung recht. Doch das war meine Vergangenheit und bedeutungslos. Bestimmt hatte der junge d’Arlais bereits eine andere Frau gefunden, eine die Erfüllung darin fand, ihm für den Rest ihrer Tage zu dienen.
„Und was ist mit Euch? Jetzt seid Ihr an der Reihe mir etwas zu erzählen.“ Auffordernd musterte ich ihn.
Er zuckte leicht mit den Schultern, ohne die Augen von der Straße abzuwenden. „Mein Werdegang ist nicht besonders interessant. Ich bin zusammen mit einem jüngeren Bruder aufgewachsen, der mir nun meinen Titel ein wenig neidet. Das kann ich Silvain auch gar nicht verübeln, ich wünschte nur wir würden uns etwas besser verstehen.“
Wir setzten das Gespräch an dieser Stelle nicht mehr fort, da Olivier das Pferd durchparierte. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir uns auf einem Hügel befanden, von dem aus man das ganze Dorf überblicken konnte. Man konnte von hier aus auch den Familiensitz der de la Féres sehen, ein prächtiges Gebäude.
Nachdem wir uns an dem Ausblick satt gesehen hatten, ging es weiter. Der junge Graf zeigte mir sogar das Loch in der alten Eiche, das oft dazu verwendet wurde, Nachrichten zu hinterlassen. Meistens von Kindern beim Spielen, aber manchmal auch von jungen Liebespaaren. Das fand ich so romantisch.
Als es schon Nachmittag wurde, suchten wir uns eine schöne Stelle auf einer kleinen Wiese, um dort zu rasten und etwas zu essen. Olivier hatte köstliche Dinge mitgebracht, sogar eine Flasche fruchtigen Cidre. Am besten war jedoch Mélisses Butterkuchen zum Nachtisch.
„Eines habe ich Euch noch zu zeigen“, kündigte der junge Graf an, als wir unseren Weg fortsetzen. Bald kamen wir zum Fluss, wo wir an einer bestimmten Stelle zu Fuß weiter gingen. Die Uferböschung fiel steil ab, einmal verlor ich den Halt, und konnte mich nur vor einem Sturz bewahren, indem ich mich an einem dünnen Baumstamm festklammerte. Vom Weg aus konnte man nicht bis zum Wasser sehen, das hatte mich auch zunächst zögern lassen, doch mittlerweile hatte ich genug Vertrauen zu Olivier gefasst. Er war so ganz anders als alle Männer, denen ich bisher begegnet war. Abgesehen von meinem Freund Michel vielleicht.
Als wir das Ufer erreichten, blieb ich wie angewurzelt stehen. Vor uns bildete der Fluss ein großes Becken, das an den Seiten von Felsen umschlossen wurde, sodass man es erst sehen konnte, wenn man davor stand.
Olivier lächelte. „Habe ich zu viel versprochen? Jetzt ist es natürlich zu kalt, aber im Sommer ist die Stelle herrlich zum Schwimmen. Als Junge war das immer mein Geheimversteck, ich habe viel Zeit hier verbracht.“
„Es ist wunderschön“, sagte ich leise. Mein Zufluchtsort der Kindheit war ein ausgehöhlter Baum in unserem Garten gewesen, zumindest bis ich mit neun oder zehn Jahren nicht mehr hinein gepasst hatte.
Wir blieben noch eine Weile am Ufer sitzen, beobachteten die Fische im Wasser. Einmal verirrte sich auch ein Buchfink in unsere Nähe. Es war herrlich hier draußen, nur mit Olivier. Zu gerne hätte ich den Kopf an seine Schulter gelehnt, doch das traute ich mich nicht.
Am späten Nachmittag brachte er mich schließlich zurück, half mir vor dem Haus vom Wagen. Ich bedauerte es insgeheim, dass der Ausflug schon zu Ende war.
Der junge Graf sah mich an. „Das war ein schöner Tag. Sollten wir wiederholen, finde ich. Das heißt, wenn Ihr mich noch zu sehen wünscht.“
„Aber Monsieur...“ Ich wusste gar nicht was ich sagen sollte, seine Frage erschien mir reichlich seltsam. „Natürlich möchte ich Euch wieder sehen, sehr gerne sogar...“
Er lächelte breit. „Das freut mich zu hören. Nun muss ich mich langsam auf den Weg machen. Mein Vater gibt heute Abend ein kleines Bankett, und ich habe Anwesenheitspflicht.“
Sein Augenrollen verriet, dass er sich lieber in einem Schweinestall aufhalten würde, als zu diesem Essen zu erscheinen. Zum Abschied küsste er meine Hand. Solche Gesten hatte ich noch nie besonders gemocht, doch die hauchfeine Berührung seiner Lippen versetzte mir einen nicht unangenehmen Schauer.