Je suis une femme von Engel aus Kristall

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Kapitel Kapitel 11

Kapitel 11


Der Winter näherte sich mit großen Schritten, es wurde sehr kalt, doch ließ der erste Schnee, dem ich schon ungeduldig entgegen sah, noch auf sich warten. Ein paar letzte sonnige Tage verbrachten Olivier und ich mit dem Durchstreifen der Landschaft, auch abgelegene Winkel ließen wir nicht aus, die schwierigsten Wege verlockten uns. Einmal schafften wir es sogar uns in den Wäldern zu verlaufen.
„Wo war nun der Weg, Monsieur Ich-kenne-die-Grafschaft-wie-meine-Westentasche?“ feixte ich, als sich die Müdigkeit vom langen Wandern bemerkbar zu machen begann.
Olivier kratzte sich etwas verlegen am Kopf. „Wir sind ganz dicht dran, hinter den Bäumen da vorne müsste er sein.“
Ich rollte mit den Augen. „Das hast du die letzten drei Mal auch schon gesagt.“ Nie würde er zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wo sie sich befanden. Männer!
„Jetzt bin ich aber ganz sicher! Hörst du das Wasserrauschen nicht? Wir müssen nur noch dem Fluss folgen.“ Er grinste triumphierend.
Am Ende blieb mir nichts übrig, als zuzugeben, dass er recht gehabt hatte. Meine Beine waren rot von den Brennnesseln und den scharfen Zweigen, aber das machte mir nichts aus, später würde ich darüber lachen.

Als die Tage schon wieder länger wurden, erkrankte Mélisse an Fieber. Ich pflegte sie so gut ich es vermochte. Die Kräutertees und Wadenwickel zeigten schließlich auch Erfolg, es ging ihr nach ein paar Wochen wieder besser. Doch mit großer Sorge sah ich, dass sie einfach nicht ganz gesund wurde. Sie blieb blass und müde, zum ersten Mal wirkte sie auf mich alt.
Im Frühling war es ein ganzes Jahr, seit ich von Zuhause fortgelaufen war. Papa und auch Monsieur Dominic verfolgten mich immer noch nachts in meinen Träumen. Manchmal, wenn ich schweißnass zitternd aufwachte, saß Mélisse bei mir im Zimmer und hielt meine Hand. Sie tröstete mich, gab mir das Gefühl ihr alles sagen zu können, wenn ich es wollte. Wie gerne hätte ich das auch getan, ich vertraute ihr, doch fürchtete ich, sie würde ebenfalls glauben, was das Brandmal erzählte.

Eines Morgens, als ich gerade draußen vor dem Stall die brave Fleurette striegelte, kam unangekündigt Olivier auf seinem Winterrappen über die Wiese heran geritten. Er sah so gut aus, so stolz.
„Bon matin, Anne“, grüßte er mich gut gelaunt, als er das Pferd zum Stehen brachte und sich elegant abschwang. „Störe ich dich? Hast du viel zu tun?“
Ich lächelte ihn an. „Du doch nie. Aber sag, was führt dich so früh hierher? Bist du aus dem Bett gefallen?“
Der junge Mann schüttelte leicht den Kopf. „Nein, das nicht. Meine Familie gibt jedes Jahr ein Frühlingsfest, in zwei Wochen ist es wieder so weit, und da wollte ich das liebste und hübscheste Mädchen der ganzen Gegend fragen, ob es mir die Ehre erweist, mich zu begleiten.
Überrascht sah ich ihn an, mein Blick schien ihn zu amüsieren. Ich spürte warme Röte meine Wangen durchziehen. Mit diesen Worten konnte er eigentlich nicht mich gemeint haben, doch außer uns beiden und den Pferden war ja niemand hier.
„Sehr gerne, ich würde mich freuen. Aber meinst du denn ich passe dazu?“
Er nickte. „Ja, natürlich. Endlich kann ich dich dann meinen Eltern vorstellen. Keine Sorge, sie sind sehr nett und werden dich mögen.“
Das hätte er besser für sich behalten, ich war gar nicht überzeugt von seinen Worten. Ich war sicher unter den gut situierten Herrschaften aufzufallen wie ein schwarzes Schaf inmitten von weißen. Meine eigene adlige Herkunft hatte ich fast schon vergessen. Die einzige Tochter Claude de Breuils gab es nicht mehr, sondern nur noch Anne, ein Mädchen ohne Vergangenheit.

„So so, er hat dich also auf das berühmte de la Fére Frühlingsfest eingeladen.“ Ein bedeutungsvolles Lächeln umspielte Mélisses Lippen.
„Ja, und ich habe nicht einmal etwas zum Anziehen für so eine feine Gesellschaft“, warf ich ein. Das schöne zartgrüne Kleid, das mir meine Gönnerin geschenkt hatte, wirkte immer noch zu bürgerlich für einen solchen Anlass.
Die alte Frau nahm mich bei der Hand und führte mich in ein Zimmer im oberen Stock des Hauses, das ich noch nie gesehen hatte. Es war freundlich eingerichtet, das Bett bezogen, und auf dem Kissen lag eine kleine Stoffpuppe.
„Das Zimmer meiner jüngsten Tochter“, sagte Mélisse leise. „Ich habe sie nie erwähnt. Fabienne war erst fünfzehn Jahre alt, als sie krank wurde und starb. Seitdem habe ich hier nichts verändert, nur immer sauber gemacht.“ Sie öffnete den Schrank und holte ein wunderschönes Kleid hervor. Es war hellrot, die weiten Ärmel und der Rock beige. Der Stoff fühlte sich unglaublich weich an.
„Ich habe es für meine Tochter genäht, sie wollte es ebenfalls auf einem Fest tragen. Doch das ist leider nie geschehen. Es würde mich freuen, wenn du es nun anziehst.“ Sie sah mich aufmerksam an. „Du erinnerst mich manchmal so sehr an meine Fabienne, ihr ähnelt einander im Herzen.“

Nachdem die Schneiderin noch einige Veränderungen vorgenommen hatte, passte mir das Kleid am Vorabend des Festes wie angegossen, fast wie für mich gemacht. Tags darauf half sie mir dabei mein langes Haar zu bändigen. Als ich danach mein Spiegelbild sah, erkannte ich mich selbst kaum wieder. Am Nachmittag holte Olivier mich mit seinem Einspänner ab, wie er es versprochen hatte. Er musterte mich verblüfft.
„Pardon, Comtesse, könnt Ihr mir wohl sagen, wo ich Anne finde?“ Er lächelte sanft. „Du siehst wunderschön aus.“
„Danke“, grinste ich, als ich auf den Wagen kletterte. Die ganze Fahrt über fragte ich mich, ob das denn auch genügen würde.

Olivier geleitete mich in den großen Garten des gräflichen Anwesens, in dem sich schon unglaublich viele Menschen bewegten. Männer und Frauen sprachen miteinander, Kinder liefen dazwischen umher.
„Komm“, sagte er leise und ging mit mir zu einem älteren Paar, das die eintreffenden Gäste nacheinander begrüßte. Offenbar waren das der Graf und die Gräfin de la Fére.
„Mama, Papa“, begann er. „Darf ich euch Anne vorstellen? Das ist Madame Mélisses brave Gehilfin, von der ich erzählt habe.“ Er blickte von ihnen zu mir. „Anne, das sind meine Eltern, Henri und Clémentine de la Fére.“
Ich knickste höflich. „Es freut mich sehr Eure Bekanntschaft zu machen.“
„Uns ebenso.“ Oliviers Vater lächelte ein wenig. „Nun sehe ich endlich mit wem sich mein Sohn so gerne herum treibt.“
Zum Glück wurde die Aufmerksamkeit des gräflichen Paares bald wieder anderweitig beansprucht, und Olivier stellte mir anschließend seinen Bruder Silvain vor, in dessen Begleitung sich eine junge blonde Frau befand. Beide musterten mich herablassend, erinnerten mich daran, dass ich nicht hierher gehörte. Schon nach ein paar Minuten wusste ich, dass die Brüder nicht hätten unterschiedlicher sein können, und ich merkte bald, dass sich nicht viel zu sagen hatten.

Ich rechnete nicht damit ihm im Laufe des Abends noch einmal zu begegnen, doch als Olivier mit einigen anderen jungen Männern sprach, trat Silvain an mich heran, und bedeutete mir ihm ein Stück weit weg vom Kern des Festes zu folgen.
„Mit dir verschwendet mein Bruder also seine Zeit. Glaub mir, ich kenne solche wie dich. Du bemühst dich um ihn, weil er reich ist, habe ich recht?“
„Das ist nicht wahr“, widersprach ich sofort, aber wenig nachdrücklich, weil ich so überrascht über seine dreisten Worte war. „Ich hätte es lieber, wenn er kein Graf wäre.“
Er hob die Augenbraue. „Nun ja, schön bist du, kein Wunder, dass du seinen Verstand so leicht benebeln konntest.“ Mittlerweile waren wir an einem kleinen Tümpel, verborgen von tief hängenden Trauerweiden weit abseits des fröhlichen Trubels. Wir waren hier ganz allein. Jäh umfasste er eisern meine Handgelenke.
„Wenn du Geld willst, hilf mir den Titel zu erlangen, der mir rechtmäßig zusteht, und ich werde dich reich belohnen.“
„Was…?!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Ich ahnte, dass er davon gesprochen hatte, gegen seinen eigenen Bruder zu agieren, mit dem Ziel dessen Platz als Graf einzunehmen. „Wie könnt Ihr nur? Ich würde Olivier niemals schaden. Nie! Adieu, Monsieur de la Fére.“
Mit diesen scharfen Worten ließ ich ihn stehen, um zum Fest zurück zu kehren und mich auf die Suche nach Olivier zu machen.
Er lächelte mich an, als ich ihn fand. „Da bist du ja wieder. Würdest du mir die Ehre dieses Tanzes erweisen?“
In Aussicht auf seine Nähe nickte ich und ließ mich von ihm auf die Tanzfläche führen. Weil ich jedoch mit den Gedanken immer noch bei der Begegnung mit Silvain war, trat ich ihm in Folge der mangelnden Konzentration auf den Fuß. Besonders elegant wirkte das natürlich nicht.
Obwohl ich mich blamierte, wollte ich nicht aufhören mich mit ihm zu drehen. Zu sehr genoss ich seine sicheren Arme, die mich hielten.