Je suis une femme von Engel aus Kristall

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Kapitel Kapitel 12

Kapitel 12


Das Fest dauerte bis spät in die Nacht, als es zu Ende war, brachte Olivier mich wieder nach Hause. Ich fühlte mich sehr unbeschwert, dass ich im Laufe des Abends Geschmack am Schaumwein gefunden hatte, machte sich nun bemerkbar.
„Ich hoffe du hattest auch ein wenig Spaß“, meinte er leise, als wir mit dem Wagen vor Mélisses Haus angekommen waren. „Ich habe es sehr genossen, dich bei mir zu haben.“
„Obwohl ich dich beim Tanz so blamiert habe?“ Ich wurde rot.
Der junge Mann nickte. „Weißt du, eigentlich hasse ich Tanzen, aber ich dachte du wolltest vielleicht gerne…“
Im nächsten Moment lachten wir beide aus vollem Hals. Da waren wir ja einem gründlichen Missverständnis aufgesessen. Wir bekamen uns erst wieder in den Griff, als von drinnen Mélisses Stimme erklang, nun hatten wir es auch noch geschafft, die arme Frau aufzuwecken.
Olivier gab mir einen scheuen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, ma chére Anne. Träum süß.“
„Du auch…“, murmelte ich gerade noch verlegen, ehe er sein Pferd antrieb und der Wagen leise davon ratterte. Gedankenverloren berührte ich mit den Fingern die Stelle, an der sich seine weichen Lippen vorhin noch befunden hatten.

Auf den Frühling folgte ein ungewöhnlich heißer Sommer. Die Ernten fielen schlecht aus und die meisten Lebensmittel wurden so teuer, dass viele Mägen leer blieben. Mélisse nahm nicht mehr viel ein, weil die Leute ihr Geld brauchten, um Essen zu kaufen. Also mussten auch wir unsere Gürtel enger schnüren. Obwohl wir oft nicht satt wurden, war die alte Schneiderin stets darauf bedacht, dass auch ihre kleine Stute Fleurette ausreichend versorgt war.
Manchmal brachte Olivier Brot, Gemüse, oder etwas Fleisch vorbei. Seine Familie war reich, alle hatten genug zu essen, sodass es gar nicht auffiel, wenn ein wenig aus der Speisekammer fehlte. Zu meinem siebzehnten Geburtstag überraschte mich Mélisse trotz aller Not mit einem herrlichen Dîner. Doch das schönste Geschenk war Oliviers Anwesenheit. Die beiden waren meine Freunde und meine Familie zugleich, und so lange wir füreinander da waren, würden wir auch die härtesten Zeiten überwinden.

Ich irrte mich. Wieder einmal. Im Winter wurde Mélisse erneut krank. Sie war nach dem Fieber des vergangenen Jahres nie wieder bei ihren vollen Kräften gewesen und der entbehrungsreiche Sommer tat das Übrige. In einer frostigen Januarnacht ging es zu Ende. Ich saß bei ihr am Bett, kühlte, wie so oft ihre heiße Stirn mit einem nassen Lappen, als sie ihre Hand auf meine legte, damit ich inne hielt.
„Der Herr ruft mich zu sich…“, murmelte die alte Frau schwach. „Anne, bitte kümmere dich gut um meine treue Fleurette. Sorge dafür, dass sie einen schönen Lebensabend erhält, das hat sie verdient.“
Vorsichtig nahm ich Mélisses magere Hand in die meine. „Was redet Ihr denn da? Ihr werdet wieder gesund, das weiß ich…“
Doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein… Ich hatte ein langes Leben, und nun ist es Zeit, zu gehen.“ Ihre Stimme wurde immer leiser. „Höre niemals auf zu hoffen, Anne. Die Hoffnung ist das Licht, das dich aus der Dunkelheit führt… vergiss das nie, hörst du…“

Zitternd vor Kummer und Kälte sah ich dabei zu, wie der schlichte Sarg in sein einsames Grab hinab gelassen wurde. Tränen liefen meine Wangen hinab. Ich wollte nicht glauben, dass sie tot war. Mein Leben lag erneut in Scherben. Die Schneiderei konnte ich mit meinen Fähigkeiten nicht weiter führen, so blieb mir nichts, als anderswo mein Glück zu versuchen. Der Gedanke Olivier zu verlassen, schnürte mir die Kehle zu. Ich liebte ihn mehr als mein Leben und das war auch ein Grund, warum ich gehen musste. Er verdiente etwas Besseres als mich.
Vor dem offenen Grab standen Mélisses Töchter, die gekommen waren, um sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Oder vielleicht auch nur, um den Nachlass zu regeln. Der Verkauf des Hauses und des Grundstücks würde gutes Geld geben.
Eine andere Gestalt erweckte jäh meine Aufmerksamkeit. Olivier trat an mich heran und nahm mich in die Arme. Ich lehnte mich unendlich dankbar an ihn, weinte leise in seine Brust. Dass er mich schließlich von dem kleinen Friedhof fort zog, merkte ich kaum.

„Meine arme Anne…“, er strich mir tröstend über das Haar. „Ich wünschte, ich könnte dir den Schmerz irgendwie nehmen.“
Mir fehlte schlicht die Kraft ihm eine Antwort zu geben. Ein erneutes Schluchzen schüttelte mich, nur langsam gewann ich meine Fassung zurück. „Würdest du mir einen großen Gefallen tun?“
Er nickte leicht. „Jeden. Was möchtest du?“
„Nimm Fleurette mit in deine Ställe und kümmere dich um sie. Bei dir weiß ich sie gut versorgt, wenn ich weiter ziehe.“ Traurig wandte ich meinen Blick von ihm ab.
„Ich möchte nicht, dass du gehst.“ Olivier ergriff mich am Arm, als wolle er mich dadurch bei sich halten. „Wohin willst du denn überhaupt?“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Was soll ich denn noch hier? Mélisses Arbeit kann ich nicht übernehmen, das weißt du doch.“
„Bitte bleib...“ Seine Stimme hatte einen beinahe verzweifelten Klang. „Ich will nicht mehr ohne dich leben. Bleib bei mir als meine Frau!“

Hatte ich gerade richtig gehört? Ich traute meinen Ohren nicht. Im nächsten Moment kniete er sich vor mich, nahm meine Hand und drückte sie sanft.
„Ich liebe dich, Anne. Möchtest du meine Frau werden?“
Als Antwort fiel ich ihm stürmisch um den Hals. „Ja, Olivier, mehr als alles Andere auf der Welt!“ murmelte ich in die Umarmung hinein.
Mit einem Lächeln schob er mich ein Stück von sich, um mich zärtlich zu küssen. Ich wusste nicht, wie mir geschah, es war einfach zu viel auf einmal. Der Gedanke, dass wir nun verlobt waren, erschien mir so unwirklich. Es würde noch Zeit brauchen, bis ich begriff, dass dies tatsächlich geschehen war.

Am selben Abend saß ich nervös neben Olivier im großen Speiseraum des gräflichen Anwesens. Der Tisch war viel reicher gedeckt, als ich es noch aus meinem Elternhaus in Erinnerung hatte. Da gab es Köstlichkeiten, deren Namen ich noch nie zuvor gehört hatte, und auch Manches, das es bei uns an besonderen Tagen, etwa dem Geburtstag meines Vaters gegeben hatte, so wie Escargots.
Mit uns dinierten die Eltern des jungen Grafen, sowie sein Bruder Silvain, diesmal ohne die blonde Schönheit vom Fest. Dieser warf mir immer wieder abschätzige Blicke zu, während Henri und Clémentine de la Fére auf meine Anwesenheit eher verwundert reagierten. Sie hatten keine Ahnung, dass ich bald zur Familie gehören würde.
Nach dem Essen erhob sich Olivier und begann zu sprechen, sobald er die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden hatte. „Mama, Papa, Silvain, es gibt Neuigkeiten zu verkünden“, begann er, bestimmt kaum weniger nervös. „Ich habe Anne heute um ihre Hand gebeten. Wir werden heiraten.“
Seine Eltern fielen aus allen Wolken. Zwar sprachen sie ihre Glückwünsche aus, doch ihre Ablehnung war offensichtlich. Als Mélisses fleißige Gehilfin hatten sie mich vielleicht noch gemocht, aber als Gemahlin ihres Sohnes, und damit Gräfin de la Fére war ich freilich nicht gut genug.

„Sie sind nicht damit einverstanden, dass du mich heiraten willst“, sagte ich schließlich, als wir wenig später auf dem Weg zum gemütlichen Salon einen Augenblick für uns hatten.
Olivier zuckte mit den Schultern. „Ich denke, sie müssen sich nur an den Gedanken gewöhnen, wir haben sie damit ziemlich überrascht.“
Ein Seufzen entkam mir. „Es ist mehr als das. Sie wollen mich nicht als deine Frau, weil ich nicht deinem Stand entspreche. Mélisse hat mich auf der Straße aufgelesen, du weißt das. Ohne ihr warmes Herz wäre ich jetzt wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben…“
„Die Vergangenheit ist mir egal. Wichtig ist, dass du jetzt bei mir bist.“ Er nahm mein Gesicht zwischen die Hände, damit ich ihn ansehen musste. „Ich liebe dich, und meine Eltern werden das akzeptieren müssen, ob es ihnen gefällt oder nicht.“ Bevor ich noch etwas sagen konnte, küsste er mich innig.

Vielleicht fragte er nicht nach meiner Herkunft, doch ich war überzeugt davon, dass seine Familie das früher oder später tun würde. Das Brandmal an meiner Schulter sollte niemals jemand zu Gesicht bekommen, nicht einmal Olivier. Auch wenn ich es ungerechtfertigt erhalten hatte, war das Zeichen einer Hure etwas Anderes, als nur ohne Hab und Gut dazustehen. Darüber würde er bei all seiner Liebe zu mir nicht hinweg sehen können.
Olivier wurde von seinem Vater in den Salon gewiesen, während seine Mutter mich zurück hielt, als ich ihm folgen wollte.
„Lassen wir die beiden Herren in Ruhe miteinander reden“, meinte sie. „Komm, wir genehmigen uns einstweilen eine heiße Tasse Tee.“
Wohl oder übel musste ich mit ihr gehen. Im nächsten Moment, kaum dass ich mich umgedreht hatte, ertönte durch die geschlossene Tür die Stimme des alten Grafen, der seinen Sohn zurecht wies, ob er den Verstand verloren hatte, ein hergelaufenes Mädel ohne jedwede adlige Abstammung zur Frau nehmen zu wollen.

„Er meint es nicht so“, sagte Clementine de la Fére leise, als wir die geräumige Küche erreichten. Schweigend setzte ich mich zu ihr an den Tisch, an dem normalerweise die Dienstboten aßen. Was hätte ich auch sagen sollen, es war mir deutlich gemacht worden, dass ich nicht erwünscht war.
Oliviers Mutter legte unschlüssig die Hand auf meine Schulter, was mich aus meinen Gedanken riss. „Die Nachricht hat uns sehr überrascht, verstehst du? Wir hatten keine Ahnung, dass unser Sohn sich in nächster Zeit zu vermählen gedenkt, nachdem er es damit bisher nicht sehr eilig zu haben schien.“
Sie unterbrach sich, als das Dienstmädchen vor uns eine kleine Kanne mit aromatischem Kräutertee auf den Tisch stellte. Dankbar nippte ich an meiner Tasse, doch mir wollte einfach nicht richtig warm werden.
„Es ist nicht leicht, die Kinder, die man Jahre lang umsorgt hat, los zu lassen, wenn sie erwachsen werden. Und jetzt, mit dieser Verlobung verlässt er endgültig das Nest. Da wüssten wir ihn natürlich gern in den besten Händen. Aber Henri vergisst dabei, dass eine gute Abstammung nicht das Wichtigste ist. Ich möchte, dass Olivier glücklich ist, und ich glaube ich wäre mir dessen einfach sicherer, wenn ich mehr über seine Zukünftige wüsste…“
Zögerlich berichtete ich ihr von meiner Flucht wenige Tage, bevor ich in eine Ehe verkauft werden sollte, in der ich wahrscheinlich zugrunde gegangen wäre. Meine Mutter irrte sich, ich hätte niemals gelernt, Raymond zu lieben. Damals war ich sicher gewesen, dass es mehr gab, als an seiner Seite zu enden. Und das war Olivier. Ihn zu lieben musste ich nicht erst lernen.