Je suis une femme von Engel aus Kristall

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Kapitel Kapitel 9

Kapitel 9


Die Fahrt mit dem Wagen dauerte lange, bestimmt mehr als drei Stunden. Wir sprachen viel miteinander, es schien mir als würde ich Mélisse schon Jahre lang kennen, ich fühlte mich wohl bei ihr. Hätte ich jemals eine Großmutter gehabt, dann bestimmt eine wie sie. Als es schließlich zu dämmern begann, waren wir offenbar immer noch nicht annähernd am Ziel. Bald darauf lächelte die liebe alte Frau jedoch breit.
„Wir sind jetzt im Übrigen in der Champagne und haben die Grenze zur Grafschaft de la Fére passiert. Hier lebe ich seit meiner Geburt. Sieh dich nur gut um, es ist noch nicht zu dunkel.“
Ich wusste nichts zu erwidern, so ließ ich schlicht meinen Blick über die Umgebung schweifen. Welche Bedeutung der Name de la Fére für mich haben sollte, ahnte ich nicht einmal im Traum. Wir kamen durch Wälder und fuhren Feldwege entlang. Als die Nacht herein brach, wurde mir unwohl. In der Finsternis glaube ich manchmal Schatten zu sehen, die Monsieur Dominic oder Seiner Eminenz glichen.
„Mach dir keine Sorgen. Wir sind bald da. Meine treue Fleurette kennt den Weg“, beruhigte mich Mélisse. Tatsächlich schien die kleine robuste Stute genau zu wissen, wohin sie gehen musste. Nach nicht allzu langer Zeit rollte der Wagen durch ein kleines Dorf, und hielt schließlich vor einem etwas abseits gelegenen Häuschen. Gemeinsam stellten wir den Wagen weg und versorgten die gute Fleurette.
Danach aßen wir eine Kleinigkeit – nur Kaltes, das so gut schmeckte wie das beste Dîner, das ich von zu Hause kannte, und legten uns schlafen. Es war spät geworden. Mélisse richtete für mich das Gästezimmer her. Offenbar war es lange nicht mehr benutzt worden. Jedenfalls war es der schönste Raum, den ich mir hätte vorstellen können.

Es war reichlich ungewohnt wieder in einem warmen Bett zu schlafen, und am nächsten Morgen wusste ich nicht wo ich mich befand. Erst Mélisses Stimme, die mich zum Frühstück rief, holte mich in die Realität zurück. Ich zog eilends mein schäbiges Kleid an und lief in die Küche. Wie das ganze übrige Haus war sie klein und ein wenig herunter gekommen, aber sehr gemütlich.
„Ah da bist du ja, meine Liebe. Hast du gut geschlafen?“
Ich nickte. „Ja, Madame. Wunderbar. Ich bin Euch so dankbar für Eure Gastfreundschaft.“
„Das ist gerne geschehen. Komm, nimm dir ein Croissant. Die sind viel besser als François’ Gebäck.“ Sie zwinkerte mir zu. Dankbar nahm ich eins aus dem Körbchen, es schmeckte wirklich herrlich.
„Ich weiß nicht wie ich Euch danken soll…“ begann ich wieder.
Sie unterbrach mich. „Indem du dir jetzt anhörst, was ich dir sagen möchte.“ Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Du merkst ja wie es hier überall aussieht. Ich werde alt, die müden Knochen streiken immer öfter. Deshalb könnte ich gut jemanden gebrauchen, der mir im Haus zur Hand geht und für mich auf die nahen Märkte fährt, um zu verkaufen was ich nähe. Vielleicht kennst du ja jemanden, der das gerne machen würde. Gegen Kost, Unterkunft und jeden Monat etwas Geld, selbstverständlich. Gute Arbeit will ich großzügig belohnen.“
Meine Augen begannen zu leuchten. „Das würde ich sehr gerne für Euch machen, Madame!“
Sie lachte. „Na gut, aber nur unter der Bedingung, dass du mich Mélisse nennst.“ Sie legte mir vertraulich die Hand auf den Arm. „Weißt du wie schön es ist, wieder Leben im Haus zu haben? Meine Töchter sind schon so lange weg, ich weiß nicht mehr wie das ist. Seit Oscar, mein Mann, nicht mehr lebt, ist es völlig still geworden.“

An diesem Tag erfuhr ich noch einiges über ihre Familie. Ihre beiden Töchter Virginie und Jeanne waren beide verheiratet und lebten so weit weg, dass Mélisse sie inzwischen nicht mehr besuchen konnte. Söhne hatte sie nie gehabt, doch ihr Oscar war ihr deshalb nicht böse gewesen. Sie beschrieb ihn als liebevollen Ehemann, der sie mit Respekt behandelt hatte, und auf seine Töchter immer voller Stolz gewesen war. Oh, ich wünschte Papa hätte auch einmal so für mich empfunden. Nur ein einziges Mal.
Meinerseits erzählte ich ihr von meiner Kindheit, der Verlobung mit Raymond d’Arlais, und meiner Flucht von Zuhause, weil ich nicht in der Ehe mit einem solchen Mann enden wollte. Viel mehr träumte ich von einem, der respektvoll mit mir umging, und meine Fähigkeiten schätzte. Was Monsieur Dominic mir angetan hatte, verschwieg ich, doch sie wusste auch so, dass mir etwas Schlimmes widerfahren war, über das ich nicht sprechen wollte. Sie akzeptierte es. Auch über die in meine Schulter eingebrannte Lilie verlor ich kein Wort, denn ich hatte Angst, sie würde dann auch nur das in mir sehen, was diese Männer aus mir gemacht hatten.

Mein Leben wurde jetzt geregelter, ein Umstand, den ich sehr genoss. Dank Mélisses guter Küche bekam ich wieder etwas Speck auf die Rippen, meine Figur wurde richtig weiblich, viel mehr als zuvor, und wann immer ich im Dorf unterwegs war, sahen mir manche Männer hinterher. Ich ließ mich von diesen Blicken für gewöhnlich nicht beirren, sondern wusste sie zu ignorieren. Die Arbeiten, die mir meine Gönnerin jeden Tag auftrug, waren vielfältig und oft anstrengend, doch ich tat sie gern. Die alte Frau brachte mir das Kochen bei, jedoch beim Nähen verzweifelte sie. Zumindest schaffte ich es, Risse zu verschließen und Knöpfe zu befestigen, das genügte ja auch, fand ich.
Auf die Märkte zu fahren, machte mir besonders großen Spaß. Mit Fleurette kam ich gut zurecht, so lange ich nicht selbst reiten musste, mochte ich Pferde. Von Mélisses Kunden wurde ich zunächst sehr argwöhnisch betrachtet, doch auch das gab sich bald, da die hohe Qualität der Waren natürlich unverändert blieb.

Weil es auf den Winter zuging, bekam die alte Schneiderin eines Tages den Auftrag einen Mantel zu nähen. Bestimmt war das gute Stück für niemand geringeren als den jungen Grafen de la Fére, den sie als wahren Edelmann beschrieb. Erst vor Kurzem hatte sein Vater Henri de la Fére seinen Titel an den ältesten seiner Söhne weiter gereicht.
Das Kleidungsstück wurde perfekt, wie alle Arbeiten Mélisses. Es war schlicht, und doch vornehm. Ich stellte mir vor, wie der Mann aussah, der es tragen würde, denn noch kannte ich den jungen Grafen nicht.
Er kam früh morgens, um den Mantel abzuholen. Der Himmel war grau, kühle Herbstluft umfing mich, als ich gut gelaunt vom Stall zurück zum Haus lief, nachdem ich die zottige Stute versorgt hatte. Wie vom Donner gerührt blieb ich in der Tür zur Stube stehen. Ein junger Mann drehte sich unter Mélisses kritischem Blick in dem schönen Mantel.

„Ah, da bist du ja.“ Die alte Frau lächelte mich an, ehe sie sich wieder ihrem Kunden zuwandte. „Dies ist nun meine brave Anne.“ Ihr Blick wechselte erneut zu mir. „Und dies ist Olivier, Graf de la Fére.“
Man sah ihm an, dass er Rang und Namen besaß. Seine durch und durch edlen Gesichtszüge wurden von dunklem Haar umrahmt, das ihm über die Schultern fiel. Die schönsten braunen Augen, die ich je gesehen hatte, musterten mich neugierig.
„Ich bin sehr erfreut Eure Bekanntschaft zu machen“, sagte ich scheu, und knickste, so wie man es mich in meiner Kindheit gelehrt hatte.
Er reichte mir amüsiert lächelnd die Hand. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Madame Mélisse hat schon viel von Euch erzählt. Ich bin sehr froh, dass sie jetzt eine so tüchtige Hilfe hat.“
Solche Worte trieben mir Röte auf die Wangen. Alles was ich tat, war meine Aufgaben möglichst zur Zufriedenheit meiner Gönnerin zu erledigen, damit zeigte ich ihr meine Dankbarkeit für die Chance, die sie mir gegeben hatte.
„Ihr seid nicht aus dieser Gegend, oder?“ fuhr er fort.
Er sprach mich respektvoll an, das war ich gar nicht gewöhnt. Ich schüttelte den Kopf. „Das ist wahr. Ich habe Mélisse in Lille getroffen, und wie es der Zufall wollte, hat sie jemanden gesucht, der ihr zur Hand geht. So kam ich mit ihr hierher.“
Ohne das gute Herz der alten Frau, wäre ich jetzt immer noch hungrig und allein irgendwo in den Straßen der Stadt. Wenn ich denn überhaupt noch lebte.
„Dann war es wohl Glück für sie und für Euch.“ Er zog den Mantel wieder aus, und griff nach seinem Geldbeutel, um das Kleidungsstück nun zu bezahlen. „Es wird bestimmt noch den ein oder anderen schönen Tag geben, ehe der Winter herein bricht. Wenn Ihr mögt, könnte ich Euch die Gegend zeigen. Die Grafschaft verfügt über einige landschaftliche Besonderheiten, die man gesehen haben sollte.“
Zunächst zögerte ich. Das letzte Mal, als ich einem fremden Mann ohne weiteres vertraut hatte, hatte mir das Zeichen an meiner Schulter eingebracht. Doch er junge Graf schien ein guter Bekannter Mélisses zu sein, also nickte ich schließlich. „Das wäre sehr schön, wenn Ihr denn die Zeit erübrigen könnt.“
Er schmunzelte. „Ja, ich hoffe doch sehr, dass ich das kann. Es muss doch zu etwas gut sein, wenn man ein Graf ist, meine ich.“
Dieser Kommentar brachte mich zum Lachen. Olivier de la Fére schien wirklich sehr nett zu sein. Wir verabredeten für den nächsten Sonntag eine Ausfahrt mit der Kutsche. Wie gut, dass er keinen Ausritt vorgeschlagen hatte. Es wäre mir peinlich gewesen, zugeben zu müssen, dass ich nicht reiten konnte. Bestimmt hätte er sich köstlich darüber amüsiert.