Je suis une femme von Engel aus Kristall
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 38 BewertungenKapitel Kapitel 8
Kapitel 8
Erneut saß ich in der beengenden Gefängniszelle fest. Meine Lippen
waren blutverkrustet und ganz ausgetrocknet, ich hatte solchen
Durst. An das Schmerzen meines Magens vor Hunger hatte ich
mittlerweile gewöhnt. Als ich schon fürchtete, verrückt zu werden,
näherten sich am Gang erneut Schritte. Diesmal musste es Paul sein,
dachte ich bei mir, doch ich lag falsch. Der Mann, der mir die
Lilie eingebrannt hatte, schloss die Tür auf. In seiner Begleitung
fand sich der feine rot gekleidete Herr.
„Nun, viel Glück, Eminenz. Aber glaubt mir, mit dieser kleinen
dummen Dirne verschwendet Ihr Eure Zeit.“
„Dass lasst nur meine Sorge sein. Und jetzt seid so freundlich,
lasst mich mit dem Mädchen allein. Bestimmt erfordern andere Dinge
Eure Aufmerksamkeit.“
Der kleinere Mann nickte und entfernte sich eilig. Hinter ihm
schwang die Tür leise knarrend zu. Ich starrte stur auf den
strohbedeckten Boden, dieser offenbar sehr angesehene Herr war mir
von Grund auf zuwider. Mein Gespür sagte mir, dass er durchtrieben
war.
„Schade, offenbar willst du nicht mit mir sprechen“, begann er
schließlich. „Ich ging davon aus, dass du keinen großen Wert darauf
legst, noch länger hier zu verweilen. Sollte ich einem Irrtum
aufgesessen sein?“
Jetzt sah ich doch auf. Um diesen Ort zu verlassen, war ich bereit
einiges in Kauf zu nehmen. „Ihr habt Euch nicht getäuscht...
Eminenz“, sagte ich leise. „Was verlangt Ihr von mir für die
Freiheit?“
Er ging dicht vor mir in die Hocke, fasste nach meinem Kinn, und
hob meinen Kopf an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. „Du
bist ausgesprochen hübsch, und in deinem Blick erkenne ich einen
starken Geist. In meinen Diensten könnte ich dich gut gebrauchen.
In meiner Position ist man darauf angewiesen immer gut informiert
zu sein, weißt du. Und du könntest für mich solche wertvollen
Informationen in Erfahrung bringen. Im Gegenzug erhältst du die
Freiheit, und wenn du deine Sache immer gut machst, werde ich mich
erkenntlich zeigen.“
„Und wie soll ich das tun?“ fragte ich schlicht. Irgendetwas
stimmte nicht, das Angebot klang viel zu gut.
„Glaub mir, alles was du dafür brauchst, hast du an dir. Wenn du es
richtig einsetzt, bekommst du alles was du willst. Kein Mann kann
einem solch unschuldigen hübschen jungen Ding widerstehen, wenn es
sich ihm anbietet.“
Das war also der Haken. Ich sollte mir mit Hilfe meiner weiblichen
Reize Männer gefügig machen, damit ich an bestimmte Informationen
gelangen konnte. Es hatte den Anschein, dass dies wirklich meine
einzige Möglichkeit war, wollte ich wieder frei sein.
„Ich habe noch Geschäfte in der Umgebung zu erledigen, in zwei
Tagen werde ich erneut hier sein. Bis dahin überlege dir, ob du
mich nach Paris begleiten möchtest, oder lieber in dieser Zelle
verbleibst.“ Er lächelte mich von oben herab an. „Ich empfehle
mich.“
Als er endlich gegangen war, verfiel ich in angestrengte
Überlegungen. Sollte ich dieses Angebot annehmen? Was erwartete er
von mir? Ich konnte mir nicht vorstellen einem Mann jemals wieder
körperlich nahe zu kommen. Vielleicht schaffte ich es ja
wegzulaufen, wenn er mich erst einmal aus dem Gefängnis geholt
hatte. Doch diesen Gedanken verwarf ich bald wieder. Das würde er
gewiss nicht zulassen. Entschied ich mich für seinen Weg, musste
ich ihn auch bis zum Ende gehen. Eine Zeit lang rang ich mit mir,
und schließlich siegte der drängende Wunsch diesen beengenden Ort
zu verlassen. Eine andere Wahl hatte ich nicht.
Doch dann erschien unerwartet Pauls Gesicht auf der anderen
Seite des vergitterten Fensters, und im nächsten Moment wurde mit
einem metallischen Klicken das Schloss entriegelt. Ich hatte ihn
gar nicht kommen gehört.
„Schnell“, flüsterte der junge Bursche. „Ich bringe dich hier raus.
Kein Wort mehr jetzt.“ Er legte mir den Finger auf die Lippen, ehe
ich antworten konnte.
Den Weg durch den spärlich beleuchteten Gang und die unregelmäßigen
Stufen hinauf legten wir schweigend zurück. Draußen war es dunkel,
der Mond schien. Erst als wir ein paar Hausecken hinter uns
gelassen hatten, blieb Paul stehen.
„Wohin willst du denn nun?“
„Nach Lille“, antwortete ich, während ich mich misstrauisch umsah.
Ich traute dem Frieden nicht ganz.
Er griff bemerkenswert vorsichtig nach meiner Hand. Wortlos folgte
ich ihm, bis wir das Dorf hinter uns ließen und am Rand einer
breiten Straße standen.
„Du musst dich immer diese Richtung einhalten. Wenn du dich
beeilst, kannst du in vielleicht zwei Stunden da sein.“
Verwundert legte ich den Kopf schief. „Warum hilfst du mir? Du
kennst mich doch gar nicht.“ In seinen Augen konnte ich die Antwort
lesen. Es war der gleiche Ausdruck wie Etiennes, als er von seiner
Angebeteten sprach. Der Bursche hatte sich in mich verliebt, und
das obwohl ich bestimmt keinen sehr schönen Anblick bot.
„Danke.“ Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Warte! Ich kenne doch nicht einmal deinen Namen…“
Vielleicht war das auch besser so. Nach ein paar Metern warf ich
einen Blick über die Schulter zurück, sah im Mondlicht seine
Silhouette. Und dann wurde das Dorf von der nächtlichen Finsternis
verschluckt. Ich ging langsam, um mich nicht zu verirren, oder über
ein verborgenes Hindernis zu stolpern. Bald erreichte ich einen
Bach, an dem ich endlich meinen Durst ausgiebig stillen konnte.
Beim ersten Tageslicht setzte ich meinen Weg nach Lille fort.
Mein Magen war immer noch leer. Zwar fand ich Brombeersträucher und
wilde Apfelbäume, doch zu dieser Jahreszeit trugen sie keine
Früchte.
Die Stadt war so groß und aufregend, wie sie mir vorgestellt hatte,
doch ebenso war sie bedrohlich. Überall waren so viele Menschen,
und wann immer ich einen Mann sah, der auch nur entfernte
Ähnlichkeit mit dem Priester besaß, bekam ich es mit der Angst zu
tun, ohne dass ich es verhindern konnte. Vielleicht wäre die Stadt
schön gewesen, hätte ich die Mittel gehabt, sie zu genießen. Ich
lebte von einem Tag zum nächsten, und von dem was ich stahl, oder
mir durch ehrliche Arbeit verdiente.
Wann immer ich eines dieser leicht bekleideten Mädchen am
Straßenrand auf einen Freier warten sah, wurde mir klamm ums Herz.
So mochte ich auf keinen Fall enden. Und doch stand ich kurz davor,
auch wenn ich es nicht wahr haben wollte. Den ganzen Sommer blieb
ich in Lille. Als ich sechzehn wurde, saß ich allein in einem
verlassenen Hinterhof, und dachte darüber nach, wie mein Leben wohl
verlaufen wäre, hätte ich mich in die Ehe mit Raymond gefügt.
Geregelt, mehr oder weniger sorglos, aber bestimmt nicht glücklich.
Hunger zog ich Schlägen immer noch vor. Was ich alles nicht hatte,
spielte keine Rolle, denn zumindest war ich frei.
Mit der Zeit wurde mir der städtische Wirbel doch zu viel, ich
begann mich hauptsächlich in ruhigeren Randgegenden aufzuhalten.
Eines Tages stieß ich auf einen bunten Markt, auf dem es von den
verschiedensten Nahrungsmitteln bis zu edlen Stoffen und Kleidern
alles gab, was das Herz begehrte. Sehnsüchtig fiel mein Blick auf
einen Stand voller köstlich duftender Bäckereien. Was hätte ich
nicht für ein einfaches Croissant gegeben.
„Verschwinde! Du verscheuchst mir noch die Kundschaft“, herrschte
mich der untersetzte Mann auf der anderen Seite des Standes
an.
Da ich ja nicht einmal genug Geld für ein Stück Brot in der Tasche
hatte, wandte ich mich von den Leckereien ab, und ging neugierig
weiter. Anderswo erregte ein hübsches Kleid, schlicht aus
zartgrünem Stoff, meine Aufmerksamkeit. Ich konnte nicht anders,
als vorsichtig mit der flachen Hand darüber zu streichen.
„Gefällt es dir?“ Diese Stimme war sanft, sie gehörte einer kleinen
alten Frau mit glänzend silberfarbenem Haar und meerblauen Augen,
die mich freundlich anlächelte.
Ich nickte heftig. „Es ist wunderschön.“
„Und es würde hervorragend zur Farbe deines Haars passen.“
„Wirklich?“ Mit großen Augen sah ich das Kleid an. „Ach, ich kann
es mir ja doch nicht leisten.“
Die Alte hob ein wenig die Augenbraue. „Wie es der Zufall will,
könnte ich jemanden gebrauchen, der mir beim Aufräumen zur Hand
geht. Die müden Knochen wollen nicht mehr so wie früher, ein Jammer
ist das.“
Natürlich half ich ihr, zu zweit ging es schnell und es machte
Spaß, weil wir ins Reden kamen. Ihr Name war Mélisse, sie schien
ein herzensguter Mensch zu sein, wie sie leider selten waren.
Mit ein paar Münzen in der Tasche kehrte ich später zum
Bäckerstand zurück. Erneut hatten es mir die Croissants
angetan.
„So gut sind die gar nicht.“ Unbemerkt war Mélisse an mich heran
getreten. „François ist ein alter Griesgram, und so schmeckt auch
sein Gebäck.“
„Euch auch einen schönen Tag, Madame“, grummelte der beleibte
Mann.
Ich musste mir ein Lachen schwer verkneifen. So wie er die Anrede
betonte, war ich sicher, dass derartige Bemerkungen zwischen den
beiden öfter ausgetauscht wurden.
Die alte Frau wandte sich wieder mir zu. „Es wird Zeit für mich
aufzubrechen, ich habe einen sehr lange Weg vor mir. Und du musst
sicher auch heim...“
„Nicht wirklich... ich habe kein zu Hause.“
„Oh, armes Ding. Hast du denn keine Familie?“
Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Mama und meine Brüder
fehlten mir noch immer, ich hätte gerne gewusst wie es ihnen ging,
aber inzwischen hatte ich akzeptiert, dass sie nicht mehr Teil
meines Lebens waren.
„Ich auch nicht mehr, seit mein Mann vor zwei Jahren gestorben
ist.“ Mélisse legte verständnisvoll die Hand auf meine
Schulter.
Wahrscheinlich tat ich ihr einfach nur leid, vielleicht mochte sie
mich auch irgendwie leiden. Sie bot mir an sie zu begleiten. Neben
ihr auf dem Kutschbock des Einspänners kehrte ich der Stadt endlich
den Rücken.