Je suis une femme von Engel aus Kristall

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Kapitel Kapitel 8

Kapitel 8


Erneut saß ich in der beengenden Gefängniszelle fest. Meine Lippen waren blutverkrustet und ganz ausgetrocknet, ich hatte solchen Durst. An das Schmerzen meines Magens vor Hunger hatte ich mittlerweile gewöhnt. Als ich schon fürchtete, verrückt zu werden, näherten sich am Gang erneut Schritte. Diesmal musste es Paul sein, dachte ich bei mir, doch ich lag falsch. Der Mann, der mir die Lilie eingebrannt hatte, schloss die Tür auf. In seiner Begleitung fand sich der feine rot gekleidete Herr.
„Nun, viel Glück, Eminenz. Aber glaubt mir, mit dieser kleinen dummen Dirne verschwendet Ihr Eure Zeit.“
„Dass lasst nur meine Sorge sein. Und jetzt seid so freundlich, lasst mich mit dem Mädchen allein. Bestimmt erfordern andere Dinge Eure Aufmerksamkeit.“
Der kleinere Mann nickte und entfernte sich eilig. Hinter ihm schwang die Tür leise knarrend zu. Ich starrte stur auf den strohbedeckten Boden, dieser offenbar sehr angesehene Herr war mir von Grund auf zuwider. Mein Gespür sagte mir, dass er durchtrieben war.

„Schade, offenbar willst du nicht mit mir sprechen“, begann er schließlich. „Ich ging davon aus, dass du keinen großen Wert darauf legst, noch länger hier zu verweilen. Sollte ich einem Irrtum aufgesessen sein?“
Jetzt sah ich doch auf. Um diesen Ort zu verlassen, war ich bereit einiges in Kauf zu nehmen. „Ihr habt Euch nicht getäuscht... Eminenz“, sagte ich leise. „Was verlangt Ihr von mir für die Freiheit?“
Er ging dicht vor mir in die Hocke, fasste nach meinem Kinn, und hob meinen Kopf an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. „Du bist ausgesprochen hübsch, und in deinem Blick erkenne ich einen starken Geist. In meinen Diensten könnte ich dich gut gebrauchen. In meiner Position ist man darauf angewiesen immer gut informiert zu sein, weißt du. Und du könntest für mich solche wertvollen Informationen in Erfahrung bringen. Im Gegenzug erhältst du die Freiheit, und wenn du deine Sache immer gut machst, werde ich mich erkenntlich zeigen.“
„Und wie soll ich das tun?“ fragte ich schlicht. Irgendetwas stimmte nicht, das Angebot klang viel zu gut.
„Glaub mir, alles was du dafür brauchst, hast du an dir. Wenn du es richtig einsetzt, bekommst du alles was du willst. Kein Mann kann einem solch unschuldigen hübschen jungen Ding widerstehen, wenn es sich ihm anbietet.“
Das war also der Haken. Ich sollte mir mit Hilfe meiner weiblichen Reize Männer gefügig machen, damit ich an bestimmte Informationen gelangen konnte. Es hatte den Anschein, dass dies wirklich meine einzige Möglichkeit war, wollte ich wieder frei sein.
„Ich habe noch Geschäfte in der Umgebung zu erledigen, in zwei Tagen werde ich erneut hier sein. Bis dahin überlege dir, ob du mich nach Paris begleiten möchtest, oder lieber in dieser Zelle verbleibst.“ Er lächelte mich von oben herab an. „Ich empfehle mich.“
Als er endlich gegangen war, verfiel ich in angestrengte Überlegungen. Sollte ich dieses Angebot annehmen? Was erwartete er von mir? Ich konnte mir nicht vorstellen einem Mann jemals wieder körperlich nahe zu kommen. Vielleicht schaffte ich es ja wegzulaufen, wenn er mich erst einmal aus dem Gefängnis geholt hatte. Doch diesen Gedanken verwarf ich bald wieder. Das würde er gewiss nicht zulassen. Entschied ich mich für seinen Weg, musste ich ihn auch bis zum Ende gehen. Eine Zeit lang rang ich mit mir, und schließlich siegte der drängende Wunsch diesen beengenden Ort zu verlassen. Eine andere Wahl hatte ich nicht.

Doch dann erschien unerwartet Pauls Gesicht auf der anderen Seite des vergitterten Fensters, und im nächsten Moment wurde mit einem metallischen Klicken das Schloss entriegelt. Ich hatte ihn gar nicht kommen gehört.
„Schnell“, flüsterte der junge Bursche. „Ich bringe dich hier raus. Kein Wort mehr jetzt.“ Er legte mir den Finger auf die Lippen, ehe ich antworten konnte.
Den Weg durch den spärlich beleuchteten Gang und die unregelmäßigen Stufen hinauf legten wir schweigend zurück. Draußen war es dunkel, der Mond schien. Erst als wir ein paar Hausecken hinter uns gelassen hatten, blieb Paul stehen.
„Wohin willst du denn nun?“
„Nach Lille“, antwortete ich, während ich mich misstrauisch umsah. Ich traute dem Frieden nicht ganz.
Er griff bemerkenswert vorsichtig nach meiner Hand. Wortlos folgte ich ihm, bis wir das Dorf hinter uns ließen und am Rand einer breiten Straße standen.
„Du musst dich immer diese Richtung einhalten. Wenn du dich beeilst, kannst du in vielleicht zwei Stunden da sein.“
Verwundert legte ich den Kopf schief. „Warum hilfst du mir? Du kennst mich doch gar nicht.“ In seinen Augen konnte ich die Antwort lesen. Es war der gleiche Ausdruck wie Etiennes, als er von seiner Angebeteten sprach. Der Bursche hatte sich in mich verliebt, und das obwohl ich bestimmt keinen sehr schönen Anblick bot.
„Danke.“ Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Warte! Ich kenne doch nicht einmal deinen Namen…“
Vielleicht war das auch besser so. Nach ein paar Metern warf ich einen Blick über die Schulter zurück, sah im Mondlicht seine Silhouette. Und dann wurde das Dorf von der nächtlichen Finsternis verschluckt. Ich ging langsam, um mich nicht zu verirren, oder über ein verborgenes Hindernis zu stolpern. Bald erreichte ich einen Bach, an dem ich endlich meinen Durst ausgiebig stillen konnte.

Beim ersten Tageslicht setzte ich meinen Weg nach Lille fort. Mein Magen war immer noch leer. Zwar fand ich Brombeersträucher und wilde Apfelbäume, doch zu dieser Jahreszeit trugen sie keine Früchte.
Die Stadt war so groß und aufregend, wie sie mir vorgestellt hatte, doch ebenso war sie bedrohlich. Überall waren so viele Menschen, und wann immer ich einen Mann sah, der auch nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Priester besaß, bekam ich es mit der Angst zu tun, ohne dass ich es verhindern konnte. Vielleicht wäre die Stadt schön gewesen, hätte ich die Mittel gehabt, sie zu genießen. Ich lebte von einem Tag zum nächsten, und von dem was ich stahl, oder mir durch ehrliche Arbeit verdiente.
Wann immer ich eines dieser leicht bekleideten Mädchen am Straßenrand auf einen Freier warten sah, wurde mir klamm ums Herz. So mochte ich auf keinen Fall enden. Und doch stand ich kurz davor, auch wenn ich es nicht wahr haben wollte. Den ganzen Sommer blieb ich in Lille. Als ich sechzehn wurde, saß ich allein in einem verlassenen Hinterhof, und dachte darüber nach, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, hätte ich mich in die Ehe mit Raymond gefügt. Geregelt, mehr oder weniger sorglos, aber bestimmt nicht glücklich. Hunger zog ich Schlägen immer noch vor. Was ich alles nicht hatte, spielte keine Rolle, denn zumindest war ich frei.

Mit der Zeit wurde mir der städtische Wirbel doch zu viel, ich begann mich hauptsächlich in ruhigeren Randgegenden aufzuhalten. Eines Tages stieß ich auf einen bunten Markt, auf dem es von den verschiedensten Nahrungsmitteln bis zu edlen Stoffen und Kleidern alles gab, was das Herz begehrte. Sehnsüchtig fiel mein Blick auf einen Stand voller köstlich duftender Bäckereien. Was hätte ich nicht für ein einfaches Croissant gegeben.
„Verschwinde! Du verscheuchst mir noch die Kundschaft“, herrschte mich der untersetzte Mann auf der anderen Seite des Standes an.
Da ich ja nicht einmal genug Geld für ein Stück Brot in der Tasche hatte, wandte ich mich von den Leckereien ab, und ging neugierig weiter. Anderswo erregte ein hübsches Kleid, schlicht aus zartgrünem Stoff, meine Aufmerksamkeit. Ich konnte nicht anders, als vorsichtig mit der flachen Hand darüber zu streichen.
„Gefällt es dir?“ Diese Stimme war sanft, sie gehörte einer kleinen alten Frau mit glänzend silberfarbenem Haar und meerblauen Augen, die mich freundlich anlächelte.
Ich nickte heftig. „Es ist wunderschön.“
„Und es würde hervorragend zur Farbe deines Haars passen.“
„Wirklich?“ Mit großen Augen sah ich das Kleid an. „Ach, ich kann es mir ja doch nicht leisten.“
Die Alte hob ein wenig die Augenbraue. „Wie es der Zufall will, könnte ich jemanden gebrauchen, der mir beim Aufräumen zur Hand geht. Die müden Knochen wollen nicht mehr so wie früher, ein Jammer ist das.“
Natürlich half ich ihr, zu zweit ging es schnell und es machte Spaß, weil wir ins Reden kamen. Ihr Name war Mélisse, sie schien ein herzensguter Mensch zu sein, wie sie leider selten waren.

Mit ein paar Münzen in der Tasche kehrte ich später zum Bäckerstand zurück. Erneut hatten es mir die Croissants angetan.
„So gut sind die gar nicht.“ Unbemerkt war Mélisse an mich heran getreten. „François ist ein alter Griesgram, und so schmeckt auch sein Gebäck.“
„Euch auch einen schönen Tag, Madame“, grummelte der beleibte Mann.
Ich musste mir ein Lachen schwer verkneifen. So wie er die Anrede betonte, war ich sicher, dass derartige Bemerkungen zwischen den beiden öfter ausgetauscht wurden.
Die alte Frau wandte sich wieder mir zu. „Es wird Zeit für mich aufzubrechen, ich habe einen sehr lange Weg vor mir. Und du musst sicher auch heim...“
„Nicht wirklich... ich habe kein zu Hause.“
„Oh, armes Ding. Hast du denn keine Familie?“
Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Mama und meine Brüder fehlten mir noch immer, ich hätte gerne gewusst wie es ihnen ging, aber inzwischen hatte ich akzeptiert, dass sie nicht mehr Teil meines Lebens waren.
„Ich auch nicht mehr, seit mein Mann vor zwei Jahren gestorben ist.“ Mélisse legte verständnisvoll die Hand auf meine Schulter.
Wahrscheinlich tat ich ihr einfach nur leid, vielleicht mochte sie mich auch irgendwie leiden. Sie bot mir an sie zu begleiten. Neben ihr auf dem Kutschbock des Einspänners kehrte ich der Stadt endlich den Rücken.