Je suis une femme von Engel aus Kristall
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 38 BewertungenKapitel Kapitel 4
Kapitel 4
Erst zwei oder drei Stunden später war das Fest offiziell zu Ende, die Gäste machten sich nach und nach auf den Heimweg. Papa war damit beschäftigt sie alle zu verabschieden, besonders mit den Messieurs d’Arlais unterhielt er sich ausgiebig. Mir konnte das nur recht sein, es gab mir Gelegenheit, mich endlich zurück zu ziehen. Ich wollte nur noch ins Bett.
Im Badezimmer zog ich mir eine Klammer nach der anderen aus dem Haar, bis es mir wieder offen über die Schultern fiel, entkleidete mich und schlüpfte in mein Nachthemd. Das schöne fliederfarbene Gewand fand ich auf einmal überhaupt nicht mehr so reizvoll.
Ein leises Klopfen an der Tür holte mich aus meinen Gedanken. Mamas Stimme bat um Einlass. Mit einem lautlosen Seufzen drehte ich den Schlüssel im Schloss herum, sodass sie den Raum betreten konnte.
„Anne, Chérie“, sagte sie. „Wie geht es dir?“
Ich wusste nicht was ich ihr antworten sollte. Im Moment erschien mir die ganze Situation absurd wie die meisten Träume, an die ich mich nach dem Aufwachen noch erinnern konnte. Mama trat hinter mich, nahm mir die Bürste aus der Hand und begann liebevoll mein Haar zu frisieren, ganz so wie sie es getan hatte, als ich noch ein kleines Mädchen gewesen war.
„Das geht alles zu schnell für dich, es tut mir so leid. Ich habe versucht mit deinem Vater das auszureden, aber du weißt ja selber wie er ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat“, fuhr sie fort, während ich weiterhin schwieg. „Versuch einfach das Beste daraus zu machen, dann erscheint es dir bestimmt nicht mehr ganz so schlimm. Und die Ehe hat auch sehr schöne Seiten, das wirst du merken, wenn du dein erstes Kind in den Armen hältst.“
Diese Worte waren zweifellos gut gemeint, doch sie heiterten mich nicht sonderlich auf. Wie konnte es schließlich erstrebenswert sein, Tag und Nacht mit einem Mann zusammen zu leben, den ich nicht mochte? Einmal hatte Mama zu mir gesagt, man könne lernen jemanden zu lieben. Ich glaubte es nicht. Papa hatte diesen Mann nach seinen Vorstellungen ausgesucht, und darin hatte ich noch nie einen Platz gehabt.
Mama drehte mich zu sich herum und drückte mich für einen Moment zärtlich an sich. „Schlaf eine Nacht darüber. Wir reden morgen weiter, wenn du willst.“
Dankbar dafür, dass sie mein Schweigen verstand und nicht verärgert war, wandte ich der großen mit Wasser gefüllten Schale vor mir zu. Es war schon lange kalt, aber ich wollte das Dienstmädchen jetzt nicht mehr darum bitten, neues einzufüllen. Schließlich ging es auch so.
Gerade suchte ich nach einem Handtuch, als die Tür abrupt aufgerissen wurde und Papas wutverzerrtes Gesicht im Rahmen auftauchte. Ich erschrak, offenbar hatte ich vergessen abzuschließen, nachdem Mama den Raum verlassen hatte.
„Wie kannst du es nur wagen, mich so zu blamieren“, keuchte er. „Du hast Raymond d’Arlais nicht umsonst eine Abfuhr erteilt!“
Bevor ich auch nur irgendwie zu reagieren vermochte, flog ich gegen den Tisch mit der Schüssel. Etwas knackte scheußlich in meiner Schulter, der Schmerz ließ mich aufstöhnen. Das Möbelstück hielt meinem Gewicht stand, und es gelang mir nach der Schale zu greifen, ehe sie hinunter glitt und unweigerlich auf dem Boden zerschellte. Das Überschwappen des Wassers konnte ich jedoch nicht verhindern.
Papas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Dummes Ding, kannst du nicht aufpassen!“ Erneut schlug er nach mir. Als er mit seinen Stiefeln in die Wasserlacke auf dem Boden trat, kam es wie es kommen musste, er rutschte aus. Mit einem Fluch fing er den Sturz ab, war fast sofort wieder auf den Beinen. Den Moment der Unaufmerksamkeit versuchte ich zu nutzen, um hinaus zu rennen, doch an ihm vorbei schaffte ich es nicht, er ergriff mich am Arm, riss mich grob zurück.
„Ich werde Raymond niemals heiraten! Nie!“ hörte ich auf einmal mich selbst schreien. Dass ich ihn damit nur noch mehr aufregte, war mir egal. Zum ersten Mal schaffte ich es ihm wirklich zu widersprechen, und trotz dem was folgte, war es ein sehr gutes Gefühl.
Als ich später endlich in meinem Bett lag, konnte ich mich kaum rühren, ohne dass eine Welle der Pein meinen Körper durchflutete. Aber ob es das auch wert gewesen war? Er hatte endlich erkannt, dass ich keines seiner Pferde war, die er einfach brechen konnte, auch wenn er es immer wieder versuchte. Als Strafe für meinen Widerstand hatte er mich mit dem breiten Lederriemen verprügelt, der eigentlich zum Messer schleifen gedacht war.
Die Striemen auf meinem Rücken brannten auch am nächsten Morgen noch furchtbar. Ich war wie gerädert, hatte kaum Schlaf gefunden. Meine Tür stand einen Spalt breit offen und ich konnte die Geräusche des Familienfrühstücks aus der Stube hören. Zwar knurrte mir der Magen, doch Papa wollte ich auf keinen Fall unter die Augen treten. So schloss ich lediglich die Tür und ging wieder ins Bett.
Ich wusste nicht, ob eine oder drei Stunden vergangen waren, als irgendwann jemand herein kam. Es war nicht Papa, um das zu erkennen, brauchte ich nicht einmal aufzusehen.
„Anne, schläfst du?“ fragte Etienne leise, während er sich dem Bett näherte. Ein wohltuender Duft stieg mir in die Nase, veranlasste mich dazu, mich aufzurichten. Er hatte mir Frühstück mitgebracht. Auf dem Teller waren ein Buttercroissant, sowie etwas Käse und Obst. Dankbar biss ich in das Gebäck.
„Effienne, du biff ein Faff“, murmelte ich kauend. Beim Geschmack des Essens spürte ich schlagartig wieder wie hungrig ich eigentlich war.
Mein Bruder musste lachen. „Vergiss nicht aufs Schlucken, sonst verstehe ich kein Wort.“
„Ich sagte du bist ein Schatz“, wiederholte ich kichernd. Einen Augenblick später verzog ich allerdings das Gesicht, weil ich äußerst schmerzhaft an die Begegnung mit dem Schleifriemen erinnert wurde.
„Stimmt etwas nicht?“ Etienne sah mich prüfend an. Er gab nicht nach, bis ich ihm erzählt hatte, was vorgefallen war. Damit war die gute Stimmung dahin.
Als ich mit dem Essen fertig war, versorgte Etienne die Striemen auf meinem Rücken. Es brannte heftig, doch ich versuchte still zu halten. Wenn er der Meinung war es half, vertraute ich ihm.
Er seufzte leise. „Ich verstehe zwar nicht, warum Papa immer so gemein zu dir ist, aber du hättest ihm nicht widersprechen sollen.“
„Wieso nicht?“ fragte ich schlicht. „Was gibt ihm das Recht über mein Leben zu bestimmen?“
„Die Tatsache, dass er dein Vater ist. Frauen müssen ihren Männern gehorchen und Töchter ihren Vätern. So ist das eben, so war es schon immer.“
Das konnte ich nicht verstehen. Mir fiel kein Grund ein, der ein Mädchen weniger wertvoll machte als einen Jungen. Beide hatten doch ihre Vorzüge, oder etwa nicht?
„Etienne? Würdest du denn deine Frau oder deine Tochter jemals schlagen?“
Darauf erwiderte er nichts, und dieses Mal verzichtete ich darauf weiter zu bohren. Vielleicht würde er mir meine Frage zu einem anderen Zeitpunkt beantworten. Wir sprachen jedoch über viele andere Dinge, er gestand mir sogar, dass er sich verliebt hatte und über die Ehe nachdachte. Pascal, der ältere meiner Brüder war schon seit einem Jahr verheiratet.
Nach ein paar Tagen ging es mir auch dieses Mal wieder gut. Bei der nächsten Gelegenheit versuchte ich am Weiher Michel zu treffen, doch er war nie dort. Zum Glück wurde ich oft genug ins Dorf geschickt, meistens am Markttag. In der Bäckerei seiner Eltern konnte ich kurz mit ihm sprechen. Sein Vater war krank, deswegen musste er jeden Tag helfen. Für eine längere Unterhaltung reichte weder Zeit, noch war dies der passende Ort. Michel war der einzige, mit dem ich über alles reden konnte. Auch über Politik hatten wir schon gesprochen. Ich fand es durchaus interessant, was im Land so vorging. Leider erfuhr ich außer durch meinen besten Freund nichts davon, denn Frauen hatten sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.
Der nahende Winter schüttelte nach und nach die letzten goldbraun verfärbten Blätter von den Bäumen. Kahl standen sie da, bis eine dicke weiße Schneedecke Äste, Felder, Weingärten und Häuser bedeckte. Einzig die schwarz gefiederten Leiber der Krähen, die auf den Feldern nach Nahrung pickten, bildeten einen scharfen Kontrast. Obwohl ich ein Kind des Sommers war, liebte ich Winter und Schnee. Oder vielleicht gerade deswegen. Gerne wäre ich den ganzen Tag im Freien geblieben, um ausgedehnte Streifzüge durch die in der Sonne wie in Zauberlicht gehüllte Landschaft zu unternehmen.
Die Stimmung daheim war gedrückter als sonst. Zu dieser Jahreszeit hatte Papa nichts mit dem Weinbau zu tun und langweilte sich. Mamas Lächeln wurde dann auch immer seltener. Um Papa keinen Anlass zu geben böse mit mir zu sein, war ich stets pünktlich zu Hause. Doch er fand immer etwas, und waren es nur eine Hand voll in der Küche gesammelter Essensreste, die ich an die Krähen verfütterte.
Mit der Zeit begann ich mich zu fragen, ob die Ehe wirklich eine so schlechte Wahl war. Immerhin wäre ich dann endlich fort aus meinem Elternhaus und damit außerhalb von Papas Reichweite. Allerdings wusste ich noch immer nicht was ich von Raymond halten sollte. Wir waren uns erst einmal begegnet und im Grunde kannte ich ihn nicht. Vielleicht täuschte der erste Eindruck ja.