Je suis une femme von Engel aus Kristall

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Kapitel Kapitel 5

Kapitel 5


Als sich die kalte Jahreszeit dem Ende neigte, bekam ich Gelegenheit meine Ansicht von dem jungen Mann, dem ich versprochen war, von Grund auf zu revidieren. Eines Morgens beim gemeinsamen Frühstück in der holzgetäfelten Stube bedachte Papa mich mit einem langen prüfenden Blick.
„Mach dich heute Abend hübsch, die Messieurs d’Arlais kommen zum Essen“, ordnete er an.
Ich nickte nur. Inzwischen hatte ich endgültig beschlossen Raymond eine Chance zu geben. Vielleicht behielt Mama am Ende doch recht und ich konnte lernen ihn zu lieben. Die Zeit selbst würde die Antwort geben.

Etienne und ich saßen auf dem hellbraunen Kuhfell vor dem Kamin, während wir auf die Ankunft von Papas Freund und dessen Sohn warteten. Das Geräusch von Pferdehufen vor dem Haus sagte uns schließlich, dass die Gäste angekommen waren und wir gingen gemeinsam in den Vorraum, um sie zu begrüßen.
Ich hielt mich Raymond gegenüber an meinen Vorsatz. Beim Dîner erlebte ich ihn als höflich und wohlerzogen, jedoch das Dienstmädchen behandelte er äußerst herablassend. Mein Freund Michel hatte mir einmal geraten, wenn ich wissen wollte, welch ein Mensch jemand war, darauf zu achten, wie er mit Untergebenen umging. Auf diese Weise erfuhr ich einiges von meinem Gegenüber.

Nach dem Essen bat Raymond mich zum Spaziergang draußen. Obwohl er mich höflich fragte, zeigte mir Papas Blick auf, dass ich keine Wahl hatte. Ich hakte mich bei dem jungen Mann ein, ließ mich von ihm ins Freie geleiten. Sobald wir allein waren, befreite ich meinen Arm schnell wieder.
Raymond hob sichtlich amüsiert die Augenbraue. „Immer noch so zickig? Jetzt stell dich doch nicht so an, ich bin nicht giftig.“
Wer weiß, dachte ich bei mir, hielt jedoch den Mund. Seine plötzliche Vertrautheit in der Anrede widerstrebte mir. Für eine Weile sagte keiner etwas. Ich kam zu dem Schluss, dass ich die direkte Konfrontation suchen musste, wenn ich einen Eindruck davon bekommen wollte, wer dieser Mann eigentlich war.

„Der Winter ist heuer hart“, begann er unvermittelt. „Ich mag diese Jahreszeit nicht, es ist viel zu kalt.“
„Ich schon. Die Landschaft ist wundervoll, wenn sie von frisch gefallenem Schnee bedeckt ist.“
Sein irritierter Blick verriet mir, dass er mit einer solchen Antwort nicht im Mindesten hatte. Ich verkniff mir ein Grinsen.
„Dein Vater erwähnte, du wärst im Sommer geboren. Seltsame Einstellung für ein Kind der warmen Jahreszeit. Ich kam im Frühling zur Welt.“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es war Spätsommer um genau zu sein. Und von meiner Mutter weiß ich, dass der Winter in diesem Jahr früh kam. Vielleicht hängt es ja damit zusammen.“
„Na ja, nicht so wichtig... Das Dîner war gut, oder?“ Als ich nicht reagierte, sah er mich von der Seite her an. „He, ich rede mit dir?“
„Über solche Belanglosigkeiten wie das Wetter oder das Abendessen zu sprechen, langweilt mich ein wenig, wenn ich ehrlich sein darf...“
Ein undeutbares Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ach so ist das. Dann möge Mademoiselle ein Thema beginnen.“
Erneut musste ich ein Kichern unterdrücken. Genau darauf hatte ich hinaus gewollt. Das war leicht gewesen. „Hm... du könntest mir zum Beispiel davon erzählen, was du von den letzten Erlässen unseres Königs hältst?“
Verblüfft sah er mich an. „Bitte was? Du solltest deinen hübschen Kopf nicht mit Dingen voll stopfen, die zu hoch für ihn sind. Politik ist für eine Frau genauso unnütz wie lesen und schreiben.“
„Ich kann lesen und schreiben!“ zischte ich mit zusammen gebissenen Zähnen. Pascal und Etienne hatten es mich hinter Papas Rücken gelehrt, weil Mama es sich gewünscht hatte. Sie bedauerte oft es selbst nicht zu können.
Raymonds Augenbrauen zogen sich zusammen. Er grinste jetzt nicht mehr so unsagbar arrogant und überlegen. „Wenn du erst einmal meine Frau bist, ist sofort Schluss mit solchem Unsinn! Dafür wirst du sowieso keine Zeit haben, schließlich musst du dich dann um unsere Kinder kümmern.“ Er sah mich prüfend an. „Du wirst gesunde Söhne auf die Welt bringen.“

Das war alles wofür ich in seinen Augen zu gebrauchen war. Eine Zuchtstute, die nur ihren Wert hatte, solange sie erstklassige Fohlen werfen konnte. Damit hatte er mir deutlich gemacht, was mich in einer Ehe mit ihm erwartete. Und ich wusste jetzt, dass ich niemals lernen würde diesen Mann zu lieben. Für ihn war mein einziger Zweck ihm Gehorsam zu leisten. Er war wie mein Vater.
„Oder Töchter“, stieß ich bitter hervor.
„Nun, passieren kann das....“ Er blieb stehen, hielt mich dabei am Arm zurück. Seine Finger strichen über mein langes Haar. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es mich anwiderte von ihm berührt zu werden. „Du hast eine ganz außergewöhnliche Haarfarbe.“
„Mir ist kalt, ich möchte wieder hinein gehen.“ Zugegeben, es gab viele Orte, an denen ich mich lieber aufgehalten hätte, als in der Stube, wo Papa war. Doch allein mit Raymond hier draußen bleiben wollte ich noch weniger.
„Fast wäre ich ja geneigt zu glauben du magst mich nicht. Zu schade. Aber das ändert nichts daran, dass du mir versprochen bist. Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen müssen.“
Ich schwieg beharrlich. Dass ich mich hartnäckig wegdrehte, als er versuchte mich zu küssen, ließ ihn amüsiert auflachen. „Ach schau an, wir haben hier einen richtigen Wildfang, der erst noch gezähmt werden will.“
„Für was hältst du dich eigentlich?“ rief ich plötzlich voller Wut aus. „Ich bin ein Mensch wie du und kein Pferd, das du besitzen und über das du bestimmen kannst, wie es dir beliebt!“
Er packte mich daraufhin grob am Kinn, zwang mich ihn anzusehen, „Du kleine... Dir treibe deinen Widerwillen schon noch aus. Ich erwarte Gehorsam von meiner Frau, schreib dir das hinter die Ohren, Anne!“

Nun ließ er mich zumindest in Ruhe, sah mich nicht einmal an. Ich verstand zwar nicht, was er mit seinem und meinem Vater besprach, doch dann streifte mich ein kalter Blick Papas. So lange die Messieurs d’Arlais bei uns weilten, konnte er jedoch nichts weiter machen. Als er die Besucher ausgiebig verabschiedete, nützte ich die Gelegenheit mich oben in meinem Zimmer einzuschließen. Natürlich hatte ich keinen Schlüssel, so verbarrikadierte ich die Tür so gut es ging mit einem Stuhl.
Spätestens als ich Papa die Stufen nach oben poltern hörte, erkannte ich, dass ich den Schlägen auch dieses Mal nicht entgehen würde. Das Holz des Sitzmöbels gab leicht nach. Im selben Moment als ich das Splittern hörte, flog die Tür auf.

Meine Vermählung mit Raymond würde im Frühling stattfinden, eine Woche nach dem einundzwanzigsten Geburtstag meines Bräutigams. Mama versuchte das eine oder andere Mal mir die Ehe doch noch schmackhaft zu machen, indem sie mir von den Freuden der Mutterschaft erzählte und mir versicherte, dass das für alle Opfer entschädigte, die die Ehe abverlangte.
Je näher der Tag rückte, desto weniger vermochten mich ihre Worte zu trösten. Ich hatte das Gefühl trotz meiner fünfzehn Jahre schon das Ende erreicht zu haben. Nicht das meines Lebens, aber das aller Träume, die ich im Herzen trug. Nicht mehr für das bestraft zu werden, was ich war. Jemanden zu finden, der mich bedingungslos liebte, und dem ich mein Herz gerne schenkte.

Nicht einmal einen Monat vor der Hochzeit fasste ich einen Entschluss. Was hatte ich schon zu verlieren? Ich packte ein paar Sachen zusammen, stahl einige Nahrungsmittel aus der Küche. In der Nacht wartete ich in meinem Zimmer bis alle tief und fest schliefen. Als die Kirchenglocke im Dorf dumpf Mitternacht schlug, schlich ich mich hinaus. Einmal knarrte die Treppe laut unter meinen Füßen, doch zum Glück schien es niemand außer mir selbst gehört zu haben. Auf Zehenspitzen tappte ich durch den Vorraum. Die Eingangstür war natürlich versperrt, weswegen ich mich sofort Richtung Küche wandte, um dort durch eines der Fenster zu klettern.
Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr erschrocken herum, unterdrückte gerade noch einen leisen Aufschrei. Hinter mir stand jedoch nicht Papa, sondern Etienne, der mich verwundert ansah.

„Anne, wo willst du denn um diese Nachtzeit hin?“ flüsterte er ganz leise. Offenbar lag ihm auch nichts daran entdeckt zu werden.
„Ich ähm... Moment, das Gleiche könnte ich dich fragen.“ Ich hoffte, dass er mein Bündel nicht bemerkt hatte, denn wenn doch brauchte er nur zwei und zwei zusammen zu zählen. Im schwachen Mondlicht, das durchs Fenster herein fiel, sah ich, dass er rot wurde.
„Nun ja, also...“ stotterte er. „Meine Freundin besuchen.“
Beinahe musste ich lachen, doch ob des Ernstes meiner Lage verkniff ich es mir. Sein Blick war auf meine zusammen gepackten Habseligkeiten gefallen und er begriff was ich zu tun beabsichtigte.
„Du willst weglaufen, oder?“
Ich nickte leicht. „Ich kann Raymond nicht heiraten, lieber würde ich sterben...“ Natürlich erwartete ich nicht, dass er das verstand, er war ein Mann. Einer, den mein Vater groß gezogen hatte. „Bitte verrat mich nicht, Etienne.“
Er legte seine Hand auf meine. „Das werde ich nicht, kleine Schwester. Komm mit, bevor uns doch noch jemand hört.“
Wortlos folgte ich ihm durchs Fenster hinaus ins Freie. Er holte rasch sein Pferd aus dem Stall und nahm mich bis zum Dorf mit, weil er nicht wollte, dass ich allein durch den nächtlichen Wald irrte.

Als die ersten schattenhaften Häuser zu erkennen waren, setzte er mich ab. Er drückte mich kurz an sich. „Viel Glück, Anne. Pass bloß auf dich auf. Vor allem, dass Papa dich nicht erwischt. Er wird dich suchen.“
„Das werde ich. Grüß bitte Mama und Pascal von mir.“
Für einen Moment nahm er meine Hand und als er sie wieder losließ, spürte ich darin etwas festes Kühles. Es waren ein paar Münzen. Dankbar lächelte ich ihn an. Dann schwang er sich auf seinen Braunen und ritt davon.
Jetzt war ich auf mich gestellt. Ich wusste, dass Etienne Wort halten und mich nicht verraten würde. Was Papa mit mir anstellte, wenn er mich fand, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Dass er keine Hemmungen hatte mich zu prügeln bis ich tot war, bezweifelte ich nicht. Darum musste ich jetzt noch so weit wie möglich gehen und ein gutes Versteck suchen, wenn der nächste Tag anbrach.