La Rochelle von Rochefort

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Kapitel Schlaflos

Der Stadtrichter und Ratsherr Edouard Audebert saß mitten in der Nacht in der Küche seines Hauses und starrte in das leise flackernde Licht einer Kerze, die er aus seinem Schlafzimmer mitgebracht hatte. Der Hunger und die Sorge raubten ihm den Schlaf. Eigentlich hatte er sich ein kleines Stück von dem Rest harten Brotes nehmen wollen, das auf den fast schon geähnend leeren Regalen in der Vorratskammer lag, doch dann hatte er es doch nicht getan. Wenn man das Brot in Wasser aufweichte, konnte man daraus noch Brei für die kleine Colette machen...

Zum weiß Gott wievielten Male fragte er sich, ob er richtig handelte. War es nicht trotz allem Verrat an seinen Glaubensbrüdern, was er hier tat? Müsste er nicht doch Bürgermeister Guiton unterstützen in den Durchhalteparolen und dem unverrückbaren Entschluss, keinen Fußbreit nachzugeben gegenüber den Forderungen des Königs und des Kardinals und deren Truppen draußen vor den Mauern? Doch wie weit sollten Stolz und Standhaftigkeit gehen? Bis die Hälfte und mehr aller Bewohner von La Rochelle verhungert waren? War es tatsächlich Gottes Wille, dass sie alle zu Märtyrern für den hugenottischen Glauben wurden? Und ging es denn in erster Linie überhaupt um den Glauben oder nicht vielmehr um einen politischen Machtkampf? War La Rochelle nicht in erster Linie eine französische Stadt und Louis XIII. ihr Herr und König, dem alle Bürger des Landes, Katholiken wie Protestanten, Gehorsam schuldig waren? Er erinnerte sich daran, wie er diese Fragen leidenschaftlich mit seiner Frau Jacqueline diskutiert hatte, als in ihm der Entschluss herangereift war, sich gegen den Kurs von Jean Guiton zu stellen und auf eigene Faust etwas zu unternehmen um diesen schrecklichen Konflikt zu beenden. Zuerst hatte Jacqueline entsetzt abgewehrt. Das Risiko sei viel zu hoch, ein solches Hasardspiel könne ihn und die ganze Familie das Leben kosten. „Doch was ist die Alternative?“ hatte er dagegen gehalten. „Dass wir alle elendiglich verhungern, dass wir abgeschlachtet werden, wenn die Königlichen die Stadt im Sturm nehmen, oder dass Louis ein Exempel statuieren und alle Bürger, die sich ihm so hochmütig widersetzt haben, hinrichten lässt? Ich sehe keinen anderen Weg, der mir noch Hoffnung gibt.“ Dass von den Engländern doch noch kriegsentscheidende Hilfe kommen würde, glaubte er nicht mehr, auch wenn sich viele in der Stadt an diesen Strohhalm klammerten.

Audebert war nicht der Einzige, der dem fanatischen Widerstand des Bürgermeisters gegegen den König nichts mehr abgewinnen konnte. In den letzten Wochen war es sogar schon zu Anschlägen sowohl gegen Guiton loyale Ratsherren als auch gegen die eigenen Wachmannschaften auf den Mauern gekommen und die Zahl der Überläufer mehrte sich ständig. Doch feige Flucht oder gar heimtückische Angriffe auf das Leben von Bürgern seiner eigenen Stadt kamen für Edouard nicht in Frage. Andererseits – konnte er seinen Amtskollegen im Rat wirklich guten Gewissens vorschlagen, die Kapitulation der Stadt anzubieten? Die Mehrzahl der Menschen hier lebte in geradzu abergläubischer Furcht davor, was der König und seine Truppen und mehr noch, was der „rachsüchtige und gottlose Kardinal“, der die Armee persönlich befehligte, mit ihnen anstellen würden, wenn La Rochelle aufgab und seine Tore öffnete. Besonders über die gnadenlose Härte Richelieus wurden täglich neue Schauergeschichten erzählt und Edouard wurde den Verdacht nicht los, dass ein Gutteil dieser Greuelpropaganda von Guiton selbst in Umlauf gebracht wurde. Aber waren es wirklich nur Schauermärchen? Audebert wusste, es gab da draußen einen Mann, der ihm darauf – vielleicht – eine Antwort geben konnte ...

Als seine Frau Jacqueline schließlich doch nachgegeben hatte und ihn gehen ließ, hatte er sich eines Abends nach Einbruch der Dunkelheit durch den geheimen Tunnel davongeschlichen, war mit einigem Glück ungesehen durch die Sümpfe vor der Stadt bis in die Nähe des königlichen Feldlagers gelangt und hatte sich dort im Schutz einer Hecke verborgen. Wenn er, wie alle wehrfähigen Bürger von La Rochelle, Wachdienst auf den Mauern versah, hatte er schon mehrfach beobachten können, dass abends ein einzelner schwarz gekleideter Reiter einen Kontrollritt um das Lager und bis zu dem im Winter errichteten Damm, welcher die Stadt vom offenen Meer abschnitt, unternahm. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann war dieser Mann Rochefort. Er wartete in seinem Versteck und hoffte. Einmal kam eine Patrouille von königlichen Musketieren bis in seine unmittelbare Nähe und er wagte kaum noch zu atmen. Dann wurde es wieder ruhig bis auf die leisen Stimmen und Geräusche, die gedämpft aus der feindlichen Zeltstadt herüber drangen. Als er schon kurz davor war resigniert aufzugeben, vernahm er plötzlich den näherkommenden Hufschlag eines im Schritt gehenden Pferdes. Vorsichtig spähte er zwischen den Zweigen hervor; aufgrund der Dunkelheit war das Gesicht des Reiters nicht wirklich zu erkennen – er konnte nur beten, dass er sich nicht irrte und den Richtigen ansprach.

In dem Moment blieb das Pferd aprupt stehen, starrte in seine Richtung und schnaubte alarmiert. Augenblicklich hob sein Reiter die Pistole, die er in der Hand gehalten hatte. „Armand?“ rief Audebert leise und hastig. „Wer ist da?“ kam die vorsichtige Frage zurück. „Edouard Audebert.“

„Edouard!“ Nun hatte der Graf seinen Freund an der Stimme erkannt. „Seid Ihr verrückt? Ich hätte Euch erschießen können!“

„Ich muss mit Euch reden.“

Rochefort blickte sich wachsam um, dann glitt er aus dem Sattel. Der Stadtrichter und der Stallmeister des Kardinals umarmten sich kurz, während letzterer, nun mit deutlicher Besorgnis in der Stimme, flüsterte: „Das war verdammt riskant, hierher zu kommen. Was ist passiert?“

„Armand, die Menschen in der Stadt verhungern! Vor allem die Ärmeren sterben wie die Fliegen. Ich möchte irgendetwas dazu beitragen diesen Wahnsinn zu beenden. Aber der Bürgermeister denkt nicht ans Einlenken und die Mehrheit steht immer noch hinter ihm, weil die meisten glauben, dass Euer Kardinal alle umbringen lassen wird, wenn er die Stadt einnimmt. Ich weiß nicht, ob Guiton Recht hat. Ich weiß nicht, was ich tun oder wozu ich raten soll“, sprudelte es verzweifelt aus Edouard heraus.

„Pssst, leise! Hier können wir nicht reden. Wenn man Euch entdeckt, bin ich nicht sicher, ob ich verhindern kann, dass man Euch verhaftet und peinlich befragt, um an Informationen zu kommen.“ Während Rochefort überlegte, wohin sie sich zurückziehen könnten, schien sein Freund mit einer Entscheidung zu ringen, starrte mit gequälter Miene in die Dunkelheit. Dann sagte er plötzlich: „Wenn Ihr mir Euer Wort gebt alles in Eurer Macht Stehende zu tun, dass diese Belagerung nicht in einem Blutbad endet, dann zeige ich Euch einen Weg in die Stadt.“ Überrascht sah der Graf dem Stadtrichter in die Augen. Dieser wusste nicht recht, wie er den durchdringenden Blick deuten sollte. „Es ist keine Falle, ich schwör’s.“

Armand wusste, dass Edouard ihn unter normalen Umständen niemals verraten würde. Aber die Umstände hier waren nicht normal und sein Freund hatte mittlerweile eine kleine Tochter. Würde ein verzweifelter Familienvater nicht alles tun, um die Seinen zu retten? Rochefort schob die Logik beiseite und folgte seinem Instinkt. „Ich verspreche Euch, alles zu tun, was in meiner Macht steht.“ Ein Gemetzel an wehrlosen Zivilisten gehörte zu den allerletzten Dingen, denen er etwas abgewinnen konnte.

„Ich muss das Pferd wegbringen und Bescheid geben, dass ich länger ausbleibe. Versteckt Euch wieder.“ Mit diesen Worten schwang sich Rochefort in den Sattel und entschwand in flottem Trab in Richtung des Lagers. Edouard duckte sich zwischen die Zweige der Hecke. „Vertraue ihm nicht blind. Du hast ihn in den letzten Jahren nur selten gesehen – ein Mensch kann sich verändern“, hatte seine Frau Jacqueline ihn gewarnt, bevor er gegangen war. Was, wenn Armand mit Soldaten zurückkommen würde um ihn festzunehmen? „Unsinn!“ verbot er sich im nächsten Moment derartige Gedanken. „Das hätte er gar nicht nötig. Er hätte Dich auch alleine überwältigen können.“ Das Warten schien sich ewig in die Länge zu ziehen. Da – leise Schritte! Eine Gestalt näherte sich. Edouard atmete auf. Armand war alleine. Und das Glück war ihm weiterhin gewogen geblieben. Ohne Zwischenfälle hatten sie das Sumpfgebiet durchquert und waren ungesehen durch den Geheimgang in die Stadt und bis zu seinem Haus gelangt. Und dort hatten sie geredet und geredet und geredet ... bis Rochefort hatte wieder aufbrechen müssen, um noch vor dem Morgengrauen aus La Rochelle heraus zu kommen.

Rund zwei Wochen waren seitdem vergangen. Das Gespräch damals hatte ihm für kurze Zeit wieder etwas Zuversicht gegeben, doch mittlerweile musste er sich eingestehen, dass dieser Funke der Hoffnung in ihm von Tag zu Tag schwächer wurde. Konnte es denn wirklich sein, dass Menschen so blind und verbohrt waren in ihrem Fanatismus, dass sie sehenden Auges ...

Geräusche vom Flur rissen den Stadtrichter aus seinen Gedanken. Da war jemand! Aber Frau und Kind schliefen im oberen Stockwerk... Rasch erhob er sich und sah sich nach etwas um, was man als Waffe benutzen konnte. Es kam immer wieder zu Plünderungsversuchen; halbverhungerte Stadtbewohner brachen aus Verzweiflung in Häuser ihrer Nachbarn ein in der Hoffnung, etwas Essbares stehlen zu können. Einen Atemzug später klopfte es kurz an die angelehnte Küchentür, dann wurde diese aufgestoßen. Ein Mann in schmutziger, durchnässter Kleidung stand auf der Schwelle, einen langen dunklen Mantel über dem einen Arm und in der anderen Hand einen großen ledernen Sack, den er gerade hatte von der Schulter gleiten lassen. Edourds Augen weiteten sich in freudiger Überraschung: „Armand!“