La Rochelle von Rochefort

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Kapitel Hoffnung

„Ihr habt es tatsächlich geschafft!"

„Ich sagte doch, ich komme wieder." Ein Lächeln glitt über Rocheforts Gesicht. „Und ich habe einiges für Euch mitgebracht." Er stellte den großen Beutel auf den Küchentisch, schnürte ihn auf und begann ihn auszuräumen. Bald stapelten sich vor ihm Brot, Zwieback, geräucherte Würste, Hartkäse, Speck, leinerne Säckchen mit Mehl und Grieß, aber auch etwas frisches Obst und Gemüse und sogar ein Trinkschlauch mit Milch und ein wenig Naschwerk.

„Das ist ... Armand ... ich weiß nicht, wie ich Euch dafür danken soll...", suchte der Stadtrichter nach Worten, fassungslos vor Freude. In diesem Augenblick trat noch jemand durch die Küchentür: Jacqueline, einen langen Wollumhang über dem Nachtgewand, das schlafende Töchterchen auf dem Arm. Ihr Blick wanderte zuerst zu dem nächstlichen Besucher und ihrem Gatten, dann weiter zu den Nahrungsmitteln auf dem Tisch. Madame Audebert war dem Stallmeister des Kardinals gegenüber bisher etwas reserviert gewesen, hatte nicht recht gewusst, wie sie den Mann einschätzen sollte, über den mehr als genug beunruhigende Gerüchte in Umlauf waren, doch in diesem Moment überwältigte sie die Emotion. In ihrem Gesicht zuckte es verdächtig, als sie mit einem raschen Schritt auf den Grafen zutrat und dessen Rechte mit ihrer freien Hand ergriff. „Monsieur le Comte, Gott möge Euch Eure Güte vergelten. Das", sie wies mit dem Kinn ihn Richtung der Speisen, „rettet unserer Colette das Leben. Die Kleine ist schon so geschwächt...". Ihre Stimme drohte zu brechen.

„Schon gut", wehrte Rochefort ab, fast ein wenig verlegen. „Das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich wünschte, ich könnte mehr tun."

Währende Madame Audebert begann, eine Mahlzeit für ihre Tochter zuzubereiten, zog der Stadtrichter einen Stuhl heran und bat seinen Jugendfreund Platz zu nehmen. Ihn drängte es zu erfahren, was Rochefort zu berichten hatte. Dieser schnürte nun sein Lederwams auf und holte darunter mehrere Packen Flugblätter hervor. „Hier. Seine Eminenz war mit dem Plan einverstanden. Vielleicht erreichen wir damit ja etwas." In dem gedruckten Text wurden die Bürger von La Rochelle aufgefordert, ihren Widerstand aufzugeben und sich der Gnade des Königs zu überantworten. Im Falle, dass die Stadt sich ergab, würde der Souverän Milde walten lassen. Auch dass ihre persönliche Glaubensfreiheit unangetastet bliebe, wurde den Bewohnern von La Rochelle zugesichert.

Nachdem Edouard das Geschriebene überflogen hatte, richtete er seinen ernsten Blick wieder auf den Grafen: „Und werden diese Garantien auch wirklich eingehalten werden? Habt Ihr den Kardinal darauf angesprochen?"

Armand nickte. „Richelieu will kein Blutbad und er wird seinen ganzen Einfluss geltend machen, damit es nicht dazu kommt. Immerhin hat ihm der König den Oberbefehl über die Truppen vor La Rochelle übertragen. Was auch immer an Schauergeschichten über den Kardinal in Umlauf gebracht wird – der allergrößte Teil davon ist erstunken und erlogen!" Die letzten Worte hatte der Stallmeister Seiner Eminenz ungewohnt heftig hervorgestoßen und auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte des Unmutes gebildet. „Er ist weder der Teufel in Menschengestalt, noch empfindet er Freude an Grausamkeiten. Es ist nur so, dass er sich Gutmütigkeit oft nicht erlauben kann, dass sein Rang als Erster Minister und sein Ziel, die Autorität des Königs zu stärken, in so mancher Situation Unnachgiebigkeit und Härte fordern. Seine Gegner bei Hofe lauern nur darauf, beim geringsten Anzeichen von Schwäche über ihn herzufallen wie ein Rudel Bluthunde."

„Ihr mögt ihn sehr", stellte der Stadtrichter fast ein wenig erstaunt fest. Richelieu hatte er sich immer als jemanden vorgestellt, der in den Menschen wohl großen Respekt aber nicht unbedingt Zuneigung zu erwecken vermochte.

„Ja", bestätigte Rochefort schlicht.

Edouard schwieg einige Atemzüge lang nachdenklich, um dann eine weitere Frage zu stellen: „Und wenn Guiton und die Mehrheit des Rates weiterhin stur bleiben? Wenn es zum Äußerten kommen und die Stadt im Sturm eingenommen werden sollte? Wird La Rochelle dann zur Plünderung freigegeben werden? Wird man alle töten, deren man habhaft werden kann – das heißt", fügte er mit bitterem Sarkasmus hinzu, „alle, die bis dahin nicht sowieso verhungert sind?"

Der Agent des Kardinals schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist nichts dergleichen geplant. La Rochelle soll weder zerstört noch seine Bevölkerung ausgelöscht werden. Man wird veranlassen, dass die Befestigungswerke geschleift werden und ich kann natürlich nicht versprechen, dass nicht einige der Anführer des Aufstandes ihre Köpfe verlieren werden." Er hielt kurz inne. „Das Problem in diesem Falle wäre eher, dass niemand voraussehen kann, wie sehr die Situation eskaliert. Ihr kennt sicher Berichte aus dem Großen Krieg in Deutschland, wie es ist, wenn Soldaten einmal „von der Leine gelassen" sind. Wenn sich der Blutrausch Bahn bricht, werden Menschen zu Bestien und selbst der verantwortungsvollste Befehlshaber kann dann ein Gemetzel oft nicht mehr verhindern. Deshalb", schloss er mit Bestimmtheit, „darf es erst gar nicht soweit kommen."

Audebert gab sich einen Ruck und versuchte die nagenden Zweifel zu verdrängen. Es half schließlich niemandem, wenn er sich unentwegt Schreckensszenarien ausmalte. „Ihr habt Recht. Ich werde dazu beitragen, was ich kann. Ich werde am besten noch heute Nacht mit der Verteilung der Flugblätter beginnen."

„Ich komme mit", erwiderte der Graf. „Wir sollten gemeinsam gehen."

„Edouard!" Jacquelines Stimme klang besorgt. „Dir ist bewusst, dass Du als Verräter am Galgen landest, wenn sie Dich erwischen? Und mit einem Spion des Kardinals werden sie erst recht nicht viel Federlesens machen."

„Ich mache sowas nicht zum ersten Mal", hielt Rochefort dagegen. „Aber", meinte er dann, indem er sich seinem Freund zuwandte, „Eure Frau hat recht. Ihr solltet Euch nicht dieser Gefahr aussetzen. Es wird besser sein, wenn ich das Verteilen alleine übernehme."

Der Stadtrichter prostestierte: „Das kommt gar nicht in Frage! Ihr habt schon genug für uns riskiert. Und außerdem muss ich Euch doch zeigen, wo es überhaupt Sinn macht, die Flugblätter zu deponieren, sprich, wo Leute wohnen, die für die Botschaft eventuell empfänglich sind." Gegen dieses Argument war freilich schwer etwas einzuwenden. Armand gab sich geschlagen. „Also gut. Dann sollten wir aber sogleich aufbrechen. Die Nacht ist schon recht weit fortgeschritten." An Audeberts Gemahlin gewandt fügte er hinzu: „Ich verspreche Euch, dass wir vorsichtig sein werden." In Jacquelines Blick stand zu lesen, dass sie diese Zusicherung nur wenig beruhigte, aber sie sagte nichts mehr.

In ihre Mäntel gehüllt, unter denen sie die Flugblätter verbargen, verließen sie beiden Männer wenig später das Haus. Eine gespenstische Stille lag über der nächtlichen Stadt, nicht einmal Ratten kreuzten ihren Weg. Offenbar waren selbst diese nahezu unausrottbaren Nager bereits zur Gänze von den hungernden Menschen gefangen und verspeist worden. Der Stadtrichter dirigierte seinen Freund zu den Häusern, wo er die Botschaften deponieren wollte; sie schoben die Zettel unter Türspalten hindurch, klemmten sie zwischen Fensterläden oder hinter Türklinken und hefteten sie auch an die Kirchentüren, das Portal des Rathauses und die Eingänge anderer öffentlicher Gebäude. Sie bewegten sich dabei mit äußerster Vorsicht, so leise wie möglich und ständig angespannt lauschend, um nicht einer Soldatenpatrouille in die Arme zu laufen. Rochefort verließ sich auf seinen Instinkt, änderte manchmal auch spontan die eingeschlagene Richtung, wenn ihm sein Gefühl sagte, dass sie einen bestimmten Straßenzug besser meiden sollten.

Schließlich hatten sie alle Flugblätter verteilt und befanden sich bereits auf dem Rückweg zum Haus des Stadtrichters, als sie jäher Lärm am anderen Ende der Gasse zusammenfahren ließ. „Halt! Bleibt sofort stehen!" brüllte eine barsche Stimme, Waffen wurden aus der Scheide gezogen, dann hastig rennende Schritte. Der Graf warf einen Blick in die Richtung, packte Audebert am Arm und zerrte ihn blitzschnell in das tiefe Dunkel einer Toreinfahrt neben ihnen.

„Wenn sie uns hier entdecken, sitzen wir in der Falle", wisperte der Stadtrichter mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

„Pssst", zischte sein Freund, „die sind nicht hinter uns her."

Wenige Augenblicke später stürmten vier zerlumpte Gestalten an ihnen vorbei die Gasse entlang, dicht gefolgt von drei Bewaffneten. Offenbar Plünderer, die die Aufmerksamkeit einer Patrouille auf sich gezogen hatten.

Armand wartete, bis sich die Geräusche in einer benachbarten Straße verloren. „Jetzt rasch nach Hause. Wir dürfen nicht warten, bis die Soldaten Verstärkung holen und womöglich dieses Stadtviertel genauer durchsucht wird."

Im Laufschritt legten sie das letzte Stück zu Edouards Haus zurück. Nachdem der Hausherr die Türe hinter sich wieder geschlossen und fest verriegelt hatte, stieß er erleichtert die Luft aus. „Guter Gott, das war knapp!" Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Er blickte auf Rochefort, der völlig ungerührt schien und kaum rascher atmete. „Ich fürchte, ich würde nicht zum Agenten taugen. Noch bevor mich ein Feind erledigen könnte, hätte mich vermutlich schon vor Aufregung der Schlag getroffen", stellte er mit einem Anflug von Galgenhumor fest. Der Stallmeister Seiner Eminenz grinste flüchtig und zuckte die Schultern. „Alles Gewohnheit", gab er betont lässig zurück, um dann ernster hinzuzufügen: „Nein, Ihr habt schon recht – das ist sicher nicht Jedermanns Sache."

Nachdem sich sein Jugendfreund wenig später auf den gefahrvollen Rückweg aus der belagerten Stadt hatte machen müssen, bevor der Morgen anbrach, versuchten der Stadtrichter und seine Frau noch ein wenig Schlaf zu finden. Doch der wollte sich nach den aufwühlenden Ereignissen dieser Nacht nicht einstellen. So unterhielten sich die Eheleute, flüsternd, um das schlummernde Töchterchen nicht zu stören, beredeten das Geschehene, mutmaßten über das Kommende. Später dann schwiegen sie beide und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Der Allmächtige allein wusste, wie das alles hier enden würde, aber zumindest hatten sie die Gewissheit, dass sie und ihr Kind in der nächsten Zeit nicht verhungern würden. Und allein diese Tatsache gab ihnen zurück, was sie fast schon verloren hatten: die Hoffnung.