La Rochelle von Rochefort

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Kapitel Der Anschlag - Teil 1

Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Edouard Audebert in den Stuhl in seinem Arbeitszimmer sinken. Er fühlte sich so ausgelaugt und erschöpft wie schon lange nicht mehr. Die Ratssitzung hatte bis in die späten Abendstunden gedauert und war in höchstem Maße unerquicklich, ja nervenaufreibend gewesen. Wieder war es um das eine, alles beherrschende Thema gegangen: Kapitulation, ja oder nein? Und wieder hatten es Guiton und der einflussreiche prostestantische Edelmann Benjamin der Rohan, der die Verteidigung der Stadt zusammen mit dem Bürgermeister leitete, geschafft, die Stimmen der Vernunft zum Schweigen zu bringen. Das Auftauchen der Flugblätter hatte insofern Wirkung gezeigt, als es die Diskussion um eine Übergabe der Stadt kräftig angeheizt hatte, doch der gewünschte Erfolg hatte sich leider nicht eingestellt – und das, obwohl die Hungersnot von Tag zu Tag katastrophaler wurde. Die brütende Sommerhitze, die sich mittlerweile eingestellt hatte, verschlimmerte die Situation noch zusätzlich.

Zwar hatte sich die Zahl derer, die dafür plädierten mit den Belagerern zu verhandeln gemehrt, doch sie konnten sich gegen Guiton und Rohan nicht durchsetzen. Beide stellten die in den Flugblättern versprochenen Garantien als Lügen hin, als heimtückische Falle, die die Bürger von La Rochelle zur Aufgabe verlocken sollten um sie danach umso leichter abschlachten zu können. Die von den beiden redebegabten Männern plastisch geschilderten Schreckensszenarien zeigten Wirkung. Niemand wollte die Schuld auf sich laden, seine Heimatstadt womöglich einem gnadenlosen Feind ausgeliefert zu haben.

An diesem Abend war dem Stadtrichter dann der Kragen geplatzt. „Was heißt, dieses Risiko können wir nicht eingehen?!" hatte er geschrien. „Und was ist mit dem Risiko, oder nein, mit der Gewissheit, dass wir hier alle elendiglich krepieren werden?!" Er hatte sich immer mehr in Rage geredet und sich direkt an Guiton gewandt: „Was wollt Ihr eigentlich? Habt Ihr vor, in Zukunft über ein Leichenhaus zu regieren? Ist das Euer Verständnis davon, Verantwortung für die Bürger dieser Stadt zu übernehmen?"

Sein Ausbruch hatte ihm nichts genützt, im Gegenteil. Auf welcher Seite er denn eigentlich stehe, hatte der Bürgermeister ihn mit scharfer Stimme angeherrscht und er solle vorsichtig sein mit seinen Worten. Für Kleinmütige und Feiglinge sei kein Platz im Rat. Edouard hatte sich daraufhin fast gewaltsam wieder zur Ruhe gezwungen und geschwiegen. Er durfte sich nicht zu sehr exponieren, schon um seiner Familie willen. Das Klima unter den Bürgern war bereits vergiftet von gegenseitigem Misstrauen und wer in den Geruch kam, ein Verräter und Überläufer zu sein, musste mit dem Schlimmsten rechnen.

Mit einer müden Geste fuhr sich der Stadtrichter mit der Hand über die Augen, als ihn ein leises Pochen an der Tür aufhorchen ließ. Freudige Erwartung durchzuckte ihn – das konnte eigentlich nur Armand sein, denn Frau und Kind schliefen! Als er seinen Freund damals das erste Mal durch den Geheimgang in die Stadt geführt hatte, hatte er ihm auch einen Schlüssel von seinem Haustor überlassen, damit er im Falle des Falles unauffällig kommen und gehen konnte und nicht durch nächtliches Klopfen oder Rufen womöglich die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich zog. „Ja, herein!" rief er und im nächsten Moment trat tatsächlich der Agent Seiner Eminenz über die Schwelle, in der Hand wieder den sehnlich erhofften Sack mit Lebensmitteln.

Nach dem sich die beiden begrüßt und Platz genommen hatten, blickte der Graf seinem Gegenüber forschend ins Gesicht: „Ihr seht bedrückt aus", stellte er fest. Mit knappen Worten schilderte Edouard den derzeitigen Stand der Dinge und die Ereignisse im Rat. „Die kritischen Stimmen haben sich zwar gemehrt, aber Guiton und Rohan haben die Stadt immer noch fest in der Hand. Und solange das so bleibt, wird es keine Übergabeverhandlungen geben", schloss er seinen Bericht. Der Blick des Grafen verfinsterte sich. Ein solches Übermaß an Fanatismus und angsterfüllter Verbohrtheit, mit dem er hier konfrontiert wurde, war ihm unbegreiflich. „Aber ich werde mich nicht mundtot machen lassen", bekundete der Stadtrichter entschlossen. „Ich muss vorsichtig sein, aber niemand kann mir verbieten, weiterhin der Vernunft das Wort zu reden."

Rochefort nickte, fügte aber gleichzeitig warnend hinzu: „Das ehrt Euch, aber erwägt immer genau, wie weit Ihr gehen könnt. Ihr dürft keinesfalls in Kauf nehmen, dass man Euch der Konspiration mit dem Feind beschuldigt. Wenn Ihr im Kerker landet, ist niemandem geholfen." Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Aber aufgeben dürfen wir natürlich nicht. Ich habe wieder einiges mitgebracht..."

Neben neuen Flugblättern, in denen den Stadtbewohnern die sofortige Versorgung mit Nahrungsmitteln versprochen wurde, wenn sie kapitulierten, hatte der Graf diesmal auch einige von Richelieu persönlich geschriebene Briefe dabei. Sie richteten sich an einflussreiche Bürger der Stadt, die Audebert seinem Freund als mögliche Ansprechpartner genannt hatte. Über den genauen Inhalt der Schreiben wusste auch Rochefort nicht Bescheid, aber sie hatten wohl zum Ziel, diese Leute zu einem Umschwenken auf die königliche Seite zu veranlassen.

Diesmal kam es beim nächtlichen Verteilen der Botschaften zu keinen unliebsamen Zwischenfällen und als man in Audeberts Haus zurückgekehrt war, blieb noch Zeit sich ein wenig zusammenzusetzen und Gedanken auszutauschen. Trotz aller Vertrautheit kamen solche Gespräche zum Teil einer vorsichtigen Gratwanderung gleich, denn die Tatsache, dass sie sich in unterschiedlichen Lagern befanden, konnte keiner der beiden Freunde gänzlich ignorieren. Der Stadtrichter war sich beispielsweise völlig sicher, dass Rochefort auch zu anderen Zwecken als ihn aufzusuchen in die Stadt kam, dass er vermutlich versuchte, die Befestigungsanlagen auszukundschaften und anderes mehr. Doch er vermied es bewusst, Armand darauf anzusprechen, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Als der Graf jetzt die Frage stellte: „Habt Ihr noch eine Idee, was man tun könnte, wenn die Stadtoberen weiterhin stur bleiben?", antwortete er betont zurückhaltend: „Schwierig ... Ihr wisst, dass Gewalttaten für mich nicht in Frage kommen ... auch nicht, um Wachtposten auszuschalten und den Königlichen irgendwo Einlass zu gewähren."

Armand vermutete, dass Edouard ihm den geheimen Weg in die Stadt nicht gezeigt hätte, wenn dieser dazu geeignet gewesen wäre, eine größere Anzahl Bewaffneter hereinzuführen. Im März hatte der Kardinal einmal versucht, einen nächtlichen Angriff durch die Sumpflandschaft nördlich der Stadt zu führen, nachdem ein Überläufer von einem unbewachten Zugang auf dieser Seite berichtet hatte, doch die Unwegsamkeit des Geländes hatte das Unternehmen scheitern lassen. Seitdem wurden diese Mauerabschnitte noch besser bewacht und selbst für einen einzelnen Mann wie Rochefort war es äußerst schwierig sich unbemerkt zu nähern.

„Ich glaube mittlerweile auch nicht mehr, dass ein Handstreich oder Überraschungsangriff Erfolg haben könnte", gab Rochefort daher zurück, „und dass Ihr Euch an dergleichen nicht beteiligen würdet, ist mir klar. Aber vielleicht gäbe es noch andere Möglichkeiten. Wenn es beispielsweise gelänge, Guiton irgendwie so in Misskredit zu bringen, dass er seinen Rückhalt und seine Autorität in der Stadt verliert, dann –"

Ein Laut vom Fenster her ließ die beiden Männer innehalten. Das Geräusch wiederholte sich, einmal, noch einmal. Es klang, als würde jemand kleine Steinchen von außen gegen die Scheibe werfen. Armand und Edouard tauschten einen Blick, dann stand der Stadtrichter auf, entriegelte das Fenster und spähte vorsichtig nach draußen. Unten auf der Gasse stand eine schlanke Gestalt mit geschulterter Muskete. „Onkel, ich bin’s, Matthieu!" rief der junge Mann mit gedämpfter Stimme. „Ich muss mit Euch reden, es ist dringend."

„Ich komme sofort", beruhigte ihn Audebert, schloss das Fenster wieder und wandte sich rasch zu seinem Freund um. „Es ist mein Neffe. Irgendetwas muss passiert sein. Bleibt hier und wartet auf mich." Er eilte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in den Flur und sperrte das Haustor auf. Ein ungutes Gefühl hatte sich seiner bemächtigt.

„Ich war so froh, als ich das Licht sah und wusste, dass Ihr noch nicht zu Bett gegangen seid", begann der Bursch atemlos, sobald sein Onkel ihn eingelassen hatte. „Ich hatte Wachdienst auf der Mauer..." Jeder männliche Erwachsene hatte seinen Beitrag zur Verteidigung der Stadt zu leisten und wurde je nach Befähigung von den Kommandeuren zu verschiedenen Aufgaben eingeteilt, so auch Matthieu. „Und?" Mit angespannter Geste forderte Edouard ihn auf weiterzusprechen. „Sie – sie planen einen Anschlag auf Kardinal Richelieu! Ich hab’s zufällig belauscht." Audebert wurde weiß wie die Wand. „Sind sie von allen guten Geistern verlassen?! Bist Du Dir sicher? Wer ist es und was genau hast Du gehört?"

„Wer dahintersteckt und wer derjenige ist, der es ausführen soll, weiß ich nicht, ich konnte keine Gesichter erkennen, es ist zu dunkel. Ich war am Wehrgang oberhalb des Nordtores. Da habe ich mitbekommen, wie sich ein paar Männer bei der kleinen Ausfallspforte versammeln und tuscheln. Ich glaubte den Namen Richelieu gehört zu haben – da bin ich neugierig geworden und habe mich genähert um verstehen zu können was sie reden. Ich stand direkt über ihnen, aber sie waren so in ihre Sache vertieft, dass sie mich nicht bemerkt haben. Sie haben sich irgendwie eine Uniform der Kardinalsgarde organisiert. Derjenige, der das Attentat ausführen soll, wird versuchen, als Gardist getarnt so nahe an Richelieu heranzukommen, dass er ihn töten kann. Er weiß, dass er das vermutlich nicht überleben wird, aber das ist ihm egal, er will es trotzdem –"

„Hat der Mann die Stadt schon verlassen?" unterbrach der Stadtrichter seinen Neffen in äußerster Bestürzung.

„Ja. Gleich nachdem sie sich besprochen hatten, wurde die Pforte geöffnet und jemand ist hinaus in die Nacht gehuscht. Ich habe dann meinen Kameraden gegenüber so getan, als hätte ich einen Schwächeanfall wegen des Hungers, damit sie mich heimschicken. Ich wollte Dich warnen..."

Audebert schwindelte unter dem Schlag dieser unerhörten Nachricht. Ja, gewarnt war er nun, doch was nützte es, der Attentäter war bereits unterwegs. Es gab nichts mehr, was er tun – doch nein! ... Was war er nur für ein Narr! ... Im ersten Stock wartete ja sein Freund auf ihn. Wenn jemand diesen Wahnsinn noch verhindern konnte, dann er!

Sich zur Besonnenheit zwingend wandte er sich an Matthieu, legte ihm beide Hände auf die Schultern: „Du hast richtig und umsichtig gehandelt, ich danke Dir. Geh‘ jetzt nach Hause, damit niemand Verdacht schöpft, dass Deine Übelkeit nur gespielt war. Informiere auch Deine Eltern. Ich überlege inzwischen, was zu tun ist. Und ansonsten können wir nur beten, dass dieser Anschlag nicht gelingt."

Der Stadtrichter öffnete das Haustor wieder, nickte seinem Neffen beruhigend zu und schob ihn hinaus. Matthieu und dessen Familie teilten Edouards Ansichten was den Konflikt zwischen La Rochelle und dem König betraf, auch sie waren der Meinung, dass die Stadt sich ihrem Souverän unterwerfen sollte um dem Sterben innerhalb der Mauern ein Ende zu machen. Doch so sehr er ihnen auch vertraute, das brisante Geheimnis um seinen Kontakt zum Stallmeister von Kardinal Richelieu wollte er mit niemandem außer mit seiner Frau Jacqueline teilen.

Sobald der junge Mann in der Dunkelheit verschwunden war, fuhr Audebert herum und rannte wie von Furien gehetzt die Treppe hinauf zu seinem Arbeitszimmer.

Armand hatte sich von seinem Stuhl erhoben, als er das hastige Gepolter vernahm. Das klang verdammt danach, als gäbe es gröbere Probleme. Auf das, was er in den nächsten Augenblicken zu hören bekam, war der Graf allerdings nicht vorbereitet. Seine Augen bekamen einen so harten, kalten Glanz, dass es Edouard fast erschreckte.

„Wie lange ist es her, dass der Mann die Stadt verlassen hat?" „In welche Richtung?"

Audebert beantwortete die Fragen, so gut er konnte.

Im Schein des auf dem Tisch stehenden Leuchters überprüfte Rochefort mit routinierten, hundertfach geübten Handgriffen seine Waffen, vergewisserte sich, dass die Pistole schussbereit war. Dann stürmte er aus dem Zimmer und die Treppe hinab zum Haustor, dicht gefolgt von seinem hugenottischen Freund.

An der Tür hielt er kurz inne und wandte sich noch einmal zu dem Stadtrichter um. Der fasste ihn an der Schulter. „Armand – bitte – gebt auf Euch Acht!" In seinem Tonfall lag eine verzweifelte Eindringlichkeit. Der Graf nickte knapp, dann zog er ihn plötzlich kurz und heftig in seine Arme, ein wortloser Dank dafür, dass der Freund ihn informiert, ihm die Möglichkeit gegeben hatte, das Verhängnis vielleicht noch abzuwenden, das seinen Herrn bedrohte. Einen Atemzug später huschte er in die Nacht hinaus.

„Gott sei mit Euch", flüsterte Audebert.