La Rochelle von Rochefort

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Kapitel Der Anschlag - Teil 2

Glauben sie wirklich, dass die Belagerung endet, wenn sie den Kardinal töten? ... Was für ein Wahnwitz! ... Das Gegenteil würde eintreten. Nie und nimmer könnte der König einfach hinnehmen, dass man seinen Ersten Minister ermordet. Ja ... dann und nur dann war es durchaus denkbar, dass Louis XIII. tatsächlich den Befehl geben würde, La Rochelle dem Erdboden gleich zu machen um diese unerhörte Tat zu sühnen.

Diese Gedanken schossen Rochefort durch den Kopf als er in fliegender Hast durch die finsteren Gassen der Stadt rannte, auf schnellstem Wege in Richtung seines Schlupflochs in der Mauer. Doch diesmal war ihm das Glück nicht hold. Das Geräusch seiner eigenen eiligen Schritte hatte ihn daran gehindert, sie rechtzeitig zu bemerken. Als die vier Mann starke Patrouille um die Ecke bog, war es bereits zu spät, kein Versteck bot sich in unmittelbarer Nähe. Der Agent verlangsamte sein Tempo, versuchte einfach ruhig weiter zu gehen, doch ihm war klar, dass das nicht funktionieren würde.

„He, wer seid Ihr? Was tut Ihr hier draußen um diese Zeit?“ tönte es da auch schon hinter ihm. Sekundenlang überlegte er, ob er versuchen sollte, sich als Bürger der Stadt auszugeben und ihnen irgendeine Ausrede aufzutischen. Nein, zu riskant. Er war bis an die Zähne bewaffnet, allein das würde ihn zusätzlich verdächtig machen und sie waren zu viert – keine Chance, sie einfach so zu überwältigen. Also nichts wie weg!

Sofort entspann sich eine wilde Verfolgungsjagd, die ihn in die gänzlich falsche Richtung, weg von dem Geheimgang, führte. Zusätzlich fatal war, dass seine Gegner auch noch größtmöglichen Lärm schlugen, „Alarm!“ und „Haltet den Spion!“ brüllten, um Unterstützung zu bekommen. Fenster öffneten sich, Rufe einer anderen Patrouille antworteten. Armand versuchte sie in dem Gewirr schmaler Altstadtgässchen abzuhängen und, einen Bogen schlagend, wieder in die Nähe des Fluchttunnels zu gelangen. Da tauchte vor ihm eine zweite Soldatengruppe auf. Jetzt wurde es eng, denn es war ihm nicht gelungen, die anderen vier gänzlich los zu werden – sie konnten ihm jeden Moment den Weg versperren. Gerade war er an einer Stelle vorbeigerannt, wo die Häuserzeile durch eine Art Gartenmauer unterbrochen war. Dahinter lag offenbar ein unverbautes Grundstück. Dorthin wandte er sich, nahm Anlauf, bekam im Sprung die Mauerkrone zu fassen und zog sich, behindert durch Waffen und Mantel, mehr schlecht als recht hinauf. Die Soldaten stürmten mit wütendem Geschrei heran.

Rochefort ließ sich auf der anderen Seite herabfallen und landete tatsächlich in einem Garten, der links und rechts von Häusern und auf der Gegenüberseite wiederum durch eine Mauer eingefriedet war. Unterhalb derselben war wohl ein Gemüsebeet gewesen, das nun aber nur noch aus nackter Erde bestand, daneben, in einer Ecke des Hofes, eine Hundehütte. Unbewohnt allerdings, der arme Vierbeiner war längst dem Hunger seiner Besitzer zum Opfer gefallen, genauso wie sämtliche Pflanzen, denn außer einem mageren, fast kahlen Kirschenbäumchen wuchs hier nichts mehr. All dies erfasste der Graf mit einem Blick, hetzte dann zu der Mauer vis-a-vis, in der Erde des Beetes deutliche Stiefelabdrücke hinterlassend. Dann sprang er mit einem großen Satz zur Seite in Richtung der Hundehütte; in fliegender Hast verbarg er sein Rapier dahinter und schlüpfte in den Holzverschlag. Wie so oft in solchen Situationen hatte er rein instinktiv agiert.

Im nächsten Atemzug meldete sich sein Verstand um ihm zu sagen, dass er wohl das mit Abstand untauglichste und dümmste Versteck gewählt hatte, das ihm je untergekommen war. Wenn auch nur einer auf die Idee kam, hier nachzusehen, saß er wie die sprichwörtliche Maus in der Falle. Es war jedoch sowieso zu spät, sich noch anders zu besinnen, denn draußen war deutlich zu vernehmen, wie mehrere Personen über die Mauer kletterten und in den Garten sprangen.

Die Verfolger blickten sich suchend um. Einer rannte zu der Tür, die in eines der Häuser führte und rüttelte daran, doch sie war fest verschlossen. Ein zweiter durchquerte eine Fackel hochhaltend den Garten. Plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit: „Da sind Fussabdrücke! Er muss hier wieder über die Mauer geklettert sein!“ Heftig gestikulierend deutete der Mann auf die frischen Spuren. Seine Kameraden eilten herbei. Im Nu schwangen sich alle wieder über die Mauer, wobei zwei sogar auf das Dach der Hundehütte stiegen um leichter hochzukommen, und begannen die angrenzenden Gassen zu durchstöbern.

Der Geheimdienstchef des Kardinals fühlte, wie ihm einige Schweißperlen langsam an Stirn und Nacken hinabliefen. Er hatte unwillkürlich die Luft angehalten, nun atmete er erleichtert aus. Das war noch einmal gutgegangen. Vorerst, denn noch war er nicht aus der Stadt. Er lauschte, versuchte abzuschätzen, wann der richtige Zeitpunkt war, sich aus seinem Versteck zu wagen. Vorsichtig lugte er aus dem Eingang der Hütte um zu sehen, ob der Lärm irgendwelche Hausbewohner aufgescheucht hatte, doch alles blieb still und dunkel. Möglicherweise lebte hier gar keiner mehr... Er kroch aus dem engen Verschlag, nahm seinen Degen wieder an sich und verharrte in angespannter Aufmerksamkeit. Immer wieder drangen aus den umliegenden Straßen Rufe und eilige Schritte herüber. Besorgt richtete Rochefort seinen Blick zum Nachthimmel – dort zeigte sich bereits ein erster Anflug morgendlichen Dämmerlichts. Er konnte nicht mehr viel länger warten! Endlich wurde es ruhiger, die Suche nach ihm schien sich in ein anderes Stadtviertel zu verlagern. Jetzt oder nie! Er kletterte zurück in die Gasse, aus der er gekommen war, huschte so rasch und lautlos er konnte davon in Richtung des Kellers an der Stadtmauer, jede Deckung nutzend. Einmal noch musste er einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, weil er Leute bemerkte, die aus einem Fenster spähten, doch schließlich erreichte er sein Ziel.

Die Gefahr war damit freilich noch lange nicht vorüber, im Gegenteil. Als er den Geheimgang passiert hatte und sich daran machte, den Weg durch die Sümpfe in Angriff zu nehmen, hatte die Helligkeit des anbrechenden Tages bereits deutlich zugenommen. Sie würden ihn bemerken. Doch je später dies geschah, desto besser seine Chancen. Jeder Schritt zählte. Geduckt bewegte er sich durch das hohe Schilfgras, von Zeit zu Zeit einen Blick über die Schulter zu den Wehrgängen hinauf werfend. Schemenhaft konnte er zahlreiche Gestalten erkennen. Es schien dort oben hektische Betriebsamkeit zu herrschen, die vermutlich auf den nächtlichen Aufruhr zurückzuführen war, den er verursacht hatte – vielleicht aber auch darauf, dass man erwartete, dass drüben im königlichen Lager etwas geschehen würde...

„Da unten schleicht jemand durchs Schilf!“ Deutlich drang der aufgeregte Ruf bis zu Armand. „Wo?“ – Dort, seht doch!“ – „Das ist sicher der Spion!“ – „Rasch, gebt Feuer!“ Rochefort rannte los, seinen Umhang abstreifend, der ihn beim Laufen nur behindern würde. Schüsse fielen, mehrere Kugeln pfiffen in etwas größerer Entfernung an ihm vorbei, eine verfehlte ihn jedoch nur knapp und schlug unmittelbar neben ihm klatschend in den Morast. Schon hoffte er, außer Schussweite zu sein, als ein sengender Schmerz am rechten Oberarm ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Ein kurzes Straucheln, ein Fehltritt und schon versank er mit einem Bein bis übers Knie im Sumpf. Fluchend warf er sich zur Seite; nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, den Fuß wieder aus dem zähen Schlamm zu befreien. Als er sich wieder aufrichtete und erneut loslief, zischte ein weiteres Geschoss zentimeterbreit an seinem Kopf vorüber. Dann endlich schien er weit genug von der Stadtmauer entfernt zu sein. Er verminderte etwas sein Tempo, achtete sorgfältiger auf den Weg bis der Sumpf hinter ihm lag um nicht erneut zu versinken. Im Morgendunst zeichneten sich bereits die Stellungen der königlichen Truppen ab, doch bis zum Quartier Seiner Eminenz war es noch ein beträchtliches Wegstück. Um dem Lärm und Gestank des großen Feldlagers zu entfliehen, hatte Richelieu ein etwas abseits gelegenes Gehöft requiriert und zu seinem Domizil erkoren.

Rochefort wählte eine Abkürzung querfeldein, sich zu allergrößter Eile antreibend. Den Schmerz in seinem Arm irgnorierte er. Vermutlich nur ein Streifschuss. Unwichtig im Moment. Die Furcht, dass er zu spät kommen könnte, hatte sich wie eine eisige Hand um sein Herz gelegt. Er wusste, sein Dienstherr pflegte sehr zeitig aufzustehen. Manchmal unternahm er bereits vor dem Frühstück einen Kontrollritt zum Damm und zu exponierten Stellen des Lagers. Wenn der Attentäter tatsächlich eine Uniform der Kardinalsgarde hatte, war es nicht auszuschließen, dass er unentdeckt bis in die Nähe seines Opfers gelangen konnte...

Vor ihm befand sich nun ein Außenposten, bewacht von königlichen Musketieren, die weithin an ihren leuchtendblauen Kasacken mit dem silbernen Kreuz zu erkennen waren. Die Männer kniffen misstrauisch die Augen zusammen und langten nach ihren Waffen, als sie eine Gestalt auf sich zurennen sahen. „Der kommt aus Richtung der Stadt. Könnte ein Überläufer sein“, mutmaßten sie um dann laut zu rufen: „Halt! Wer seid Ihr?“ Der Graf nannte seinen Namen, aber er war derart außer Atem, dass er kaum zu verstehen war. Inzwischen hatte jedoch einer der Soldaten, ein Mann mit auffallend aristokratischen Gesichtszügen, den Ankömmling erkannt: „Das ist Rochefort“, ließ er seine Kameraden mit verhaltener Stimme wissen, worauf diese ihre Waffen wieder senkten. Der misstrauische Ausdruck auf ihren Gesichtern blieb jedoch, betrachteten die Musketiere den gefürchteten Agenten Seiner Eminenz ja als so etwas wie ihren natürlichen Gegenspieler.

Armand hatte die Musketiere nun erreicht und sprach denjenigen an, der ihn erkannt hatte: „Athos – “ Er musste nach jedem Wort Luft holen, um überhaupt deutlich reden zu können. „Ist – hier – irgendjemand – Verdächtiger – vorbeigekommen?“

„Außer Euch niemand“, schoss dem Musketier eine wenngleich treffende, so doch reichlich vorlaute Antwort durch den Kopf, aber natürlich behielt er die für sich. Stattdessen erwiderte er: „Nein. Nicht solange wir hier Wache haben. Und das ist schon seit ein paar Stunden.“

„Auch kein einzelner Kardinalsgardist?“ fragte der Graf weiter.

„Nein. Ist etwas -- ?“

Bevor Athos zu Ende sprechen konnte, war Rochefort schon wieder davon gestürmt.

Die Männer schüttelten die Köpfe. „Was ist denn mit dem los? Verdächtiger? Kardinalsgardist? Kardinalsgardisten sind immer verdächtig!“ feixte einer respektlos. Athos hingegen zog die Brauen zusammen. „Das riecht nach Ärger“, brummte er.