La Rochelle von Rochefort

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Kapitel Der Anschlag - Teil 3

In und um den Hof, den der Erste Minister von Frankreich und Oberbefehlshaber der königlichen Armee vor La Rochelle bewohnte, herrschte schon seit den frühen Morgenstunden rege Betriebsamkeit. Ordonnanzen kamen und gingen, Boten wurden abgefertigt, Berichte entgegen genommen. Bei Tag und Nacht patrouillierten Gardisten in scharlachroten Kasacken rund um das Gebäude, aber auch im angrenzenen Gelände. Heute lag jedoch zusätzlich eine gewisse Anspannung in der Luft. Seine Eminenz schien ausgesprochen schlechter Laune zu sein; Richelieus ernste Züge wirkten noch strenger als sonst, ja man hätte den Ausdruck seines Gesichts schon als geradzu finster bezeichnen können. Jeder, der in die Nähe des Kardinals kam, war daher besonders bemüht, nur bloß nicht seinen Unmut zu erregen und alle Anweisungen promptest auszuführen. Die Ursache für diese Missstimmung kannten allerdings nur einige wenige Leute aus seiner nächsten Umgebung.

Wie üblich hatte Richelieu bis spät in die Nacht gearbeitet, um dann einige wenige Stunden zu schlafen und schon beim ersten Morgengrauen wieder sein Tagwerk zu beginnen. Natürlich hatte er gewusst, dass sein Stallmeister wieder in die belagerte Stadt gegangen war und er machte sich keine Illusionen über das Risiko dieser Unternehmungen. „Ist Rochefort schon zurück?" war daher seine erste Frage an den Gardisten gewesen, der vor der Tür seines Schlafzimmers Wache hielt.

„Nein, Eure Eminenz, er war noch nicht hier:"

Der Kardinal fühlte, wie sich unwillkürlich sein Magen in einem Anflug heftiger Unruhe zusammenzog. Der Graf war bisher immer vor Anbruch der Morgendämmerung zurückgekehrt, weil es bei Helligkeit praktisch unmöglich war, La Rochelle unbemerkt zu verlassen. Und jetzt würde schon bald die Sonne aufgehen! Vor dem Gardisten wollte er jedoch seine Beklommenheit nicht zeigen, er nickte dem Mann daher nur mit unbewegter Miene knapp zu und schickte nach dem Kämmerer, der ihm beim Ankleiden behilflich sein sollte. Als er wenig später in den angrenzenden Raum trat, der als sein Arbeitszimmer eingerichtete worden war, berührte plötzlich eine feuchte Schnauze seine Hand. Robyn, Rocheforts Irischer Wolfshund, stand neben ihm und stieß ein leises Winseln aus. Richelieu fand es immer wieder erstaunlich, wie lautlos sich dieses riesige Tier bewegen konnte. Er streichelte den hellgrauen, strubbeligen Kopf und hätte schwören mögen, dass sie sanften braunen Augen des Hundes voll Sorge zu ihm aufblickten. „Du bist auch schon unruhig, nicht wahr? – Er wird schon kommen", beruhigte er dann Robyn und sich selbst. Das Tier trollte sich daraufhin wieder auf den kühlen Flur hinaus, wo es sich mit einem tiefen Seufzen niederließ.

Der Kardinal sichtete ein paar Schriftstücke, brachte einige Anweisungen zu Papier und schickte Hauptmann Jussac los; er solle die königlichen Generäle ersuchen, mit ihm einen Mittagsimbiss einzunehmen – er wolle eine Lagebesprechung abhalten. Und Jussac möge sich umhören, ob sich der Comte de Rochefort irgendwo im Lager aufhielt. Natürlich konnte es sein, dass der Graf bei seiner Rückkehr durch irgendeinen Umstand im Feldlager aufgehalten worden war, es etwas Dringliches gab, das geklärt werden musste, bevor er zu ihm kam. Er hoffte, dass es sich so verhielt, dass dies die harmlose Erklärung für die unübliche Verspätung war.

Er überlegte, noch einen Brief an den Superintendanten für Finanzen in Paris zu verfassen wegen der Kosten für die Versorgung der Armee, doch er merkte, dass er unkonzentriert war. Ärgerlich warf er die Feder wieder hin und stand auf. Er litt es nicht mehr im Haus...

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Rochefort erreichte eine kleine Geländeerhebung. Vor ihm lag nun endlich das Quartier Seiner Eminenz und er hielt kurz inne. Die Auskunft der Musketiere hatte ihn nicht beruhigt. Sicher, es bestand die Möglichkeit, dass der Hugenotte inzwischen von anderen Wachtposten aufgegriffen worden war und somit keine Gefahr mehr darstellte. Aber darauf konnte und wollte er sich nicht verlassen.

Das Bild, das sich ihm bot, hatte jedoch zumindest im Augenblick nichts Beunruhigendes. Die Wachen waren auf ihren Posten, rund um den Hof herrschte das übliche Kommen und Gehen. Nichts deutete auf ein schlimmes Vorkommnis hin. Armand hatte sich gerade wieder in Bewegung gesetzt, als der Kardinal aus dem Gehöft ins Freie trat. Er trug nicht sein geistliches Ornat, sondern soldatische Kleidung mit hohen, bis über die Knie reichenden Reiterstiefeln, Brustharnisch, einem leuchtend roten Mantel und dem Rapier an der Seite. Er ging einige Schritte bis zur Mitte des freien Platzes vor dem Haus und schien tief die noch kühle Morgenluft einzuatmen. Gefolgsleute und Dienerschaft hielten respektvollen Abstand. Da bog im Laufschritt ein weiterer Gardist um eine der Hecken, welche das Anwesen umgaben. Er schwenkte aufgeregt ein Schriftstück und schien etwas zu rufen, das der Graf auf die Entfernung aber nicht verstehen konnte.

„Monseigneur! Eine dringende Botschaft aus Paris!"

Richelieu wandte sich dem Ankömmling zu, der ihm eilig entgegenkam.

In diesem Moment wusste Rochefort mit hundertprozentiger, unumstößlicher Gewissheit, dass dieser Mann kein Soldat der Garde war, sondern der hugenottische Attentäter. Er hätte nicht sagen können, warum er es wusste – aber er wusste es! Doch er war zu weit weg. Egal wie schnell er auch lief, er war zu weit weg um einzugreifen, zu weit weg auch, um einen gezielten Schuss abzufeuern, ohne den Kardinal zu gefährden.

Er tat das Einzige, was zu tun noch möglich war: „Eminenz!! Vorsicht!!!" schrie er so laut er nur irgendwie konnte.

Der Blick des Ersten Ministers flog kurz in die Richtung, aus der der Warnruf kam -- und der Attentäter verlor die Nerven. Hätte er in kaltblütiger Ruhe die letzten Meter bis zu seinem Opfer zurückgelegt, vielleicht hätte Richelieu trotz allem die Gefahr zu spät erkannt. Doch als der Hugenotte sich entlarvt sah, riss er den Degen aus der Scheide und stürzte auf den Kardinal zu, mit der Waffe auf dessen Kehle zielend. Der Angegriffene reagierte im Reflex und blitzschnell. Rascher als die tödliche Klinge ihn erreichen konnte, hatte er sein eigenes Rapier gezogen, war zur Seite ausgewichen und parierte die gegnerische Waffe. Aus der Balance gebracht, geriet der Attentäter ins Stolpern. Sein Kontrahend versetzte ihm ohne zu zögern einen Fausthieb gegen die Schläfe, worauf der solcherart völlig Überrumpelte rücklings am Boden landete. Eine Degenspitze blitzte gefährlich nahe vor seinem Gesicht, sodass er sich nicht mehr zu bewegen wagte.

Für Sekunden schien die Szenerie wie versteinert; jeder starrte, Mund und Augen weit aufgerissen, auf den Kardinal und den Angreifer. Dann stürzten alle auf einmal los, die Diener und Gefolgsleute, um sich zu überzeugen, dass ihr Herr unversehrt war, die Gardisten, um sich auf den Hugenotten zu werfen und ihn zu entwaffnen. Mit einem gereizten Schnauben stieß Richelieu sein Rapier zurück in die Scheide. Er unterdrückte ein jähes Aufwallen von Zorn, das ihn deshalb ein wenig befremdete, weil es nicht in erster Linie dem Attentäter galt, sondern der Tatsache, dass offenbar jeder hier ihn für unfähig hielt sich zu verteidigen. Ja, es war schon richtig, mit seiner Gesundheit stand es nicht immer zum Besten, aber deshalb war er noch lange kein wehrloser Schwächling!

Augenblicke später bahnte sich von zwei Seiten jemand mit größter Vehemenz den Weg durch die Menge. Der eine, aus dem Gehöft kommend, war Robyn, der ungeniert jeden rammte, der ihm im Weg stand. Er hatte die Stimme seines Herrn gehört und dann Lärm – er musste nachsehen, was hier los war! Armand, von der anderen Seite auftauchend, ging nicht eben viel rücksichtsvoller zu Werke als sein vierbeiniger Freund, bis er endlich völlig abgehetzt vor dem Kardinal stand. „Monseigneur...!"

„Rochefort!"

Ihre Blicke trafen sich und in beider Augen stand nichts als grenzenlose Erleichterung.

„Wo wart Ihr so lange? Was - -" Richelieu brach mitten im Satz ab, als er bemerkte, dass der rechte Hemdärmel seines Stallmeisters blutdurchtränkt war. „Ihr seid ja verwundet!"

„Nichts Schlimmes", beruhigte dieser. „Ich glaube, es ist nur ein Streifschuss."

„Trotzdem, das muss versorgt werden. – Holt meinen Leibarzt, sofort!" befahl der Erste Minister mit erhobener Stimme.

Ein Gardist trat heran um zu fragen, was mit dem Hugenotten geschehen solle. „Bringt ihn weg und legt ihn in Ketten. Zwei Mann bewachen ihn rund um die Uhr. Ich kümmere mich später um ihn", lautete die Anweisung des Kardinals. Dann begab er sich, gefolgt von Rochefort und Robyn, zurück ins Haus.

„Ihr wart richtig gut vorhin", bemerkte der Graf als sie das Gebäude betraten und die anderen draußen zurück blieben. In seinem Tonfall lag ehrliche Bewunderung. „Was meint Ihr?" fragte Richelieu, dem nicht gleich klar, worauf sein Geheimdienstchef anspielte.

„Wie Ihr den Kerl außer Gefecht gesetzt habt."

Ein kleines Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Ersten Ministers. Er kam nicht ganz umhin sich geschmeichelt zu fühlen. „Ihr wisst ja, dass ich in meiner Jugend eine militärische Karriere angestrebt habe. Am College Navarre war ich sogar der beste Schütze meines Jahrganges – aber das Fechten hat mir auch Freude bereitet. Ich komme nur kaum noch dazu." Wie fast alle Fürsten seiner Epoche beschäftigte auch Richelieu einen Fechtmeister in seinem Haushalt, doch stand dieser in der Hauptsache den Gardisten und Gefolgsleuten zu Verfügung; seinen vielbeschäftigen Dienstgeber sah man nur höchst selten in eigener Person im Fechtsaal.

Rochefort schien kurz zu überlegen, bevor er einen Vorschlag machte: „Ich denke, Ihr solltet in Zukunft wieder regelmäßig Waffenübungen in Euren Tagesablauf einplanen. Wie wir gerade gesehen haben, gibt es nirgends hundertprozentige Sicherheit, selbst wenn Ihr von Eurer Garde umgeben seid."

„Wo soll ich denn die Zeit dafür hernehmen? Die Geschäfte des Staates nehmen mich doch fast Tag und Nacht in Anspruch."

Doch der Graf ließ keine Einwände gelten. „Als Leiche könnt Ihr Frankreich schlecht dienen", stellte er ebenso energisch wie pragmatisch fest. „Es wäre mir eine Freude, mit Euch zu trainieren. Und", ergänzte er mit eindeutig vorwurfsvollem Unterton, „Ihr sitzt sowieso viel zu viel hinter Eurem Schreibtisch. Die körperliche Ertüchtigung wäre auch Eurer Gesundheit sicherlich zuträglich."

Der Kardinal seufzte. Er kannte seinen Stallmeister und dessen Hartnäckigkeit. Er würde ihm keine Ruhe lassen, bis er auf den Vorschlag einging. Und Rochefort hatte ja keineswegs Unrecht mit dem, was er da sagte.

„Also gut, ich werde versuchen, die Fechtlektionen einzuplanen." Dann, mit einem Schmunzeln, fügte Richelieu hinzu, während er sich die immer noch schmerzenden Fingerknöchel seiner rechten Hand rieb: „Aber Schlägereien sollte ich auch in Zukunft wohl besser unterlassen."

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Als seine Verletztung verbunden war, er seine über und über mit Schlamm und Schmutz bedeckte Kleidung abgelegt hatte und in einem nach Kräuteressenzen duftenden Bad saß, das die aufmerksame Dienerschaft für ihn bereitet hatte, fühlte der Graf, wie sich die unerträgliche Anspannung langsam löste. Es war noch einmal gutgegangen.

Wenig später hatte er Richelieu gegenüber in dessen Arbeitszimmer Platz genommen, berichtete, beantwortete Fragen, erzählte von seiner halsbrecherischen Flucht. „Rochefort." Die Stimme des Ersten Ministers war ernst. „Das war das letzte Mal, dass Ihr in die belagerte Stadt gegangen seid." Sofort erschien ein dem Kardinal wohl vertrauter bockiger Ausdruck auf dem Gesicht seines Geheimdienstleiters. Es gab kaum jemand in Richelieus Gefolge, der eine direkte Anweisung nicht sogleich und widerspruchslos befolgt hätte. Nicht so der Graf, wenn er gegenteiliger Überzeugung war. Da halfen nur Argumente. „Es gibt keinen auch nur halbwegs sicheren Weg mehr in die Stadt für Euch. Nach dem Vorfall heute Nacht werden sie den nördlichen Mauerabschnitt bei den Sümpfen ganz genau unter die Lupe nehmen und den Gang finden. Zumindest ist die Wahrscheinlichkeit, dass er entdeckt wird, extrem hoch. Und Ihr könnt nicht einfach hingehen und ausprobieren, ob sie dort auf Euch warten, oder?"

Armand senkte den Blick. Der Kardinal hatte ja Recht. Aber einfach aufgeben? Er gab niemals auf! Und was sollte aus Audebert und seiner Familie werden? Würden die Nahrungsmittel für ihr Überleben reichen? Sein Gegenüber schien seine Gedanken zu lesen. „Rochefort. Ich werde weiterhin alles tun, um eine Kapitulation von La Rochelle zu erreichen. Und dem Stadtrichter und seiner Familie ist nicht gedient, wenn Ihr erwischt werdet. Soll Audebert zusehen müssen, wie man Euch als Spion hinrichtet? Es gibt einen Unterschied zwischen riskanten und selbstmörderischen Unternehmungen. Ich kann das nicht zu lassen. Ich will Euch nicht verlieren." Wärme lag in Richelieus Stimme und eine große Eindringlichkeit.

Der Graf wusste, dass sein Freund gewonnen hatte. Denn im Moment sprach er als Freund zu ihm und nicht als sein Vorgesetzter. Und das wirkte immer!