La Rochelle von Rochefort

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Kapitel Umsonst?

 

Der 30.Oktober anno 1628. Rochefort wusste, dass sich dieses Datum vermutlich für immer in sein Gedächtnis eingraben würde. La Rochelle hatte kapituliert und heute zog Kardinal Richelieu an der Spitze seiner Truppen in die besiegte Stadt ein. Am 27.Oktober hatte Jean Guiton Verhandlungen mit den Belagerern eröffnet. „Ein sicheres Indiz dafür, dass schlussendlich auch in des Bürgermeisters Speisekammer die Vorräte zur Neige gegangen sein dürften. Ich denke, die Aussicht auf das eigene unausweichliche Ende hat den guten Mann rascher zum Einlenken gebracht, als es ein paar tausend verhungerte Mitbürger je vermocht hätten", hatte der Geheimdienstchef Seiner Eminenz die Nachricht mit schwärzestem Sarkasmus kommentiert. Doch zumindest stellte sich Guiton nun den Konsequenzen seines Tuns, während der zweite Oberbefehlshaber, Benjamin de Rohan, gerüchteweise bereits die Flucht nach England angetreten hatte.

Es war, als würde man sich durch eine Geisterstadt bewegen. Grabesstille herrschte in den Straßen und Gassen, nur der Hufschlag der Pferde und die Stiefelschritte der Soldaten hallten von den Hauswänden wieder. Wenn auch dort, wo der königliche Tross sich bewegte, keine Leichen zu sehen waren, so hing doch ein drückender Geruch von Tod und Verwesung über der ganzen Stadt. Rochefort, wie üblich ganz in Schwarz, ritt dicht hinter Richelieu, die Hand immer an einer der beiden schussbereiten Reiterpistolen. Unablässig ließ er seinen Blick über die Häuserzeilen schweifen, behielt Dächer, Fenster und Toreinfahrten im Auge. Im Angesicht des unermesslichen Leides, das über La Rochelle hereingebrochen war, konnte man nicht ausschließen, dass ein Verzweifelter nochmals einen Angriff auf das Leben des Kardinals versuchen würde. Doch nichts regte sich, kaum jemand wagte es, auf die Straße hinaus zu blicken. Die meisten Fensterläden blieben verriegelt.

Schließlich langte man vor dem Rathaus an, dessen eindrucksvolle Größe und prachtvoll verzierte Fassade den Reichtum der Handelsstadt zur Schau stellten. Dort erwartete sie der Bürgermeister mit einer Abordnung des Rates, um, als symbolisches Zeichen der Unterwerfung, dem Sieger die Schlüssel der Stadt auszuhändigen. Rochefort hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet. Bei seiner dramatischen Flucht aus der Stadt hatte sich der August gerade seinem Ende zugeneigt – gute zwei Monate also waren noch bis zur Kapitulation verstrichen. Hatten Edouard und seine Familie diese Zeit überlebt? Wann immer Überläufer im königlichen Lager eingetroffen waren, hatte Armand vorsichtig Erkundigungen eingezogen. Zumindest hatte niemand etwas vom Tod des Stadtrichters und seiner Familie zu berichten gewusst. Es bestand also noch Hoffnung...

Er fasste die Ratsherren genau ins Auge – und dann, etwas weiter hinten stehend, entdeckte er den Freund. Sein Gesicht war entsetzlich eingefallen, seine Gestalt hager und ausgezehrt, aber er lebte! Ihre Blicke trafen sich. Rochefort achtete darauf, dass keine Regung seines Gesichts verriet, dass er Audebert kannte und auch der Stadtrichter ließ sich nichts anmerken. Doch seine Augen sagten dem Grafen, dass das Schlimmste nicht eingetreten war, dass nicht nur er, sondern auch Frau und Kind die Belagerung überstanden hatten. Zumindest ein Funken Glück in diesem Meer von Elend.

Nachdem der formelle Teil der Übergabe beendet war – Richelieu hatte Guiton während des gesamten Zeremoniells mit so eisiger Miene gemustert, dass einem schier angst und bange hätte werden können – begannen die Soldaten der königlichen Armee in der Stadt auszuschwärmen. Die Befestigungsanlagen waren bereits besetzt worden. Lange Wagenkolonnen rollten nun durch die Stadttore. Die Fuhrwerke waren randvoll beladen mit Lebensmitteln. Der Erste Minister hatte angeordnet, dass die Menschen in der Stadt unverzüglich mit Nahrung zu versorgen waren und überwachte nun in Person den Beginn der Verteilung. Ganz langsam wagten sich nun auch die ersten Einwohner aus ihren Häusern. Angst spiegelte sich auf ihren Zügen, dann Unglauben, als sie die Speisen erblickten. Offenbar konnte noch keiner von ihnen so recht fassen, dass es keine Massaker, keine Plünderungen geben würde, wie man sie monatelang glauben gemacht hatte.

Der Kardinal wandte sich an seinen Stallmeister: „War Euer Freund unter den Ratsherren?"

Der Graf nickte: „Ja."

Bevor sie weitersprechen konnten, kamen zwei Offiziere auf sie zu. „Eminenz ... es ist furchtbar. So etwas ... haben wir noch nicht erlebt..." Die Männer waren sicher nicht zart besaitet, doch nun spiegelten ihre bleichen Mienen blankes Entsetzen. „Die meisten Häuser sind voller Leichen. Alle verhungert. Da ist seit Wochen scheinbar niemand mehr beerdigt worden."

Richelieus beherrschte Züge verdüsterten sich. Kurz schloss er die Augen. Armand, der ihn gut kannte, wusste, dass das eben Gehörte ihn erschütterte, auch wenn er versuchte, sich keine Gefühlsregung, keine Schwäche anmerken zu lassen. „Es ist raschest Sorge zu tragen, dass diese Menschen in geweihter Erde bestattet werden", befahl der Erste Minister nach einem Augenblick des Schweigens. „Ich wünsche, dass dies zusammen mit der Ausgabe der Lebensmittel umgehend organisiert wird. Und kümmert Euch darum, dass sich morgen Früh eine Abordnung des Rates in meinem Quartier einfindet."

Während ihrer Rückkehr ins Feldlager sprachen weder der Kardinal noch sein Stallmeister ein Wort. Auf seinem Gehöft angelangt, legte Richelieu Waffen und Rüstung ab und zog sich zurück. Nach einiger Zeit hielt Rochefort Nachschau, wollte sich vergewissern, ob er im Moment gebraucht würde. Er fand seinen Herrn in dessen Schlafkammer, vor seinem Reisealtar knieend und ins Gebet versunken. Leise verließ er wieder den Raum. Was in Richelieu vorging, konnte er nur erahnen, doch er wusste, dass die Last der Verantwortung den Kardinal manchmal schier zu erdrücken schien. Bei Gott, niemals hätte er mit ihm tauschen mögen, niemals wollte er vor Entscheidungen gestellt sein, wie sie ein Erster Minister im Namen der Staatsräson zu treffen hatte. Wer einen Mann um diese Position beneidete, der war entweder ein Narr oder hatte kein Gewissen – oder beides!

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Edouard Audebert war angespannt, als sich die Delegation aus La Rochelle auf den Weg ins königliche Lager machte. Trotzdem hatte er sich darum bemüht, ja darauf bestanden, Teil dieser Abordnung zu sein. Bereitwillig waren seine Amtskollegen im Rat darauf eingegangen, hatte er doch schon während der Belagerung hartnäckig für einen Ausgleich mit der Gegenseite plädiert. Zu verhandeln gab es nichts mehr, die Stadt hatte sich bedingungslos ergeben müssen. Nun ging es um die Details der Umsetzung dessen, was der König forderte, etwa die Schleifung der Befestigungsanlagen. Doch auch das „Wie" dieser Umsetzung war für Audebert nicht ohne Bedeutung. Es ging um die Zukunft, das Leben musste weitergehen, irgendwie, und jede noch so kleine Erleichterung, die man für die geschundene Stadt vielleicht doch noch herausschlagen konnte, war von Bedeutung.

Der zweite, ebenso triftige Grund hierher zu kommen war Rochefort. Vielleicht hatte er Glück und es ergab sich die Gelegenheit mit seinem Jugendfreund zu sprechen. Tausend Ängste hatte er in jener schicksalhaften Nacht und den darauffolgenden Tagen ausgestanden. Wohl hatte man ihm berichtet, dass ein Spion verfolgt worden war und aus La Rochelle entkommen konnte – doch ob Armand diese Jagd unbeschadet überstanden hatte, war dennoch ungewiss gewesen. Zumindest der geplante Anschlag schien nicht geglückt zu sein, denn von einem solchen Ereignis hätte man auch innerhalb der Mauern in Windeseile Kunde erhalten... Immer, wenn Edouard seinen Wehrdienst auf den Befestigungsanlagen versehen musste, hatte er daher angestrengt zum königlichen Lager hinüber gespäht, bis er endlich gesehen, worauf er bangen Herzens gehofft hatte: Richelieu war mit seiner Entourage wieder einmal zum Damm geritten und an seiner Seite hatte sich ein Kavalier in Schwarz befunden. Armand! Der Freund war also halbwegs heil davon gekommen!

Als die Abordnung aus La Rochelle von Richelieu emfangen wurde, war auch dessen Stallmeister zugegen. Für den Stadtrichter ein wenig überraschend, schien er die Rolle eines Sekretärs zu übernehmen, der festhielt, was während der Besprechung vereinbart wurde. Als sich die Ratsherren dem Ersten Minister vorstellten, gewann Edouard den Eindruck, dass der Blick des Kardinals auf ihm selbst eine Winzigkeit länger und freundlicher ruhte als auf den anderen. Als man sie schließlich entließ, atmete Audebert vorsichtig auf. Richelieu hatte sich nicht so hart gezeigt, wie befürchtet, ja er schien tatsächlich ein ehrliches Intereresse daran zu haben, dass die Stadt sich von den furchtbaren Wunden erholte, die ihr dieser Krieg geschlagen hatte. Und aus seinem eigenen Mund hatten sie nochmals erfahren, dass die persönliche Glaubensfreiheit der Bürger nicht angetastet werden würde.

Seine Amtskollegen schickten sich an, den Heimweg in Angriff zu nehmen – zu Fuß, denn natürlich gab es in der ganzen Stadt schon lange kein einziges lebendes Pferd mehr. „Ich ... komme etwas später nach. Ich möchte noch versuchen, ein paar Fragen zu klären, die mein Amt als Stadtrichter betreffen", wandte Audebert sich an die Männer. Sie nickten und verließen das Gehöft. Unschlüssig stand Edouard in der Eingangstür. Rochefort hatte sich mit dem Kardinal zurückgezogen. Er wusste nicht recht, ob er einfach warten oder es wagen sollte, nach seinem Freund zu fragen. Gerade als er sich entschlossen hatte, ein wenig vor dem Haus zu verweilen, solange man ihm dies nicht verwehrte, trat Armand auf den Flur hinaus. „Edouard! Ihr seid noch hier!"

„Ja. Ich habe einen Vorwand benutzt um zu bleiben. Vor den anderen hätten wir nicht reden können... Ich hoffe, Seine Eminenz hat nichts dagegen einzuwenden."

„Nein, bestimmt nicht. Kommt." Der Graf führte seinen Gast in einen kleinen persönlichen Raum, der neben den Zimmern Richelieus lag und befahl einem Diener, einen Imbiss zu richten. Dann umarmte er den Freund und fühlte dabei mit Bestürzung, dass dieser tatsächlich nur noch aus Haut und Knochen bestand. „Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie froh ich war, als ich Euch gestern vor dem Rathaus gesehen habe. Jacqueline und Colette – sind sie...?"

„Ja, gottlob, sie leben auch und es geht ihnen den Umständen entsprechend gut. Aber ohne das Essen, das Ihr uns gebracht habt, hätten wir es nicht geschafft."

„Ich wollte wiederkommen", versicherte der Graf, während sie an einem kleinen Tisch Platz nahmen. „Aber der Kardinal hat mir klargemacht, dass es Wahnwitz wäre. Trotzdem..."

„Armand", fiel ihm Edouard sogleich ins Wort. „Quält Euch nicht mit Vorwürfen. Seine Eminenz hatte Recht. Sie haben den geheimen Tunnel gefunden und ihn seit Eurer Flucht bis zum Ende der Belagerung ständig bewacht. Ein weiterer Versuch in die Stadt zu kommen, wäre vermutlich Euer Tod gewesen."

Der Diener kehrte zurück und brachte Speisen und Wein. Der Stadtrichter wusste nicht, wie er es über sich bringen sollte, überhaupt etwas zu sich zu nehmen, als Bilder der vergangenen Wochen plötzlich mit Macht in ihm hochstiegen, doch sein ausgehungerter Körper forderte sein Recht. Er zwang sich langsam zu kauen und zu schlucken, der Magen war ja größere Mengen an Nahrung nicht mehr gewohnt. Sie aßen schweigend, dann, mit leiser, brüchiger Stimme, begann Edouard zu erzählen.

Ein kalter Schauer lief Rochefort über den Rücken, als sein Freund geendet hatte. Was er selbst während seiner „Besuche" in La Rochelle mitbekommen hatte, war schon schlimm genug gewesen, doch in diesen letzten 2 Monaten musste die Stadt ein Abbild der Hölle auf Erden gewesen sein; was Edouard hier wiedergab, deckte sich mit den Berichten der Überläufer, ja übertraf diese noch an Intensität des Grauens. Rund drei Viertel der Bevölkerung, so schätzte Audebert, waren tot. In stummer Verzweiflung bedeckte er das Gesicht mit den Händen. „Vielleicht habe ich nicht genug getan, nicht genug riskiert", brach es dann aus ihm hervor. „Ich hatte mich entschieden, keine Gewalt anzuwenden gegen Bürger meiner eigenen Stadt. Aber vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hätte ich es doch tun sollen."

„Ihr meint, Guiton und Rohan über die Klinge springen lassen?" hakte der Graf nach.

Sein Freund nickte. „Hättet Ihr es getan?"

„Ja. Mit ziemlicher Sicherheit. Aber Ihr seid nicht ich. Ihr habt Eurer Überzeugung gemäß gehandelt und daraus dürft Ihr Euch keinen Vorwurf machen. Möglicherweise wäre es fehlgeschlagen, wenn Ihr ein Attentat auf die beiden organisiert hättet. Vielleicht wärt Ihr hingerichtet worden und alles wäre noch schlimmer gekommen. Niemand vermag das zu sagen. Aber ich verstehe Euch, ich empfinde nicht anders. ... Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn alles was man tut, einen dem Ziel nicht näher bringt..."

Schweigen.

Dann, mit einer unendlich müden Bewegung, erhob sich der Stadtrichter. Seine Glieder waren bleischwer. „Ich möchte Eure Zeit jetzt nicht länger in Anspruch nehmen, Armand. Ich weiß, wie viel beschäftigt Ihr immer seid. Ich hoffe, wir sehen einander bald wieder." Er seufzte bedrückt. „Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass all unser Bemühen umsonst war."

„Ihr irrt. Was Ihr beide getan habt, war nicht umsonst", entgegnete da eine Stimme hinter ihnen. Die Freunde wandten sich überrascht um und sahen zur Tür, durch die unbemerkt der Kardinal getreten war. „Wenn man aufrichtigen Herzens seinem Gewissen folgt, wenn man etwas aus tiefster Überzeugung tut und nicht bloß um des persönlichen Vorteils, der persönlichen Eitelkeit willen, dann ist das niemals umsonst. Nicht immer erreichen wir dabei das angestrebte Ziel. Manchmal müssen wir uns mit Niederlagen abfinden – aber umsonst war unser Tun deshalb trotzdem nicht. Und außerdem", fuhr er fort, „woher wollt Ihr wissen, ob sich Guiton ohne Euren Einsatz vielleicht erst einen Tag oder zwei Tage oder eine Woche später zur Kapitulation durchgerungen hätte? Und an jedem dieser Tage wären weitere Menschen gestorben... Daher noch einmal: Was Ihr getan habt, war nicht umsonst."

Eindringlich ruhten seine durchdringenden, klugen dunklen Augen auf den beiden Männern.

Audebert schluckte. Dann straffte er sich und verneigte sich vor Richelieu. „Eure Eminenz ... ich – danke Euch." Etwas von seiner Bitterkeit war von ihm abgefallen. Dieser Mann hatte La Rochelle belagert ... doch es wollte Edouard nicht gelingen, ihn zu hassen...