Wem die Stunde schlägt von LadyAramis

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Kapitel Zwei allein im Wald

Kapitel 11

Zwei allein im Wald

 

Richelieu betrachtete sich kritisch in seinem grossen Wandspiegel. Er hatte sich umgezogen und sich seiner schmutzigen Roben entledigt, genau wie er sich das Gesicht gewaschen hatte. Zeuge dieses Überfalls waren lediglich noch seine zerzausten Haare und der Schreck in seinen Gliedern.

Er machte sich keine Illusionen über seine Beliebtheit im Volk. Minister zu sein, bedeutete auch unerfreuliche Entscheidungen treffen zu müssen und allzu oft wurden ihm auch Louis‘ unpopuläre Seiten angelastet. Damit konnte er leben und meist verdrängte er den Hass, der ihm entgegenschlug. Aber wenn er so jäh und heftig über ihn hereinbrach, war es schwierig ihn zu ignorieren.

Dennoch, dachte er, während er mit dem Finger seinen Schnurrbart glattstrich, irgendetwas war seltsam gewesen. Wieso hatten sie auf einmal so plötzlich von ihm abgelassen? Gewiss, die Musketiere hatten ihn mit überraschender Leidenschaft verteidigt, dennoch waren die Angreifer eine Spur zu plötzlich verschwunden. Als wären es gar keine Menschen, sondern Gespenster gewesen.

Ein plötzliches Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Ärgerlich wandte er sich zur Tür. „Herein“, knurrte er ungeduldig.

Jean Férardier, Hauptmann der roten Garde, betrat das Arbeitszimmer, mit gesenkten Kopf und hochgezogenen Schulter, ganz wie ein Junge, der Schelte von seinem Lehrmeister erwartete. Richelieu ahnte, dass er ihm keine guten Neuigkeiten bringen würde und verzichtete darauf, ihm einen Stuhl anzubieten. Stattdessen blaffte er ihn an: „Was ist jetzt wieder passiert? Plant der König eine Feier auf dem Dach des Palastes oder hat die Königin einen Drachen zur Welt gebracht? Was immer es ist, spukt es aus, bevor Ihr daran erstickt!“

Férardier sah aus, als wäre er am jeden Ort lieber, als hier mit dem Kardinal. „Eure Exzellenz…Der Musketier Aramis…er ist fort.“

Richelieus Augen verengten sich. „Wie fort? Ist er gestorben? Davongeflogen? Kurz spazieren gegangen?“, fragte er, seine Stimme so scharf wie eine Peitsche. Er spürte, wie kalter Zorn in ihm hochkochte. Diese Musketiere waren einfach nicht zu zähmen, selbst wenn man sie einsperrte und seine Gardisten beweisen einfach immer wieder, dass sie über gleich viel Intelligenz verfügten, wie ein Eichhörnchen, das sich bei einem Sturz vom Baum den Kopf angeschlagen hatte.

Sein Hauptmann knetete nervös seine Finger. „Er ist heute Morgen geflohen“, würgte er schliesslich mühsam hervor.

Richelieu musste all seine Würde zusammennehmen, um Férardier nicht gleich seine Faust ins Gesicht zu rammen. Überhaupt schienen alle Bewohner dieses Palastes entschlossen zu sein, ihn zu Gewalttätigkeiten zu reizen. „Erzählt Ihr mir gerade“, sagte Richelieu, langsam und betont, „dass es Aramis gelungen ist, aus einem bewachten Gefängnis zu fliehen? Wohlgemerkt ein Gefängnis, dass ich zusätzlich mit Roten Gardisten verstärkt habe?“

Férardier schluckte schwer. „Nun, also, die Wache ist eingeschlafen.“

Das wurde ja immer besser. „So, so. Deshalb stelle ich natürlich auch Wachen vor die Gefängniszellen. Damit sie mal in Ruhe schlafen können“, sagte Richelieu, auch wenn er wusste, dass Sarkasmus an diesem tumben Mann völlig verschwendet war. Aber irgendwie, musste er seinem Ärger Luft machen.

Dennoch, Férardier fuhr trotz Richelieus mörderischen Blickes tapfer fort: „Er hat gesagt, ihm sei ein Engel erschienen und habe ihn im das Himmelreich geführt.“

„Wer hat das gesagt? Aramis?“

„Nein, der wachhabende Soldat, Thomas Maynard hat das gesagt. Nachdem wir ihn endlich wachgekriegt haben.“

Richelieus lange Finger legten sich um eine kostbare, äusserst hässliche Porzellanfigur. Es war geradezu verführerisch, sie gegen die Wand zu knallen. Allerdings war sie ein Geschenk des Königs und Louis hatte die äusserst entnervende Eigenschaft, sich genau zu merken, wem er was geschenkt hatte. Es könnte seinem Ansehen erheblich schaden, wenn er seinem Herrn gestehen musste, dass er seine Gabe in tausend Scherben zerbrochen hatte. Louis war da sehr empfindlich.

Stattdessen stiess er ein langes Schnauben aus. „Natürlich. Ein Engel ist ihm erschienen. Waren die zwölf Apostel auch dabei oder waren die gerade damit beschäftigt, irgendeinen anderen Verbrecher mit Harfen und Trompeten aus dem Gefängnis zu geleiten?“

Diese spöttische Äusserung überforderte Férardiers begrenzten Verstand endgültig. Er blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“

„Das waren keine Engel, Hornochse! Das waren Trévilles Teufel! Natürlich haben sie ihren Freund befreit!“, fauchte Richelieu, raffte seine Robe und rauschte an dem immer noch verdutzten Férardier vorbei zur Tür hinaus. Sein Kopf pochte schmerzhaft, als er die Gänge mit langen Schritten durchmass, das Gesicht eine einzig drohende Gewitterwolke, um zu verhindern, dass jemand auf die Idee kam ihn anzusprechen.

Tréville hatte seinen Mann befreit, daran bestand kein Zweifel. Diesmal war der Captain zu weit gegangen. Der König würde dies nicht dulden, auch wenn er die Musketiere beinahe so sehr liebte, wie seine Schosshunde. Das war Trévilles Genickbruch und er würde Louis persönlich davon in Kenntnis setzen. Auch der Hauptmann hatte nicht das Recht, eigenmächtig Gefangene frei zu lassen, nur weil es ihm gerade so gefiel.

Doch als Richelieu in das Arbeitszimmer des Königs trat, sah er zu seinem ausserordentlichen Ärger, dass Tréville bereits da war. Er sass, flegelhaft wie immer, gegenüber von Louis am Schreibtisch, drehte sich beim Eintreten von Richelieu halb im Stuhl um und schenkte ihm ein geradezu aufreizend freundliches Lächeln.

Louis war äusserst gutgelaunt. „Ah, Richelieu! Meine beiden besten Männer zur gleichen Zeit im gleichen Raum und noch ist keiner der beiden tot. Was für ein wundervoller Tag!“ Manchmal enthüllte der König einen überraschenden Sinn für Ironie, der Richelieu immer wieder verblüffen konnte.

„Mir ist leider nicht nach Scherzen, Eure Majestät. Ich habe eben Nachricht erhalten, dass der Musketier Aramis aus dem Gefängnis geflohen ist.“

Die Wirkung seiner Worte war weniger durchschlagend als erhofft. Der König hob lediglich die Brauen und sagte mit einer gewissen Schärfe in der sonst so scheinbar sanften Stimme: „Das ist bedauerlich. Was für ein Sinn macht ein Gefängnis, wenn ihre Insassen einfach rein – und rausspazieren, wie es ihnen beliebt.“ Seine Betroffenheit hielt sich aber, zu Richelieus Missvergnügen, sichtlich in Grenzen.

Tréville gab sich nicht einmal Mühe, seine Freude zu verbergen. „So hat Gott vielleicht für Gerechtigkeit gesorgt und den Unschuldigen befreit. Was ihm, bei dem bedauernswerten Zustand in der sich die Rote Garde befindet, vermutlich nicht einmal schwergefallen ist“, bemerkte er spitz.

Das zum zweiten Mal innerhalb weniger Augenblicke jemand diesen Unsinn von einer himmlischen Macht verzapfte, war zu viel für Richelieus mühsam gezügelte Wut. „Redet mir nicht von Gott, Tréville! Ihr selbst wart es doch! Ihr und Eure Musketiere!“

Tréville griff sich an die Brust. „Ich soll meinen rechtmässig verurteilten Musketier befreit haben? Gegen den Willen des grössten Richters Frankreichs, den Willen von Kardinal Richelieu? Ihr beleidigt meine Ehre!“

Richelieu sah, dass Louis den Mund öffnete, um etwas zu sagen, aber er war zu erregt, um seinen König aussprechen zu lassen. „Spart Euch Euer falsches Getue! Wie nennt ihr diese Männer, die ihr zu den Besten Eures verfluchten Regiments zählt? Die Unzertrennlichen! Und ist Aramis nicht einer dieser Unzertrennlichen? Natürlich haben sie ihren Freund befreit! Wahrscheinlich mit Eurem Segen!“

Trévilles dunkle Augen glommen auf wie verkohlende Asche. „Bevor Ihr mich weiterhin mit Dreck bewerft: Habt Ihr die Güte uns zu sagen, wann Aramis entkommen ist?“

„In den frühen Morgenstunden, aber das wisst Ihr wahrscheinlich besser als ich!“

Nun mischte sich der König ein. „Kardinal Richelieu, ich verstehe, dass Euch das aufregt, aber ich schlage vor, Ihr senkt erstmal ein wenig die Stimme. Es muss nicht der ganze Hofstaat mitbekommen, wie sich mein Minister und der Hauptmann meiner Musketiere schon wieder in den Haaren liegen! Und ausserdem kann es Tréville gar nicht gewesen sein, denn er war den ganzen Morgen mit mir zusammen in diesem Raum.“

Das verschlug Richelieu erst einmal die Sprache. Sosehr Louis auch mit väterlicher Zuneigung an Tréville hing, er würde ihm kein falsches Alibi geben. Seine mehr als turbulente Kindheit und Jugend hatte dafür gesorgt, dass er auf jede Form von Verrat äusserst heftig reagierte. 

Tréville nutzte Richelieus vorübergehende Sprachlosigkeit. „Und was die Unzertrennlichen angeht: Athos, Porthos und d’Artagnan waren heute Morgen, wenn ich mich recht entsinne, in äusserst respektabler Gesellschaft. Nämlich in Eurer, Kardinal.“

Richelieu fühlte, wie sich seine Wangen vor Scham röteten. In seiner Überzeugung, dass nur diese drei hinter Aramis‘ Flucht stecken konnten, hatte er völlig übersehen, dass sie einen geradezu unfehlbaren Zeugen hatten: Ihn selbst.

Louis klatschte in die Hände. „Nun, wenn also Hauptmann Tréville und seine Männer nicht die übersinnliche Fähigkeit entwickelt haben an zwei Orten gleichzeitig zu sein, ist ihre Unschuld wohl hinreichend bewiesen. Kardinal, ich erwarte, dass Ihr den flüchtigen Musketier wieder einfangt.“

„Vielleicht wäre es besser, wenn unser lieber Hauptmann sich darum kümmern würde. Immerhin kennt er seinen Mann am besten und weiss besser um dessen eventuelle Verstecke als meine Gardisten“, wandte Richelieu giftig ein.  

„Das mag sein, Kardinal, aber die Musketiere haben schon die Aufgabe, Euch zu beschützen. Trévilles Befürchtungen um Eure Sicherheit haben sich ja heute Morgen leider bewahrheitet“, erwiderte Louis.

Jetzt erkannte Richelieu, wie geschickt Tréville ihn aufs Kreuz gelegt hatte. Er hatte nicht nur für sich und seine Musketiere die beiden mächtigsten Männer Frankreichs als Zeugen beschafft, sondern mit seinen Schachzug auch dafür gesorgt, dass Richelieu jetzt mit dem Segen des Königs, auf Schritt und Tritt von seinem Regiment bewacht werden würde. Tréville hatte diese Runde gewonnen.

Richelieu wusste, wann er einen Schritt weichen musste. „Wie Ihr wünscht, Majestät.“

Louis reichte ihm die parfümierte Hand, die Richelieu mit einer demütigen Verbeugung ergriff und küsste. Doch trotz dieser versöhnlichen Geste, blieb der Blick des Königs ungewöhnlich kühl. „Ich muss auch sagen, ich bin nicht sehr erbaut darüber, dass Ihr ausgerechnet die Männer des Verrats beschuldigt, die Euch heute Morgen so heldenhaft gegen diesen schändlichen Angriff verteidigt haben.“

„Vergebt mir. Die Wut hat mich gedankenlos gemacht“, säuselte Richelieu und erhielt für seine ungewohnte Einsicht ein gnädiges Nicken seitens der König. Louis würde diesen Zwischenfall schnell vergessen. An ihm selbst würde diese Demütigung jedoch noch lange nagen.

Kaum waren er und Tréville vom König entlassen worden, packte Richelieu seinen ewigen Widersacher am Kragen und schob ihn in eine Ecke. Tréville war sichtlich überrascht, wand sich jedoch mit der Gewandtheit eines Soldaten aus seinem Griff. „Wenn Ihr küssen wollt, gäbe es auch noch gemütlichere Plätze, Kardinal Richelieu.“

Der schlechte Humor seiner Männer schien auf den Captain abzufärben. „Ihr spielt ein gefährliches Spiel, Tréville.“

Trévilles graue Augen funkelten. „Ihr wisst, dass mir Intrigen nicht liegen. Im Gegensatz zu Euch. Ihr seid darin ja ein Naturtalent.“

Richelieu brachte sein Gesicht so nah an Trévilles, dass er den ruhigen Atem des anderen spüren konnte und jede Falte, die dieses wettergegerbte Gesicht durchzog, hätte zählen können. „Hört mir zu Tréville: Ich lasse mich nur ungern übertölpeln. Ich werde Aramis wieder einfangen und seiner gerechten Strafe zuführen. Und ich werde herausfinden, wer hinter diesem merkwürdigen Überfall von heute Morgen steckt.“

Und mit diesen Worten liess Richelieu den Hauptmann stehen und rauschte davon, wobei sich der wallende, rote Umhang bauschte, wie eine unheilverkündende, blutige Fahne der Rache.

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„Die blauen Flecken werden noch tagelang zu sehen sein“, jammerte d’Artagnan theatralisch, während er den linken Ärmel seines Hemdes hochschob um den Schaden zu begutachten. Porthos fiel es allerdings schwer, auf der wie immer gebräunten Haut des jungen Mannes eine Beule auszumachen.

Athos Mitleid fiel eher karg aus. „Da Madame Bonacieux zur Zeit beschäftigt ist, wird dieser Schönheitsmakel wahrscheinlich niemanden auffallen“, bemerkte er und griff nach der Weinkaraffe, um sich tüchtig nachzuschenken.

So zu tun als ob man einen Überfall abwehrt war noch erschöpfender als es tatsächlich zu tun, stellte Porthos fest, während er seine verspannten Muskeln kreisen liess. Kaum zurück in der Garnison hatten die drei sich auf ihren bevorzugten Platz, die Holzbank im Schatten von Trévilles Büro geworfen und einen neuen Rekruten angewiesen, ihnen Wein zu bringen.

D’Artagnan hatte die Beine auf der Bank ausgestreckt und lehnte mit dem Rücken gegen Athos Schulter, der entschlossen schien, so viel Wein wie möglich in sich reinzuschütten. Sein Alkoholkonsum war weniger bedenklich als noch vor ein paar Jahren, aber immer wenn der Stress zunahm, neigte er dazu, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.

Porthos stand auf. „Gentlemen, ich muss euch leider wieder verlassen“, verkündete er und setzte sich seinen Hut wieder auf. Er wollte zwar nichts mehr, als sich ein paar Stunden auszuruhen, aber Floh war noch nie sehr geduldig gewesen.

Athos hob eine Augenbraue. „Wo willst du hin? Den Kardinal  tatsächlich überfallen wie ein echter Pirat?“

„Je mehr du trinkst, desto schlechter werden deine Witze, Athos. Nein, ich habe noch eine Verabredung mit der liebreizenden Floh.“

„Und wann habt Ihr das vereinbart? Als ihr euch auf den Boden gewälzt hat?“, fragte d’Artagnan und Porthos konnte einen leicht eifersüchtigen Unterton in seiner Stimme ausmachen. Armer Kleiner. Mit der süssen Bonacieux war es übel ausgegangen und d’Artagnan schien es einfach nicht zu gelingen, sein Herz einer anderen zu schenken. Wobei, wenn man eine Frau wie Constance erobert hatte, war es wahrscheinlich schwer eine zu finden, die ihr das Wasser reichen konnte.

„Ich habe sie gebeten, mich zu treffen. Ich brauche ihre ganz besonderen Fähigkeiten.“

„Nun, denn. Ich wünsche dir viel Vergnügen.“ Athos wollte schon wieder nach dem Wein greifen als sich d’Artagnans Finger um seine Hand schlangen. Auf das nachdrückliche Kopfschütteln seines jungen Freundes hin, liess er sich tatsächlich grummelnd zurücksinken. D’Artagnan war es schon immer leicht gefallen, den ehemaligen Grafen zu zügeln. Genauso wie es Aramis leicht fiel, Porthos zu zähmen.

Er verdrängte den Gedanken an Aramis wieder. Sie hatten noch nicht gehört, ob es Constance gelungen war ihren Freund zu befreien und sie hatten das Thema bis jetzt sorgfältig vermieden. Zu gross war die Angst, dass es schief gegangen war, dass er und Constance geschnappt worden waren und dass sie den Preis hatten zahlen müssen. 

Es lag nicht in seinen Händen. Er konnte nur hoffen und beten. Und auf Constances Cleverness und Aramis‘ Mut vertrauen. Er winkte seinen Freunden noch einmal zum Abschied, bevor er die Garnison verliess und sich auf den Weg durch die belebten Strassen von Paris zu machen.

Es war ein grauer Frühlingstag. Kühl und regenverheissend. Paris wirkte in dieser Atmosphäre noch schmutziger als sonst, dennoch genoss Porthos den Spaziergang. Das pulsierende Leben um ihn herum, die lauten Gespräche, die schönen Frauen, die schreienden Händler, dass gab ihm immer ein Gefühl der Vertrautheit, egal wie sehr sein Leben gerade Sprünge vollführte.

Die Kirche Sankt Martin gehörte zu den kleiner und unbekannteren der Stadt. Porthos kannte sie eigentlich nur dank Aramis, der manchmal den christlichen Drang verspürte, seine Freunde in irgendwelche Gottesdienste zu schleppen. Er selbst hatte den zerbrochenen Brunnen als erneuten Treffpunkt vorgeschlagen, aber Floh hatte ihm abgeraten. Er sei nicht mehr so beliebt im Hof der Wunder, war ihre lakonische Antwort gewesen. Eine Kirche war vielleicht ein gar ironischer Treffpunkt für die wohl grösste Gaunerin in ganz Paris und einem Musketier, der in eine Verschwörung gegen den Kardinal verwickelt war.

Floh wartete bereits auf ihn und betrachtete mit gelangweilten Gesichtsausdruck die herumstreunenden Kinder. Als sie ihn sah, blühte dieses halb spöttische, halb zärtliche Lächeln auf, das stets für ihn reserviert schien. Dennoch vermied sie es ihn zu umarmen, als hätte sie Angst, die alten vergrabenen Gefühle wieder hervorzuholen.

„Bist du zufrieden mit der Leistung meiner Jungs?“, fragte sie mit kecken Lächeln.

„Es war hochdramatisch“, bestätigte er ihr.

„Ich hoffe, du hältst dein Versprechen. Umsonst geben wir solche Vorstellungen nicht.“

„Auch nicht, wenn ich an deine Freundschaft appelliere?“

„Hüte dich, Porthos. Wenn du mit mir feilscht, wird es noch teurer!“, warnte Floh und Porthos wusste nur zu gut, dass sie es ernst meinte. Über Geld pflegte Floh nicht zu scherzen.

Er nahm sie am Arm und zog sie weg von der Strasse. Hinter der Kirche lag ein kleiner, verwilderter Friedhof, der geradezu perfekt erschien um heikle Unterhaltungen zu führen. Vor einer auffallend grossen Engelsfigur mit ausgebreiteten Flügeln und zerschlagenem Gesicht blieben sie stehen. 

„Es gibt da noch etwas, worum ich dich bitte.“

„Wenn du jetzt von mir verlangst den König zu überfallen, muss ich dich enttäuschen. Das ist mir dann doch eine Spur zu verräterisch.“

„Es geht um eine Frau…“ begann Porthos.

Floh legte den Kopf schräg. „Geht es nicht immer um irgendeine Frau? Willst du, dass ich eine deiner Mätressen verfolge?“ Zu seinem Amüsement hörte Porthos die unterschwellige Eifersucht in ihrer Stimme.

Porthos holte tief Luft. Das würde eine längere Geschichte werden. „Ich wünschte beinahe es wäre so einfach. Es geht um eine Frau namens Ellen…“

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Aramis blieb stehen und lehnte  sich schweratmend gegen einen Baum. Er wünschte sich, seine Lunge würde nicht mehr so fürchterlich schmerzen. Ebenso wünschte er sich, er wäre in seinem Bett in der Garnison und nicht in einem vermaledeiten Wald, der immer dunkler und verworrener zu sein schien. Sein Husten war inzwischen so schlimm, dass er sich inzwischen die Mühe sparte, ihn sich zu verkneifen. Und ihm war so heiss. Seine Kleider klebten an ihm und ganze Sturzbäche von Schweiss rannen seine Schläfen hinunter. Er konnte nicht mehr. Aber er wusste jede Pause, die sie einlegten, konnte gefährlich werden. Sie wussten nicht, ob die Gardisten ihr Ablenkungsmanöver geschluckt hatten. 

Er spürte Constances zierliche Hand auf seinen Rücken. Sie bedrängte ihn nicht, war aber schon durch ihre stille Präsenz eine grosse Hilfe. Die letzten Stunden hatten sie sich gemeinsam durch den Wald gekämpft, wobei sie ihn öfters hatte stützen müssen als ihm lieb war. „Sag mir bitte, dass es nicht mehr weit ist“, sagte er mit rauer, erschöpfter Stimme und drehte sich zu seiner Begleiterin um.

Constances braune Augen waren voller Sorge, als sie, ohne auf seine Frage einzugehen, mit beiden Händen sein Gesicht umfasste. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ernsthaft krank bist? Du glühst ja förmlich.“ Ihre Finger fühlten sich wunderbar kühl an auf seiner Haut, dennoch löste er sich aus ihrem Griff und küsste ihren Handrücken. „Es ist nichts, dass ein paar Tage Bettruhe nicht zu heilen vermögen.“

Er sah Constance an, dass sie ihm widersprechen wollte, doch bevor sie die Stimme anheben konnte, hörte Aramis das Knacken von Zweigen und ein schweres Schnaufen. Und als er sich umdrehte sah er, wie ein riesiges Wildschwein seinen massigen Körper aus den Gebüschen schälte.

Aramis war auf dem Land aufgewachsen. Er wusste, dass Wildschweine im Normalfall eher scheu waren und Menschen mieden. Aber sie konnten gefährlich werden, wenn es sich um Muttertiere handelte, die ihre Frischlinge verteidigte. Und sie konnten rasend vor Wut werden, wenn sie verwundet waren. Unglücklicherweise war das bei diesem Exemplar der Fall. Aramis sah, dass das  Fell auf der rechten Seite des Tieres blutverklebt war. Beinahe hätte er gelacht. Wie gross war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass er und Constance dem vermutlich einzig verletzten Keiler in diesem Wald über den Weg liefen? Wahrscheinlich nicht sehr gross. Und dennoch stand das riesenhafte Vieh jetzt vor und starrte sie aus dunklen, listig blitzenden Augen an.

Er wollte Constance gerade zuraunen, sie solle einfach ganz still stehen bleiben, da stiess sie auch schon einen markterschütternden Schrei aus. Das kam überraschend von der Frau, die vor wenigen Stunden noch furchtlos in ein Gefängnis marschiert war, um ihn zu befreien. Aber Constance war bleich wie ein Bettlaken, ihre schönen Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund formte ein entsetztes ‚O‘. Wie gebannt blickte sie auf das riesige Untier, während ihre linke Hand ihren Hals umklammerte, als versuche sie sich selbst irgendwie Halt zu geben.

Ihr Schrei hatte die Aufmerksamkeit des Wildschweins geweckt. Langsam hob es den schweren Kopf. Und da tat Constance in ihrer offensichtlichen Panik das Falsche. Sie warf sich herum und stürmte, als sei die von Furien gehetzt, davon. „Auf den Baum!“, rief Aramis Constance zu, doch seine Stimme, heiser von vielem Husten schien nicht zu ihr durchzudringen.

Ihre wilde Flucht weckte natürlich erst recht den Instinkt des Tieres, das ihr prompt nachsetzte. Glücklicherweise hinderte seine Verletzung es daran, sein übliches Tempo zu erreichen, weshalb Aramis Constance echte Chancen ausrechnete zu entkommen. Er wollte gerade seinen eigenen Rat befolgen und sich auf einen Baum flüchten, da schrie Constance erneut. Sie war gestolpert und im hohen Bogen in einen Bach gelandet, was komisch gewesen wäre, wenn nicht gerade ein bösartiges Wildschwein auf sie zugerast wäre.

Aramis blieb keine Zeit um zu überlegen, ob seine Idee gut war oder nicht. Wie so oft, wenn er sich in brenzligen Situationen befand, schien ein anderer seine Handlungen auszuführen. Er bückte sich, ergriff einen Stein und warf ihn hart gegen das Wildschwein. Der Schmerz liess das Tier tatsächlich innehalten und Constance schien endlich wieder zu Vernunft geworden. Sie richtete sich blitzschnell auf und nutzte die Zeit, die Aramis ihr verschafft hatte, um auf einen Baum zu klettern.    

Nur beschloss das Wildschwein jetzt Aramis zu hassen und stürmte auf ihn zu. Selbst wenn Aramis vollkommen gesund und kräftig gewesen wäre, wäre es ihm schwer gefallen auszuweichen, denn das herandonnernde Tier lähmte ihn jetzt genauso, wie Constance. Panik stieg in ihm auf. Er würde sterben. Er würde von einem verdammten Wildschwein niedergetrampelt werden! Wie peinlich war das denn? Porthos würde sich totlachen.

„Aramis!“

Er sah das Messer, das Constance ihm zuwarf im letzten Moment. Es gelang ihm es aufzufangen, während er gleichzeitig versuchte dem Wildschwein auszuweichen. Um Haaresbreite entkam er den scharfen Keilerzähnen, wobei er sich auf den Boden warf und das Messer hochriss. Es war mehr dem Glück, als seine Zielgenauigkeit zu verdanken, dass sich die Klinge tief in den Hals des Wildschweines bohrte.

Aramis liess das Messer fallen und rappelte sich auf. Das Tier stand immer noch, rotz aufgeschlitzter Kehle hielt es sich noch schwankend aufrecht. Doch er liess sich keine Zeit um den unbändigen Überlebenswillen des Tieres zu bewundern. „Constance, komm runter!“, befahl er seiner Begleiterin. Sie sah aus wie ein triefend nasses Eichhörnchen als sie sich von ihrem Ast schwang.

Gemeinsam stolperten sie weiter, beide noch immer aufgekratzt durch diese mehr als nur abenteuerliche Episode und darauf bedacht möglichst viel Distanz zwischen sich und dieses Biest zu bringen. Als der Schock langsam verebbte, fühlte Aramis die Schwäche in seinen Beinen und auf einmal erschien ihm jeder Schritt wie eine unendliche Qual. Seine Kräfte verliessen ihn rasend schnell und er registrierte kaum noch wie er auf den weichen Waldboden fiel, bevor die Dunkelheit sich um seinen Geist legte.

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Floh stimmte Porthos‘ Plan schnell zu und versprach ihm, sich wie ein Bluthund an Ellens Fersen zu heften und ihm  Bericht zu erstatten, sobald sie deren Geheimnis enthüllt hatte. Er sah ihr nach, als sie wie ein schwarzer und sehr hübscher Rabe zwischen den Grabsteinen verschwand. Sie war nicht nur eine ausgezeichnete Diebin, sondern auch eine äusserst begabte Spionin. Wenn jemand hinter Ellens Machenschaften kam, dann sie.

Ihm war leichter ums Herz als in den letzten Tagen. Aramis war – hoffentlich – in Sicherheit und in der Obhut von Constance. Und Floh kümmerte sich um Ellen. Vielleicht war der ganze Spuk in ein paar Tagen schon vorbei und alles war, wie es sein musste.

Porthos streckte sich wie eine zufriedene Katze, als sich unvermittelt eine Hand auf seine Schulter legte. Er erschrak sich beinahe zu Tode, wirbelte herum und zog noch in der Bewegung seinen Degen, in der Erwartung einen Roten Gardisten oder wohlmöglich sogar ein Gespenst zu sehen (wobei, wenn er es sich genau überlegte, würde eine Klinge gegen ein Gespenst wohl kaum gross Wirkung zeigen). Aber er sah nichts dergleichen. Stattdessen stand er einer Frau gegenüber. Die allerdings auch ziemlich gruselig war.

Ihre Haare waren vollständig bedeckt von einem Kopftuch, das allerdings ihre Ohren freiliess, so dass man ihre grossen Ohrringe bewundern konnte, die ihr das Aussehen einer Zigeunerin verliehen. Ihr Gesicht war stark geschminkt, aber keine Schminke der Welt konnte die tiefen Falten verbergen, die ihre Haut durchzogen, deutliche Linien eines langen Lebens. Die stechend blauen Augen waren mit Kohl umrandet, was ihnen einen raubtierhaften Ausdruck gab. Ihre Lippen dagegen waren so rot wie Blut und teilten sich jetzt zu einem Lächeln, das in ihrer Jugend wohl verführerisch gewesen war, ihm jetzt allerdings eher Schauer über den Rücken jagte. „Monsieur, Ihr stört die Ruhe der Toten“, säuselte sie und er konnte sehen, dass ihr einige Zähne fehlten.

„Oh, ich gedenke nicht mehr lange zu stören“, entgegnete Porthos und steckte seinen Degen weg, „auch wenn ich bezweifle, dass die Toten noch sonderlich viel davon mitbekommen, was hier vor sich geht.“

Sie blinzelte ihn an. „Wenn Ihr Euch da mal nicht täuscht, mein lieber Freund. Die Toten flüstern. Besonders die Toten, die auf gewaltsame Art und Weise ums Leben gekommen sind. Sie lechzen nach Gerechtigkeit.“

O Gott, die Frau hatte wohl nicht mehr alle Sinne beisammen. Porthos versuchte sich an einem unverbindlichen Lächeln. „Nun, ich dagegen denke, dass das was tot ist, tot bleibt.“

Sie musterte ihn mit deutlichem Hochmut. „Nun, Ihr seid auch ein schlichter Soldat, der nichts ahnt von den  Welten, die neben unserer existieren. Ich dagegen bin Madame Lilith. Die Geister sprechen zu mir.“

„Freut mich. Ich bin Porthos. Zu mir sprechen vor allem Bierkrüge. Und manchmal mein Degen.“ Er konnte nicht widerstehen. Die Frau war so herrlich schrullig, er musste sie einfach auf dem Arm nehmen.

Sie nahm ihm das ziemlich übel. Ihre überraschend kräftige Faust traktierte seinen Oberarm. „Ihr macht Euch lustig. Das solltet Ihr nicht. Gerade in dieser Kirche gibt es viele unruhige Geister. Es ist ein böser Ort.“

„Ich bin ohnehin kein regelmässiger Kirchgänger“, lachte Porthos. Schade war Aramis nicht dabei. Er würde sich köstlich amüsieren.

Die Frau wandte sich der Engelsfigur zu. „Unter den Füssen des Engels ruht der zu Unrecht Erschlagene“, sagte sie in einem merkwürdigen, dunklen Singsang. Nun konnte Porthos doch nicht verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Madame Lilith sprach mit einer solchen Sicherheit, dass es keinen Zweifel gab, dass sie wirklich an den Unsinn glaubte, den sie da von sich gab. Sicherheitshalber trat er einen Schritt zurück. Nicht, dass sie sich plötzlich auf ihn stürzte, weil sie glaubte er sei vom Teufel besessen.

„Nun, so gern ich diesen Geistern auch noch lauschen würde. Ich muss fort. Hat mich gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen!“ Er lüftete seinen Hut zum Abschied.

Er hatte den Friedhof schon beinahe verlassen, da hörte er, wie sie ihm nachrief: „Der Freund, um den Ihr Euch sorgt. Er ist krank. Sehr krank. Ihr solltet zu ihm gehen, wenn Ihr ihn noch einmal sehen wollt!“

Und auf einmal war Porthos eiskalt.

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Constance unterdrückte einen Jubelschrei, als sich Aramis‘ Lider flatternd hoben. Seine braunen Augen waren glänzend vor Fieber, aber seine Stimme klang einigermassen klar, als er leise fragte: „Wie lange war ich weg?“

„Nicht lange.“ Gott sei Dank. Der Zusammenbruch des Musketiers hatte ihr einen schönen Schrecken eingejagt. Sie war nicht stark genug um Aramis zu tragen und hier im Wald fehlten ihr alle nötigen Utensilien um ihn medizinisch zu versorgen. Sie mussten es irgendwie zu ihrem Landhaus schaffen. Dort konnte sie Aramis ins Bett stecken und dieses furchtbare Fieber bekämpfen, das in seinem Körper wütete.

Aramis griff sich an die Stirn. „Ich fühle mich, als sei dieses Wildschwein über mich hinweg getrampelt.“

„Glücklicherweise nicht. Gebrochene Rippen hätten uns gerade noch gefehlt.“ Während Aramis‘ kurzer Bewusstlosigkeit hatte sie das Wildschwein verflucht, vor allem aber hatte sie sich selbst verflucht. Hätte sie sich nicht benommen wie eine hysterische Göre, hätte Aramis sich nicht so mit seinen Kräften übernehmen müssen. Sie stützte ihn, als er versuchte in eine sitzende Position zu kommen. Selbst durch den Stoff seiner Kleider spürte sie die Hitze die von ihm ausging und als er sich endlich aufgerichtet hatte, legte er schweratmend den Kopf auf ihre Schulter.

„Vorsicht, Monsieur Aramis. Wenn du mir zu nahe kommst, hetz ich dir nicht nur meinen Mann, sondern auch noch meinen Verehrer auf dich. Und letzterer kann verdammt gut mit dem Degen umgehen.“

Aramis lachte krächzend. „Momentan könnte ein Lämmchen mich im Duell schlagen, fürchte ich.“

Ein neuer Hustenanfall schüttelte ihn nach diesen Worten. Constance schlang die Arme um ihn, in verzweifeltem Bemühen sein heftiges Zittern irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Schliesslich verebbte das Husten endlich, auch wenn seine Atemzüge noch immer schwer und rasselnd waren, als sei er ein alter Mann.

„Es tut mir Leid, Aramis. Wenn ich nicht so losgekreischt hätte und panisch davongelaufen wäre, ging es Euch jetzt nicht so schlecht.“

„Mir ging es schon vorher schlecht, Constance“, gab Aramis zu und dieses Eingeständnis löste eine neue Welle von Panik in ihr aus. Wenn er jetzt schon zugab, dass es ihm nicht gut ging, hatten sie wirklich ein Problem. Als spürte er ihre wachsende Besorgnis, fügte er eine kleine Neckerei an: „Obwohl ich zugeben muss: Ich habe dich nicht als eine Frau eingeschätzt, die beim Anblick eines Wildschweines gleich in Panik ausbricht. Kreischst du auch bei Mäusen?“

Constance fühlte, wie sich ihre Wangen vor Scham röteten. Zugleich spürte sie, wie eine Trauer in ihr aufstieg, die sie lange in ihrer Seele vergraben hatte. Eigentlich sprach sie nicht gerne darüber, aber Aramis hatte ein Recht darauf es zu erfahren, nachdem es ihn fast das Leben gekostet hatte.

„Ich habe furchtbare Angst vor Wildschweinen. Aber es gibt einen Grund dafür.“

„Das klingt nach einer Geschichte.“

Sie strich ihm über die schweissnassen Locken, als sei er ein Kind, dem sie  eine Gutenachtgeschichte erzählen wollte. „Sie ist nicht besonders lustig.“

„Mir ist auch nicht besonders nach Lachen“, sagte Aramis mit der Stimme, die rau und kratzig klang.

Constance liess ihre Hand auf seiner heissen Stirn ruhen. „Als ich noch ein kleines Mädchen war, ging mein kleiner Bruder in den Wald. Alleine. Er ist einfach davongelaufen. Nicht aus Bosheit, er war einfach so verspielt. Er wollte immer Schmetterlinge jagen“, fügte sie mit einem seligen Lächeln der Erinnerung hinzu, dass jedoch gleich erstarb, als sie an das wunderbar unschuldige, runde Gesicht ihres Bruders dachte. Er war noch so klein gewesen.

 

Aramis schien schon zu verstehen, welchen Lauf diese Geschichte nahm. „Und dabei hat er den Weg eines Wildscheines gekreuzt.“

 

Sie nickte. „Ja. Es hatte Frischlinge bei sich und wahrscheinlich wollte er diese streicheln, weil sie so süss waren. Aber Wildschweine sind erbarmungslos, wenn es um die Verteidigung ihrer Jungtiere geht.“ Ihre Stimme brach und ungewollt schossen ihr wieder die verhassten Tränen in die Augen. So lange war es schon her und sie hatte es noch immer nicht vergessen, geschweige denn überwinden können. Aramis musste sie ja für albern halten!

 

Er schien sie jedoch ganz und gar nicht für albern zu halten. Er hatte den Kopf gehoben, wobei er mit einer beiläufigen Bewegung ihre Hand von der Stirn fegte. Seine dunklen Augen waren voller Mitgefühl und Anteilnahme. Einer seiner schönsten Charakterzüge war die Fähigkeit, jedem das Gefühl zu geben, dass er auf seine Art und Weise genau richtig war. Das war wohl das Geheimnis seiner vielen Frauengeschichten, nicht einfach nur seine schöne Gestalt und seine Begabung für klangvolle Gedichte. Er bedrängte sie nicht, mit der Erzählung fortzufahren, sondern wartete geduldig, bis sie soweit war sie fortzusetzen.

 

„Als wir ihn endlich gefunden hatten, war er schon tot. Die Wunden waren tief. Er ist einfach verblutet “, beendete sie die Geschichte.

 

„Das tut mir sehr leid“, sagte Aramis sanft, „und es tut mir Leid, dass ich über deine Furcht gelacht habe. Du hast allen Grund dazu.“

 

Constance holte tief Luft. „Vielleicht. Aber ich schäme mich, dass diese Angst noch immer mein Handeln beeinträchtigt. Es hätte uns den Hals kosten können.“

 

„Sei nicht so streng mit dir. Es gibt weitaus peinlichere Ängste, als die vor Wildschweinen. Und jeder Mensch trägt Furcht in sich.“ Er schenkte ihr ein schräges Grinsen.

„Wovor hast du Angst?“, fragte sie mit jäh erwachter Neugier, aber wie immer, wenn das Gesprächsthema auf so etwas Persönliches kam, nahm seine Miene einen Hauch von Reserviertheit an und er entgegnete nur mit mildem Lächeln: „Ich bin die löbliche Ausnahme.“

Constance war mit dieser Antwort ganz und gar nicht befriedigt. Er schien ihren Missmut zu spüren und so beeilte er sich hinzuzufügen: „Aber ich kann dir eine äusserst amüsante Geschichte über Athos‘ Ängste erzählen. Unser furchtloser Anführer erzittert nämlich beim Anblick von Spinnen, ganz wie eine holde Jungfrau vor dem bösen Drachen.“

Sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen wie ein kreischender Athos vor einer Spinne davonrannte und sich dabei in die schützenden Arme seines Captains warf. Ein Kichern entschlüpfte ihren Lippen. Athos gab sich immer so kühl und unbeeindruckt, egal was gerade um ihn herum geschah. Es war zu köstlich, dass er sich vor diesen eigentlich harmlosen Tierchen fürchtete. „Das ist mir nie aufgefallen.“

Aramis hob die Schultern. „Er unterdrückt seine Angst. Sie ist ihm, wie du dir vorstellen kannst, überaus peinlich. Ich weiss es eigentlich nur, weil Porthos ihm einmal Spinnen ins Bett geschmuggelt hat.“

„Wieso hat Porthos ihm Spinnen ins Bett getan?“ Sie wusste ja, dass die vier Männer sich schon mal in Kleinkinder verwandelten, wenn sie zusammen waren, aber so etwas erschien ihr sogar nach Musketier – Massstäben gar kindisch.

„Das war kurz nachdem Athos zum Regiment gestossen ist. Wir mochten ihn damals nicht sonderlich.“

Es war schwer sich eine Zeit vorzustellen, in der die Unzertrennlichen noch nicht die besten Freunde waren. Als Constance die drei kennenglernt hatte, waren sie schon ein Herz und eine Seele gewesen. „Ihr habt ihn nicht gemocht? Wieso nicht?“

Aramis sah sie schräg an. „Mal ehrlich: Athos macht es einem nicht immer leicht ihn zu lieben. Waren seine ersten Worte an dich nicht Madame, ich denke, Euer Kleid entspricht kaum noch den guten Sitten einer Kirche, da Ihr Euren Busen praktisch entblösst?

Das hatte er tatsächlich gesagt, erinnerte sich Constance und noch während er gesprochen hatte, hatte er ihr seinen Schal gereicht und gemeint, sie solle um Himmels willen ihren Ausschnitt bedecken.

„Und hast du nicht so etwas gesagt wie Es wäre geradezu sündig, irgendeinen Zoll dieser wunderbaren Haut zu bedecken?

„Und dann hast du mir – völlig unverständlicherweise – eine geschmiert.“

Sie lächelten sich zu, als sie gemeinsam in diesen Erinnerungen schwelgten. Das war kurz nach ihrer Hochzeit gewesen, bevor d’Artagnan nach Paris gekommen war und sie alle in die Intrigen des Hofes gezogen worden waren. Doch dieser kurze, friedliche Moment wurde durch einen erneuten, schlimmen Hustenanfall von Aramis unterbrochen. Die harschen, keuchenden Hustenklänge brachten Constance wieder zu Bewusstsein, dass sie noch immer nicht über den Berg waren und Aramis dringend ein Bett und Pflege brauchte

Sofort sprang sie auf die Füsse. „Komm. Je schneller wir zu unserem Haus kommen, desto eher kann ich dich in Decken packen und dir Tee kochen.“ Sie reichte ihm die Hand und er zog sich ungewohnt schwerfällig an ihr hoch. Als er stand, schwankte er bedrohlich und stützte sich schwer auf Constances‘ Schulter. Aber schliesslich gelang es ihm, halbwegs sicher stehen zu bleiben. Seine Schritte waren eine Spur unsicher, dennoch hoffte Constance, dass er es irgendwie bis zu ihrem Haus schaffen würde, ohne noch einmal zusammenzuklappen.

Sie mussten es einfach schaffen.

 

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