Wem die Stunde schlägt von LadyAramis

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Kapitel In einer Regennacht

Kapitel 12

 

In einer Regennacht

 

Der warme Tag war einem kühlen Abend gewichen und als Kardinal Richelieu aus dem Fenster seines Arbeitszimmers sah, ging ein leichter Frühlingsschauer nieder. Regen passte ganz ausgezeichnet zu seiner Stimmung und so öffnete der Minister in einem jähen Anflug von Naturliebe, die Fensterläden und sah den Regentropfen zu, die sich zu einem trüben Teppich verwoben.

Wenn es diese verfluchten Musketiere nicht gebe, dachte er bitter, wäre mein Leben um einiges leichter. Erst  dieser Skandal in England, weil Trévilles Schosshunde nicht einmal ordentlich spionieren konnten, jetzt diese Geschichte mit Aramis. Lohnte es sich wirklich, weiter seine Zeit mit persönlichen Rachegefühlen zu verplempern? Es gab bei Gott Wichtigeres für ihn zu tun. Aber sein Stolz war zu tief getroffen, als dass er jetzt von seinen Drohungen ablassen konnte.

Richelieu wollte sich gerade wieder seinen Papieren zuwenden, als es leise klopfte. Ärgerlich über die Störung brummte er unwillig: „Herein.“ Ein König konnte es sich erlauben, nicht zu sprechen zu sein, sein Minister dagegen musste sich jeden Trottel anhören. Diese Regel hatte Richelieu sich selbst auferlegt und auch wenn es dazu führte, dass er oft noch spät in der Nacht Gäste und Bittsteller empfangen musste. Aber so erklärte es sich, dass er die Dinge oft lange vor seinem König erfuhr.

Jetzt allerdings trat zu Richelieus Erstaunen ein junges Mädchen in sein Arbeitszimmer. Es knickse unsicher und blieb dann mit weit aufgerissenen Augen stehen, was ihn unwillkürlich an eine Kuh auf der Weide erinnerte. Wobei eine Kuh auf der Weide wahrscheinlich weniger fehl am Platze gewirkt hätte, als dieses eingeschüchterte Kind, dass seiner Kleidung nach wohl als Zofe diente.

„Nun? Möchtest du mich weiter mit offenem Mund anstarren oder hast du mir etwas mitzuteilen?", fragte Richelieu unwirsch. Er konnte durchaus charmant sein, nur war er heute rein gar nicht in Stimmung dazu, auch wenn das Mädchen leidlich hübsch war und wahrscheinlich nichts Böses im Schilde führte.

 „Eminenz, ich weiss gar nicht was ich sagen soll“, stammelte sie.

Er bekam nun doch Mitleid mit dem armen Ding, das aussah als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Das Letzte was er jetzt brauchte waren bewusstlose Damen in seinem Zimmer. Die Gerüchteküche würde schlagartig anfangen zu brodeln und morgen würde es wahrscheinlich schon heissen, er verschleppe neuerdings auch kleine Mädchen, um sie auszustopfen und als Trophäe auszustellen.

„Nun, dann sag mir doch erstmal deinen Namen“, sagte er also im deutlich freundlicheren Ton.

„Marie. Ich bin die Zofe der Gräfin Adelina.“

Ah, die englische Lady. Eine Schönheit, allerdings ihm persönlich eine Spur zu keck für eine Frau. Kein Wunder schätzte Königin Anna ihre Gesellschaft deshalb so. Je rebellischer und aufmüpfiger, desto mehr war man sich der Aufmerksamkeit Annas sicher.

„Nun, mein Kind, Mademoiselle Adelina ist Gast bei uns. Es ist keine Schande einer so vornehmen Dame zu dienen, selbst wenn sie Engländerin ist“, erwiderte Richelieu und hoffte, seiner Stimme eine ermunternden Klang geben zu können.

„Oh, ich komme nicht deswegen, Eure Eminenz. Es ist vielmehr, wegen meines Cousins. Er war ein Musketier.“

„Liebes Kind, so sehr mich deine Verwandtschaften interessieren, jetzt ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt sie mir mitzuteilen.“ Sein Lächeln wurde immer verkrampfter. Konnte diese dumme Gans nicht endlich zum Punkt kommen? Sie war ja noch schlimmer als dieser elendige Férardier!

Endlich schien sie sich ein Herz zu fassen. „Ach, Eure Eminenz, ich weiss, dass Euch mein Geschwätz kaum interessiert. Aber Ihr müsst wissen, ich bin nur aus familiären Pflichtgefühl hier, denn ich wollte mich nie in die Intrigen des Hofes einmischen. Aber manchmal schickt Gott uns auf seltsame Wege." Ihr treuherziger Blick, aus der die Unschuld ihrer jungen Jahre sprach, liess Richelieu widerwillig lächeln.

„Aus deinen Worten entnehme ich, dass dich wohl dein Cousin hergeschickt hat?“

Sie schüttelte den Kopf und zu seinem ausserordentlichen Entsetzen füllten plötzlich Tränen ihre blauen Augen. Wenn es etwas Schlimmeres gab als ohnmächtige Frauen, dann waren es weinende Frauen. Bewusstlose Damen waren wenigstens still. Aber Marie beherrschte sich und sagte nur mit erstickter Stimme: „Mein Cousin ist tot. Sein Mörder wurde vor wenigen Tagen verhaftet und Ihr selbst habt den Urteilsspruch über ihn gesprochen.“

Francis, durchzuckte es Richelieu. Schon wieder! Nun musterte er Marie mit neuem Interesse. Was hatte sie wohl mit dieser verzwickten Geschichte zu tun? „So seid Ihr die Cousine von Francis.“

„Ja. Er hat mir eine Stelle bei der Gräfin Adelina besorgt, weil meine Eltern nicht genug Geld haben um mich und meine Geschwister durchzubringen. Er war immer sehr gut zu mir. Aber in den letzten Wochen war er so seltsam und bedrückt. Er redete immerzu von seinem nahenden Ende und eines Tages hat er mir einen Brief in die Hand gedrückt mit der Anweisung, diesen Euch zu übergeben, sollte ihm etwas zustossen.“  Sie steckte die Hand unter ihre Schürze, zog einen schlichten, weissen Umschlag hervor und reichte ihm den Kardinal.

Dessen Herz schlug schneller, als er den Brief an sich nahm. Das war ja mehr als merkwürdig! Eine Nachricht von einem Toten. Und dazu noch von einem toten Musketier! Warum hatte er wohl nicht seinem Hauptmann, sondern ausgerechnet ihm diese Botin geschickt?  Der Kardinal hatte eine Schwäche für Intrigen und Mysteriöses. Vielleicht fühlte er sich deshalb so wohl am französischen Hof.

„Gelesen hast du ihn aber nicht, mein Kind?“

Marie schüttelte heftig ihren Kopf, so dass ihre Locken flogen. „Er hat es mir verboten. Und ich habe ihn wirklich nicht gelesen, Eminenz. Ich bin froh, dass ich ihn los bin und ich mag nichts mehr hören von diesen Heimlichkeiten!“

„Dies ist ein lobenswerter Vorsatz. Bewahre ihn dir.“ Er reichte ihr die Hand, um ihr zu erlauben seinen Ring zu küssen. Eifrig sank sie in eine Verneigung und er legte ihr mit diesem gütigen Lächeln, das schon ganze Länder miteinander versöhnt hatte, die Hand auf den Schopf. „Und ich bin sicher, Francis wäre stolz auf dich, da du seinen Auftrag gegen alle persönlichen Bedenken so treu ausgeführt hast.“

Richelieu wartete, bis Marie das Zimmer verlassen hatte, dann riss er den Brief auf. Er war zu neugierig, was ihm der Musketier da wohl aus dem Grab hatte zukommen lassen, als dass er noch eine Minute länger hätte warten können.

Und der Inhalt war wirklich mehr als interessant.

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D’Artagnan bereute es ernsthaft, sich auf Porthos‘ Schnapsidee eingelassen zu haben, als dieser ihm zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit den Degen aus der Hand schlug. „Porthos, als du gesagt hast, Übungskampf machte ich mich ehrlich gesagt auf einen gemütlichen Kampf unter Freunden gefasst, nicht darauf, dass du mich wie ein Wilder auseinander nimmst!“, murrte d’Artagnan, als er seinen Degen aufhob.

Porthos sah wirklich zum Fürchten aus. Der Regen liess sein Hemd an seiner gebräunten Haut kleben und rann in kleinen Bächen über sein ohnehin schweissüberströmtes Gesicht. Sein Mund, der sich sonst so leicht zu einem Lächeln formte, war nur eine schmale, strenge Linie und die dunklen Augen leuchteten von einer Wildheit, wie sie es sonst nur im Kampf zu tun pflegten. Langsam glaubte d’Artagnan, sein Freund wolle ihn umbringen, mit einer solchen Kraft führte dieser seine Waffe.

Mit einem zerknirschten Lächeln senkte Porthos seine Klinge. „Vergib mir, mein Freund. Ich bin nur so unruhig.“

D’Artagnan fragte nicht, wieso. Zwar hatte Tréville ihnen die frohe Kunde überbracht, dass es Aramis und Constance gelungen war zu fliehen, aber wo die beiden gerade steckten, blieb weiterhin ein Rätsel. Constance hatte ihnen versprochen, sofort Nachricht zu schicken, wenn sie in Sicherheit waren, aber bis jetzt war diese erlösende Botschaft ausgeblieben. Und mit jeder Stunde die verstrich, wuchs die Angst um die beiden. Constance war eine mutige Frau und Aramis konnte sich bei Gott mehr als gut selbst verteidigen, dennoch würden sie im Falle eines Kampfes gegen die Rote Garde eindeutig den Kürzeren ziehen.  

D’Artagnan beschloss, Porthos etwas aufzumuntern und sich gleich auch selbst abzulenken. In einer nachlässig herausfordernden Geste schwang er seinen Degen prüfend durch die Luft. „Nun mach mal nicht so ein Gesicht, Porthos! Du bekommst schon Falten und davon hast du ja wirklich wahrlich schon genug!“

Porthos zu provozieren war glücklicherweise mehr als einfach. Bei Aramis musste man genau wissen, wo seine wunden Punkte waren und wenn man ihn an diesen traf, musste man damit rechnen, dass er ernsthaft böse wurde. Und Athos liess sich nie provozieren. Zumindest nicht von d’Artagnan. Aber Porthos brauste schnell auf, beruhigte sich aber genauso schnell wieder.

Tatsächlich blitzte es gefährlich in Porthos‘ Augen. „Du findest also, ich habe Falten?“, knurrte er und hob bereits angriffslustig seinen Degen.

„Nein“, D’Artagnan machte eine dramatische Pause, „ich finde, du bist alt!“

Porthos‘ Ausfall kam schnell, aber nicht unerwartet. D’Artagnan wich geschmeidig aus. „Mit dir werde ich schon noch fertig, Grünschnabel!“, rief Porthos und drang erneut auf d’Artagnan ein.

Er war kein so geschickter und eleganter Kämpfer wie Athos, aber Porthos‘ ungestüme Kraft  brachte d’Artagnan erneut in Bedrängnis. Er musste einigen Zoll an Boden abgeben, wich aber der Klinge mit Leichtigkeit aus und brachte sich in eine bessere Stellung. „Zu langsam alter Mann“, lachte d’Artagnan, der stolz war auf seine schnellen Bewegungen, die selbst Athos‘ schon ein anerkennendes Nicken abgerungen hatten.

Er musste sich allerdings schnell in Sicherheit bringen, den Porthos‘ Antwort kam in Form eines neuen Ausfalls. Geschickt sprang er auf den Tisch. Serge, der alte Mann, der für ihr leibliches Wohl verantwortlich war, hasste es zwar, wenn sie das Mobiliar für ihre „Soldatenspiele“ missbrauchten, aber d’Artagnan war sein kleiner Liebling und ihm liess er fast alles durchgehen.

Porthos setzte ihm nach und so fochten sie unverdrossen auf dem Tisch weiter, was ihre Bewegungsfreiheit zwar erheblich einschränkte, dem Feuer ihres Kampfes jedoch keinerlei Abbruch tat. Der Regen fiel inzwischen stärker und durchnässte sie von Kopf bis Fuss, aber d’Artagnan spürte die Kälte der Tropfen gar nicht. Er und Porthos kämpften unverdrossen und immer, wenn d’Artagnan glaubte, die Gedanken seines Freundes wanderten zu ihren verschollenen Kameraden, triezte er ihn wieder, um ihn abzulenken.

Als d’Artagnan erneut versuchte auszuweichen, glitt er jedoch auf dem nassen Holz aus. Er versuchte noch, sich am Porthos Ärmel festzuhalten, was sich als keine so gute Idee herausstellte. Denn dieser hatte selbst nicht gerade den festesten Stand und statt, dass er d’Artagnans Sturz bremste, fiel er einfach gleich mit. D’Artagnan landete hart auf seinem Rücken. Er blinzelte noch verwirrt in den Himmel, als sich auch schon ein dunkles Gewicht über ihn senkte und Porthos‘ gesamtes Gewicht ihn in den aufgeweichten Boden drückte, was ihm eine ungewollte Einsicht in das Leben einer Flunder gab.

„Porthos, du bist schwer“, stöhnte d’Artagnan.

Sein Freund schien sich noch nicht ganz von seinem Schock erholt zu haben und blieb einfach liegen. „Und du ziemlich knochig. Es gäbe bessere Polster für mich.“

Ein spöttischer Applaus liess sie beide den Kopf drehen. Athos lehnte mit verschränkten Armen an einer der Holzbalken, ein ironisches Grinsen im Gesicht. „Ihr solltet euch in ein Zimmer zurückziehen. Ihr wisst, Tréville mag es nicht sonderlich, wenn man Zärtlichkeiten so offen zur Schau stellt.“

Tatsächlich waren Porthos und d’Artagnan so miteinander verknotet, dass man es, wenn sie Mann und Frau gewesen wären, tatsächlich als komprimierende Situation hätte auffassen können. Knallrot lösten sich die beiden voneinander und standen auf. In dem verzweifelten Versuch sich ein Rest von Würde zu bewahren, strich sich d’Artagnan den Staub von der Kleidung und meinte: „Wir haben uns nur etwas der Leibesertüchtigung gewidmet.“

Demonstrativ sah Athos in den Himmel. „Ja, es ist ja auch das perfekte Wetter dafür.“

Bevor d’Artagnan diese sarkastische Bemerkung kontern konnte, hörte er das Donnern von Hufen. In Erwartung zurückkehrende Musketiere zu sehen, drehten die drei Freunde mit mässigen Interesse den Kopf in Richtung Tor. Aber es waren keine Kameraden, die von einer Mission zurückkamen, sondern zwei reiterlose Pferde, die auf den Hof stürmten.

D’Artagnan spürte einen eisigen Schreck in den Gliedern, als er sein eigenes Pferd erkannte, das auch sogleich vergnügt auf ihn zutrabte und spielerisch den Kopf an seiner Schulter rieb. Constance, dachte er mit bebendem Herzen, o Gott, lass es ihr gut gehen! Wenn ihr etwas geschehen war, dann war es seine Schuld!

Das andere Pferd war die treue Stute von Aramis, die sich in Ermangelung ihres Herrn an Porthos wandte, der mit bleichem Gesicht ihren Hals tätschelte. „Warum kommen die Pferde ohne ihre Reiter zurück? Heisst das, dass sie…“ Er sprach den Satz nicht weiter, aber d’Artagnan verstand. Was wenn sie tot waren? Nein, das durfte er nicht denken. Aramis zu verlieren, wäre eine Katastrophe, aber Constances Tod und die damit verbundene Schuld würde er nicht ertragen.

„Es muss gar nichts heissen. Wir wussten, dass die Flucht gefährlich werden kann. Wahrscheinlich waren sie aus irgendeinen Grund gezwungen zu Fuss weiterzugehen.“ Athos klang ruhig und vernünftig, die blinde Panik, die sich auf Porthos‘ und d’Artagnans Gesicht so deutlich abzeichnete, war bei ihm überhaupt nicht zu sehen. Aber d’Artagnan entging die Besorgnis in Athos‘ stahlblauen Augen nicht und das war es, was seine Furcht noch steigerte.

Stumm blickten die drei Musketiere aus dem Tor und dachten mit pochenden Herzen an ihre Freunde, für die sie nichts tun konnten, ausser zu beten.

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Louis hatte Tréville zu  einem abendlichen Schachspiel eingeladen und er hatte mit Freuden angenommen. Nicht nur weil die Freundschaftsbeweise von Louis merklich nachgelassen hatten, sondern auch weil der König seinen besten Wein aufzutischen pflegte, wenn er spielte. Unter dem Einfluss des Weins war Louis sehr fröhlich und freimütig geworden, die alte Vertrautheit war wieder aufgekommen und der Abend war in der Tat sehr vergnüglich gewesen. Jetzt ging Tréville mit nicht mehr ganz so sicheren Schritten durch den Louvre, wobei er das Gefühl genoss, sich wieder ganz mit dem Monarch angefreundet zu haben; ein Gefühl das sofort einer drängenden Neugierde wich, als er einen roten Kardinalsmantel um die Ecke wischen sah.

Schlagartig war Tréville wieder ganz nüchtern. Richelieu hatte es sich verbeten, dass die Musketiere seine Gemächer auch nachts bewachten und Tréville hatte zugeben müssen, dass es widersinnig gewesen wäre, im gut geschützten Palast auf eine weitere Garde zu bestehen. Das war schade, denn er war sich sicher, dass die meisten Geheimnisse seines Lieblingsfeindes, sich in der Nacht offenbaren würden.

Deshalb war es für ihn eine zu günstige Gelegenheit um sie verstreichen zu lassen. Tréville setzte Richelieu nach, vorsichtig und mit den leisen Sohlen einer Katze. Richelieu ging rasch, schien aber bewusst die Wachposten zu meiden, als läge ihm viel daran, nicht gesehen zu werden. Und schliesslich huschte er, nach einem verstohlenen Blick über die Schulter, direkt in eine der verborgenen Geheimtüren, die auch Tréville kannte. Das wunderte ihn, denn er wusste auch, wohin dieser Geheimgang führte. In die Bibliothek der Königin.

Aber was wollte der Kardinal so spät am Abend in der Bibliothek seiner erklärten Feindin?

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Während Tréville und Richelieu durch den nächtlichen Louvre streiften, machte sich Robert Dupont auf den Weg zur Kirche Sankt Martin. Den Regen, der auf ihn niederprasselte, nahm er nicht einmal wahr, ja er trug nicht einmal einen Hut oder eine Kapuze um sich zu schützen. Sein Gewissen quälte ihn. Seit seiner Aussage vor Gericht fühlte er sich so schlecht, dass er keine ruhige Minute mehr hatte. Stets sah er Aramis‘ bleiches und entsetztes Gesicht vor sich.

Er hatte sich gegen seinen Freund versündigt. Und er hatte gegen Gott gesündigt.

Seine Gedanken waren ein trübes Knäuel, das er nicht zu entwirren vermochte. Er hoffte, zumindest in der Kirche Ruhe zu finden und er fühlte das überwältigende Bedürfnis zu beichten. Er musste zumindest vor seinem Herrn die Wahrheit sagen und vielleicht fand er danach die Kraft und den Mut es auch vor den weltlichen Richtern zu tun.

Schon als er die stille Kirche betrat, wurde er merklich ruhiger. Seine Schritte hallten gespenstisch auf dem Boden als er mit langen Schritten die Kirche durchquerte und sich in die erste Bank kniete. Sein Blick heftete sich auf das hölzerne Kreuz. Konnte Jesus ihn vergeben? Konnte Aramis ihn vergeben? Konnte er selbst sich je vergeben. Er hatte gelogen, um seines Ehrgeizes willen. Was gab es Schlimmeres als ein Judas zu sein?

Die Verzweiflung drohte ihn zu übermannen. Er faltete die Hände und begann zu beten, innbrünstig und lange. Vor Gott hielt Robert nichts zurück und die Worte kamen leise und flehend über seine Lippen, während er seine Stirn gegen die ineinander verschlungenen Hände presste. Er fand Trost in seinen hastigen Gebeten und sein Herz wurde leichter. Noch war nichts verloren, noch konnte er alles gut machen. Gott vergab jeden Sünder.

Robert war so versunken in sein Zwiegespräch mit dem Herrn, dass er nicht bemerkte, wie eine Gestalt die Kirche betrat und sich ihm nährte. Er bemerkte es erst, als sich das Seil schon um seinen Hals legte und ihm die Luft abschnürte.

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Richelieu war eigentlich kein Mann, der sich leicht aus der Ruhe bringen liess.  Dafür hatte er zu viel gesehen und zu viel erlebt. Aber als er die Bibliothek der Königin betrat, schlug sein Herz spürbar schneller. Er spürte, dass er der Lösung einer Verschwörung auf die Spur kam, einer Verschwörung, von deren Bestehung er nicht einmal gewusst hatte.

Die Bibliothek war ein prachtvoller Ort. Anna zog sich öfters hierher zurück und Richelieu konnte verstehen wieso. Die Königin hatte einen erlesenen Geschmack und so war ihre persönliche Bibliothek ein Fundort an grossen Dichtern und kostbar ausgestatten Büchern. Jetzt in der Nacht lag ein geheimnisvoller Schimmer über den staubigen Regalen und verlieh dem Raum zusätzliche Erhabenheit. Rasch entzündete Richelieu ein paar Kerzen, um in dem warmen Schein der Flammen zu finden, wo nach er suchte.

Richelieus scharfe Augen glitten schnell über die Buchrücken. Anna schien kein besonderes Ordnungssystem zu haben, die Bücher standen kreuz und quer durcheinander, was Richelieus Vorhaben erheblich erschwerte. Es verging einige Zeit bis er endlich fand, was er gesucht hatte. Die spanische Bibel.

Mit bebenden Fingern zog er es heraus, als die Kerzen jäh erloschen. Verwirrt drehte er sich um, da prallte etwas Schweres, Lebendiges, Atmendes gegen ihn. Ein Körper. Richelieu, völlig überrumpelt fiel zu Boden, wobei er die Bibel immer noch fest umklammert hielt. Fremde Hände griffen danach und versuchten es aus seinem Griff zu winden, doch instinktiv klammerte der Kardinal sich nur umso fester an seine Beute.

Richelieu versuchte auszumachen, wer da so erbittert gegen ihn focht, aber in der Finsternis der Bibliothek konnte er ihn nur schemenhaft ausmachen und das Gesicht schien nur eine dunkle Masse zu sein, weshalb Richelieu vermutete, dass er eine Maske trug. Doch als er versuchte, sie mit seiner freien Hand runterzureissen, wurde sein Handgelenk grob gepackt und umgedreht. Er stöhnte vor Schmerz, begann jedoch umso erbitterter Widerstand zu leisen.

Aber seine Kardinalsrobe taugte nur bedingt für einem Kampf und als er versuchte, den Angreifer mit seinen Beinen abzuwehren, verhedderte er sich hoffnungslos in dem Stoff und verrenkte sich die Glieder. Dennoch gelang es ihm irgendwie den Unbekannten von sich zu stossen und sich aufzurappeln.

Weit kam er jedoch nicht. Er war kaum ein paar Schritte gestolpert, da schlang sich ein Arm um seinen Hals und drückte ihm die Luft ab. Röchelnd rang der Kardinal um Atem, während dunkle Punkte anfingen vor seinen Augen zu tanzen. Panik stieg in ihm hoch. In was für eine Geschichte war er da geraten? Würde ihm nach all den langen gefahrvollen Jahren der Hofintrigen ein Abstecher in die Bibliothek das Leben kosten? Die Kräfte schwanden ihm und das vermaledeite Buch entglitt seinen Händen.

„Kardinal!“, schrie auf einmal eine Stimme, eine Stimme, die ihm mehr als bekannt vorkam. Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er jetzt die Augen verdreht. Warum musste er als Letztes ausgerechnet die laute Stimme von Captain Tréville hören? Warum nicht einen Chor singender Engel?

Letztendlich war Tréville aber doch die bessere Variante, denn ein Engel hätte es wohl kaum geschafft den Angreifer von ihm zu zerren. Kaum löste sich der Klammergriff von seinem Hals, schnappte er nach Luft und versuchte sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.

Tréville hatte den Maskierten gepackt, doch dieser wehrte sich wie ein wilder Tier und warf den Kopf in einer so heftigen Bewegung zurück, dass die Nase des Hauptmanns ein hässliches, knackendes Geräusch von sich gab. Vor Schmerz liess Tréville los und der Unbekannte stürzte sich so gleich auf die Bibel, die noch immer auf dem Boden lag. Richelieu tat jedoch im selben Moment dasselbe, mit dem Resultat dass sie die Köpfe zusammenstiessen.

Wieder sah Richelieu Sterne. Sein Kontrahent erholte sich schneller, schnappte sich das Buch und sprang auf. „Tréville! Haltet ihn auf!“, brüllte Richelieu. Der Hauptmann setzte dem Flüchtenden nach, doch dieser drehte sich jäh um und warf – wenn Richelieu es richtig sah- einen Kerzenständer nach dem Captain. Dieser tauchte zu wenig schnell ab. Besinnungslos sackte er zusammen, nachdem er hart am Kopf getroffen wurde.

Richelieu versuchte sich aufzurappeln, da spürte er auf einmal einen stechenden Schmerz am Hinterkopf. Und diesmal vermochte auch sein harter Schädel nicht zu widerstehen. Er folgte Tréville in das Reich der Träume.

Der Unbekannte drehte sich noch einmal um, wie um sich an den ungewöhnlichen Anblick zu weiden. Der Hauptmann der Musketiere und der Kardinal Richelieu lagen inmitten der Bibliothek der Königin und wären nicht ihre Kopfwunden gewesen, hätte man meinen können, sie würden friedlich schlafen. Ein ungewöhnliches Paar.

Dann verschwand der Angreifer so schnell, wie er gekommen war. 

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Constance stiess einen erleichterten Seufzer aus, als sie endlich in ihr Landhaus traten. Die letzten Stunden waren sie mehr durch den Wald gestolpert als gegangen und sie hatten immer wieder anhalten müssen, um Aramis Zeit zu geben Atem zu schöpfen. Dann war noch dieser verfluchte Regen gekommen und hatte ihnen die Rückkehr zusätzlich erschwert. Doch nun hatten sie es mit Glück oder Gottes Hilfe endlich ihr Ziel erreicht.

Aramis hatte fast den ganzen Weg lang geschwiegen. Hin und wieder hatten ihn furchtbare Hustenkrämpfe geschüttelt und das verzweifelte Ringen nach Atmen hatte ihm noch den letzten Rest an Kraft geraubt. Jetzt stand er stumm neben Constance. Er schien völlig lethargisch, mit fiebrig glänzenden Augen und bleichem Gesicht sah er sie nur müde an, als sei er unfähig, eigene Entscheidungen zu fällen. Sie fasste ihn sanft am Arm und führte ihn in das Schlafzimmer ihres Mannes, wo sie ihn auf das Bett drückte.

„Erst musst du aus diesen Kleidern raus“, sagte sie mit einer Munterkeit, die sie nicht im Geringsten verspürte.

Zu ihrer Freude glitt ein flegelhaftes Grinsen über sein Gesicht. „Du willst mich also ausziehen?“     

Sie schlug ihm spielerisch gegen den Oberarm. „Das hättest du wohl gern. Ich gebe dir die Kleider meines Mannes, aber umziehen wirst du dich gefälligst selbst.“

Wäre Aramis gesund gewesen, hätte er sicher noch einige schlüpfrige Bemerkungen losgelassen. Jetzt konnte man sehen wie ihn mit jedem Wort die Kraft verliess und so schwieg er erneut. Er blieb sitzen, während Constance einige Kleider von Bonacieux hervorkramte, die sie ihm auf den Schoss legte.

Während er sich umzog, ging Constance in ihr eigenes Zimmer, um sich ebenfalls trockene Sachen anzuziehen. Es fühlte sich gut an, sich aus den nassen Hüllen zu schälen und als sie ihre nassen Haare durchgekämmt hatte, fühlte sie sich wieder wie ein ganzer Mensch.

Als sie wieder in Aramis‘ Zimmer trat, lag dieser bereits im tiefen Schlaf. Unwillkürlich musste Constance lächeln. Die Erschöpfung hatte ihn wohl übermannt. Zwar hatte er es geschafft Stiefel und Hose auszuziehen, weiter war er aber nicht gekommen. Nur im Hemd lag er seitlich auf dem Bett, den Mund leicht geöffnet, die nassen Locken ein einziges Durcheinander.

„Du bekommst irgendwie immer was du willst, nicht?“, murrte Constance, als sie widerwillig die Aufgabe übernahm, für die viele der Hofdamen gestorben wären. Dennoch war es alles andere als romantisch einen Halbtoten zu entkleiden. Mit viel Mühe schaffte sie es das Hemd über seinen Kopf zu ziehen, wobei sie ihm beinahe den Arm brach. Ihm die neue Hose über die Beine zu ziehen, das brachte sie schliesslich nicht über sich. Stattdessen deckte sie ihn einfach zu und weil er so furchtbar zitterte, holte sie noch eine zweite Wolldecke, die sie über ihn ausbreitete. Er gab einige schläfrige, protestierende Laute von sich, schlug die Augen allerdings kein einziges Mal auf.

Besorgt fühlte Constance seine Stirn. Heiss, viel zu heiss. Sie musste dieses Fieber runterbringen. Musketiere waren zäh, wer wusste das besser als sie, aber auch der stärkste Mann konnte von einer Krankheit dahingerafft werden. Sanft strich sie ihm über die Wange. „Du musst wieder gesund werden. Deine Freunde werden mich ansonsten mit ihren Degen durch die ganze Stadt jagen. Und ich möchte nicht enden wie ein aufgespiesster Schmetterling.“

Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber sie glaubte ein Lächeln  auf Aramis‘ blassem Gesicht zu sehen und das liess sie Hoffnung schöpfen.

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