Wem die Stunde schlägt von LadyAramis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 10 BewertungenKapitel Was wahr ist und was wahr scheint
Kapitel 14
Was wahr ist und wahr scheint
Behutsam löste Porthos das Seil und fing den toten Körper in seinen Armen auf. Er hatte Dupont von dem Moment an gehasst, als er Aramis so feige verraten hatte, dennoch bettete er ihn mit grosser Umsicht auf den kalten Steinboden und schloss die blicklos starrenden Augen. So wirkten Roberts Züge friedlich, beinahe, als würde er nur schlafen und nicht, als habe er sich gerade selbst erhängt. Selbstmord war eine fürchterliche Sünde, aber Porthos fühlte nur Mitleid für diesen Mann, dessen Verzweiflung gross genug gewesen war, dass er sein Schicksal nicht mehr hatte ertragen wollen.
„Die Geister haben sich ihn geholt!“ Madame Liliths Stimme war ein hysterisches Kreischen, das fürchterlich in der leeren Kirchen widerhallte. Sie klammerte sich mit vor Entsetzen geweiteten Augen an Floh, die ein Gesicht machte, als sei die Wahrsagerin kein Mensch, sondern ein äusserst hässlicher und anhänglicher Hund.
Bevor Porthos eine unwirsche Antwort geben konnte, erklang eine samtene Stimme direkt hinter ihnen. „Aber, aber meine liebe Madame Lilith! Wir wollen doch nicht schon wieder von Geistern sprechen und schon gar nicht auf dem geweihten Boden einer Kirche!“
Alle drei wirbelten herum. Aus der Sakristei war ein Mann getreten, der Soutane nach zu schliessen handelte es sich um den Priester. Er kam mit federnden Schritten auf sie zu, wurde aber deutlich langsamer, als er den am Boden liegenden Mann erkannte. „Robert!“, hauchte er und kniete sich, mit sichtlicher Fassungslosigkeit, neben die Leiche.
Porthos musterte den Priester argwöhnisch. Es war ein hübscher Mann, wahrscheinlich in seinen frühen Dreissigern. Der dunkle Bart zeigte schon einige silberne Strähnen, was ihm aber ausnehmend gut kleidete. Sein Haar war ebenso dunkel und er trug es überraschend lang, bis zum Kragen. Es verlieh ihm etwas Wildes, Unberechenbares, das so gar nicht zu seinem Priestergewand passen wollte. Seine Züge waren durchaus schön zu nennen, auch wenn sie etwas Spitzes an sich hatten, wie bei einem Fuchs, und zusammen mit seinen schwarzen Augen, gab das ein durchaus angenehmes Gesicht, dass Porthos aus irgendeinem Grund wage bekannt vorkam.
Dennoch wich er unwillkürlich einen Schritt zurück. Jeder der vier Musketiere hatte eine ganz eigene Gabe, auf die er zurückgreifen konnte. Bei d’Artagnan war es sein verwegener Scharfsinn, bei Athos sein entschlossener, oft verzweifelter Mut und bei Aramis sein unwiderstehlicher Charme. Und bei ihm selbst war es sein Instinkt. Porthos war aufgewachsen an einem Ort, an dem Vertrauen in die falschen Leute tödlich sein konnte und deshalb verspürte er manchmal eine instinktive Abneigung gegen manche Menschen, die er sich selbst nicht so recht erklären konnte. Aber genau dieser Instinkt, hatte ihm schon oft den Hintern gerettet.
Bei dem Priester schlug genau dieser siebte Sinn aus.
Madame Lilith schien seine Abneigung zu teilen. Sie riss sich mit einem Ruck von Floh los und trat einen drohenden Schritt auf den Priester zu. „Diese Kirche ist verflucht, seitdem Ihr einen Fuss reingesetzt habt, Pater Jacques! Die Geister folgen Eurem dunklen Pfad und jetzt haben sie diesen unschuldigen Mann getötet!“
„Ich habe Euch schon einmal gesagt: Hört mit diesem unseligen Gerede aus! In der Kirche ist kein Platz für Euren heidnischen Glauben!“, zischte der Priester, der jetzt keineswegs mehr charmant wirkte, sondern eher wie eine Schlange kurz vor dem Angriff.
„Heidnisch? Ihr schimpft mich eine Heidin? Was seid denn Ihr? Teufelsgezücht! Höllenbrut!“ Bei jeder Beleidigung kam Madame Lilith einen Schritt näher. Ihre dürren Hände waren so verkrampft, dass es beinahe aussah als habe sie Krallen und ihr Blick war wild, geradezu irr. In der Befürchtung, sie wolle den Priester gleich an Ort und Stelle das Gesicht zerkratzen, streckte Porthos den Arm aus und hielt sie zurück. „Ich unterbreche diesen reizenden, religiösen Disput nur ungern, aber wenn ich die Anwesenden daran erinnern darf: Hier liegt ein Toter!“
Pater Jacques riss sich zusammen. „Verzeiht. Ich habe mich hinreissen lassen.“ Er warf Madame Lilith einen bitterbösen Blick zu, bevor er das Kreuzzeichen über dem Toten schlug und ein leises Gebet murmelte.
Madame Lilith stemmte sich gegen Porthos‘ Arm und für eine so zierliche Person hatte sie erstaunlich viel Kraft. „Die Geister! Sie sind überall und in der Nacht kommen sie aus ihren Löchern und greifen sich die unschuldigen Seelen!“
Dieses Gerede von Geistern riss an Porthos‘ ohnehin schon mehr als angespannten Nerven. „Floh, schaff sie bitte raus!“, befahl er. Die Diebin schien ohnehin froh zu sein, dem unheimlichen Schauplatz verlassen können. Sie schnappte Madame Liliths Arm und zerrte sie ohne grosses Federlesens aus der Kirche. Das Gezeter der Wahrsagerin war allerdings selbst durch die geschlossene Flügeltüre noch zu hören.
„Ihr kanntet den Mann?“, wandte sich Porthos an Jacques, der noch immer neben dem Toten kniete.
„Ja. Robert Dupont war eines meiner Schäfchen. Er hat oft bei mir gebeichtet“, seine Stimme brach, „oh, es ist meine Schuld!“ Er ergriff Roberts Hand und drückte sie an sein Herz, eine Geste, die rührend hätte sein wollen, Porthos jedoch eine Spur zu künstlich war.
„Und wieso ist es Eure Schuld? Habt Ihr ihn von der Empore gestossen oder was?“ Seine Stimme klang ärgerlicher, als gewollt. Robert Dupont hatte irgendetwas gewusst, irgendetwas, dass Aramis hätte vor der Verurteilung retten können. Und irgendwie hätte Porthos die Wahrheit schon aus ihm rausgeprügelt. Jetzt lag genau dieser Mann tot vor ihm und hatte sein Geheimnis mit in sein Grab genommen; hatte sich davongestohlen wie ein Feigling.
„Nein, natürlich nicht. Aber er hat sich schon lange mit dem Gedanken getragen, diese furchtbare Sünde zu begehen. Er hat es mir gebeichtet, dass er immer daran denken müsse. Aber ich dachte, es sei mir gelungen ihm auszureden, ihm klar zu machen, dass dies der falsche Weg ist.“ Jacques faltete Roberts Hände über seiner Brust, bevor er sich schliesslich erhob.
„Wieso? Wieso sollte ein Mann, ein tiefgläubiger Mann zudem, sich das Leben zu nehmen?“, fragte Porthos. Er verstand es nicht. Das Leben war es wert, das man darum kämpfte. Wie konnte es jemand einfach wegwerfen wie eine nutzlos gewordene Puppe?
Jacques zögerte. „Robert wollte Priester werden aber… nun ja, er hatte…nun, er hatte Neigungen, die nicht den Werten unseres Herren entsprechen.“
Seine salbungsvolle Sprechweise fing Porthos an auf die Nerven zu gehen. Er hatte es bedeutend lieber, wenn seine Gesprächspartner klar und deutlich sagten, was sie wollten, ohne dass man irgendwelche Orakelsprüche enträtseln musste. Diese Andeutung glaubte Porthos jedoch zu verstehen. Er kannte den mehr als skurrilen Wirt der „Fröhlichen Gans“ und er ahnte, was Roberts sündige Neigungen waren. Ein Priester, der Männer liebte. Das konnte in der Tat ein gefährliches Geheimnis sein.
„Und Ihr denkt, deshalb hat er sich umgebracht?“
„Ich fürchte es, ja. Auch wenn ich mir wünschte, dass es anders wäre. Denn wenn er es getan hat, leidet er nun in der Hölle.“
Porthos verzog unwillig den Mund. Nein, er mochte diesen Priester wirklich nicht. Er war ihm eine Spur zu fromm, zu glatt, zu freundlich. Und auf einmal glaubte Porthos es nicht mehr auszuhalten in der düsteren Kirche, mit diesem unsympathischen Mann und der Leiche zu seinen Füssen. „Ich werde den Leichenbeschauer schicken, damit er die Leiche so schnell wie möglich abholt. Bringt ihn an einen würdigeren Ort.“
Der Priester schob erstaunt die Augenbrauen zusammen. „Wieso soll der Leichenbeschauer ihn abholen?“ Seine Stimme war merklich schärfer geworden.
„Weil ich wissen will, ob es wirklich Selbsttötung war“, erwiderte Porthos energisch.
Sofort wurden die Gesichtszüge des Priesters wieder weicher. „Natürlich“, sagte er mit lammfrommen Augenaufschlag. Porthos verabschiedete sich mit einem kurzen Tippen an seinen Hutrand und verliess die Kirche dann mit schnellen, grossen Schritten. Als er in das Sonnenlicht trat, fühlte er sich gleich besser. Ohne einen Toten zu seinen Füssen fühlte er sich wesentlich besser.
Zumindest bis sich Madame Lilith sich ihm förmlich an den Hals schmiss. „Ihr müsst diesen Teufel einsperren! Ihn zurück in seine Hölle schicken!“ Porthos zuckte zusammen. Ihre schrille Stimme war sonst schon schwer zu ertragen, aber wenn sie ihm so direkt ins Ohr kreischte, war es, als wolle sein Gehirn zerplatzen.
Ärgerlich schob er sie von sich. „Madame, das ist kein Teufel, sondern ein Priester. Auch wenn ich zugeben muss, dass der Unterschied zwischen diesen beiden Dingen manchmal gering ist.“
Madame Lilith hielt seine Schultern noch immer mit ihren Klauenhänden umfasst. „Glaubt mir, er ist ein Mörder! Ein Dämon in Menschengestalt“, beschwor sie ihn und ging dazu über ihn leicht zu schütteln. Porthos packte mit einem gequälten Blick Richtung Floh, welche die Szene grinsend beobachtete, Madame Liliths Hände.
„Beruhigt Euch doch! Was auch immer hier geschehen ist, seid versichert, wir werden es rausfinden.“ Auch wenn ich bezweifle, dass da ein Dämon im Spiel gewesen ist, ergänzte er in Gedanken. Aber wenn Roberts Selbstmord nichts mit Francis Tod zu tun hatte, würde er einen Besen mitsamt Stil verschlingen.
Seine Worte schienen Madame Lilith zu beruhigen. „Ihr wollt den Kampf gegen diesen Dämon aufnehmen?“
Porthos konnte sich gerade noch davon abhalten, den Kopf gegen die Kirchenmauer zu schlagen. Schon wieder dieses Gefasel von Dämonen! Mit dieser verrückten Alten liess sich einfach nicht vernünftig reden. „Wenn Ihr es so sehen wollt, ja.“
Madame Lilith nestelte nervös an ihrem Schal. „Gut, gut.. Und ich werde die Geister des Schicksals befragen, um ebenfalls meinen Teil im Kampf gegen das Böse beizutragen“, versprach sie mit strahlender Miene. Floh nickte bestätigend. „Und am besten befragt Ihr die Geister in Eurem Heim, Madame Lilith. Hier ist es vielleicht zu laut, um sie zu hören“, schlug Floh vor und in ihrer Stimme war nicht die geringste Spur von Spott zu hören.
„Da habt Ihr Recht, meine Gute“, Madame Lilith tätschelte Flohs Arm, bevor sie sich endlich anschickte, zu gehen. Porthos unterdrückte einen erleichterten Seufzer. Diese Frau am frühen Morgen auf so gut wie nüchternen Magen, war einfach zu viel für ihn.
Plötzlich drehte sich die Wahrsagerin noch einmal um. Ihr Blick richtete sich eindringlich auf Porthos und auf einmal wirkte sie nicht mehr hysterisch, sondern klar und gefasst. „Ihr solltet Euren Freund so schnell wie möglich aufsuchen. Ihr wisst schon, der welcher sich im Verborgenen halten muss. Er ist an der Grenze zwischen Tod und Leben.“ Und damit verschwand sie in der Menschenmenge.
Es war, als falle ein schwerer Stein in Porthos‘ Magen. Aramis. Woher wusste sie nur, dass er sich verstecken musste? Das konnte sie doch gar nicht wissen! Und wenn sie das weiss, dachte Porthos mit fiebrig klopfendem Herzen, dann hat sie vielleicht auch Recht mit seiner Krankheit. Sie hat mich schon einmal gewarnt! Es ging ihm schon während der Verhandlung schlecht. Was wenn er…wenn er….
Floh legte ihm eine federleichte Hand auf den Arm. „Porthos! Komm zu dir! Du zitterst ja wie Espenlaub!“
„Aramis! Ich muss zu ihm, es geht im schlecht, er braucht mich jetzt!“, stiess Porthos hervor und er wusste, er klang genauso wirr wie Madame Lilith. Aber er konnte keine klaren Worte denken, er sah nur das blasse Gesicht Aramis‘, die fiebrig geröteten Wangen und seine zitternden Hände. Mit einer jähen, schrecklichen Gewissheit wusste er, dass Madame Lilith die Wahrheit sprach. Sein bester Freund war schwer erkrankt.
Floh nahm sein Gesicht in ihre kühlen Hände. „Porthos, hör mir zu: Niemand kann ihn die Zukunft sehen. Diese Frau ist verrückt, völlig von Sinnen. Sie kann gar nicht wissen, wie es Aramis geht.“
„Aber…sie weiss, dass er auf der Flucht ist…“
Sie verdrehte die Augen. „Sei doch kein Schaf! Sie wird aufgeschnappt haben, dass ein Musketier entflohen ist und sich gedacht haben, dass du ihn kennst. Und es ist nun wahrlich nichts Neues, dass manche im Kerker krank werden. Diese Schwindlerinnen haben ihre Ohren überall und reimen sich dann irgendwelche Geschichten zusammen. Und manchmal landen sie eben einen Glückstreffer! Da ist kein Grund sich verrückt zu machen.“
Floh hatte Recht, sie hatte vollkommen Recht. Die Vernunft sagte ihm, dass sie Recht haben musste. Aber sein Herz sprach etwas anderes. Aramis brauchte ihn. Das spürte er mit einer Sicherheit, die wehtat. „Ich muss zu ihm“, beharrte Porthos, „ich sollte schon bei ihm sein. Ich wusste, dass er krank ist und trotzdem habe ich ihn allein gelassen und…“
„Du hast ihn nicht allein gelassen“, unterbrach Floh ihn ungehalten, „er ist bei Constance. Und es hat einen Grund, warum du nicht zu ihm gehen solltest. Wir wissen nicht, ob der Kardinal vielleicht Spione auf dich angesetzt hat. Was wenn sie dir folgen und du sie direkt zu Aramis führst? Diesmal würde der Kardinal keine Zeit verlieren und ihm noch vom Krankenbett aufs Schafott zerren! Und dich gleich mit! Ich beschwöre dich, Porthos: Mach jetzt keine Dummheiten!“
Langsam beruhigte sich Porthos‘ Herzschlag. Floh sprach vernünftig. Das war sie immer schon gewesen. Wagemutig genug, um Seite an Seite mit ihm zu kämpfen, aber klug genug, um zu wissen, wann es Zeit zum Flüchten war. Sie war immer die bessere Strategin gewesen als er, der nur mit seinem Herzen dachte und auch danach handelte.
Er fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Locken. „Verzeih. Ich bin manchmal ein Dummkopf. Ich mache mir einfach nur solche Sorgen um ihn.“
Sie strich ihm tröstend über die Wange. „Du hast Angst. Und Angst ist der schlechteste aller Ratgeber, Porthos. Wobei, es gibt noch einen schlechteren.“
„Und der wäre?“
„Durchgeknallte Wahrsagerinnen.“
Porthos konnte nicht anders, als zu lächeln. Floh verstand es immer, ihn aufzumuntern. Und dennoch, dachte er, irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich nicht da bin, wo ich sein sollte.
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Er war mit seinen Freunden auf einer Waldlichtung. Die Stimmung war ausgelassen, der Wein floss in Strömen, selbst Athos lachte aus ganzen Herzen. Porthos sass neben ihm und hatte den Arm um seine Schultern gelegt. „Alles ist gut“, flüsterte er ihm ins Ohr, „alles ist gut, Aramis!“ Und er glaubte ihm. Zum ersten Mal seit Tagen war er richtig glücklich.
Constance und d’Artagnan tanzten eng umschlungen, als gebe es keinen eifersüchtigen Ehemann, keine gesellschaftlichen Regeln, kein Hindernis mehr. Nur noch ihre Liebe. Constance löste sich anmutig aus d’Artagnans Armen und drehte sich, drehte sich so schnell, dass ihr Rock sich aufblähte und ihre Locken im Wind tanzten.
Auf einmal hörte Aramis ein Geräusch und zu seinem Entsetzen sah er Wildschweine, die sich aus dem Geäst schälten. Ihre glühenden Augen richteten sich begehrlich auf Constance, welche so in ihre Gedanken versunken war, dass sie die geifernden Viecher nicht bemerkte.
„Constance, pass auf!“, schrie er, doch sie hörte nicht auf ihn. Und auf einmal wurde die sonnenbeschienene Waldlichtung zu einer dunklen Gasse, seine Freunde verschwanden und er war alleine mit Constance und den Wildschweinen. Hilflos musste er mitansehen, wie sich die Hauer eines riesigen Wildschweines in ihren Rücken bohrten. Sie formte mit ihrem Mund ein erstauntes ‚O‘ bevor sie blutüberströmt zu Boden sank.
„Constance!“ Blind vor Tränen stolperte er auf sie zu, sank neben ihr auf die Knie und drehte sie um. Aber es war nicht mehr Constance, die in seinen Armen lag, sondern Anna, die ihn mit leeren Augen anblickte. Und nicht ihr Rücken war verletzt, das Blut rann ihren Schenkeln entlang, eine nicht enden wollender roter Strom. Ihm drehte sich der Magen um. Das Kind, sie verlor das Kind, den Erben des Königreichs…sein Kind!
Ihre schönen Lippen öffneten sich. „Aramis“, hauchte sie, „Aramis, du musst es Porthos sagen!“
Und dann wandelten sich Annas Züge. Francis sah ihn an, mit Augen, aus denen langsam das Leben wich. Die kalte Hand tastete nach seiner. „Porthos…“, sagte er mit ersterbender Stimme.
„Porthos!“
„Aramis! Aramis, wach auf! Um Himmels willen, wach auf!“
Er schlug die Augen auf. Constance hatte ihn fest bei den Schultern gepackt und schüttelte ihn so heftig, dass ein gequältes Keuchen seiner Lunge entwich. Sofort liess sie ihn los und griff stattdessen nach der Tasse, die sie neben das Bett gestellt hatte. Unwillig verzog er den Mund. Sie weckte ihn immer wieder, um ihm das grässliche Zeug einzuflössen und auch wenn er dadurch seinen immer wilder werdenden Träumen entkam, fiel es ihm zunehmend schwer, den bitteren Tee zu schlucken.
Constance war jedoch unnachgiebig. Sie blieb auf der Bettkante sitzen und beobachtete mit Argusaugen, wie er die Tasse an seine Lippen führte. Als sie sah, wie seine Hand zitterte, umschloss sie wortlos seine Finger mit den ihren, während ihre andere Hand seinen Kopf stützte. Er schämte sich, dass er ihre Hilfe in Anspruch nehmen musste, aber er fühlte sich durch das Fieber und die Alpträume geschwächt. Er schaffte einige Schlucke, bevor er den Kopf zurück in die Kissen sinken liess. „Danke“, murmelte er.
Sie stellte die Tasse weg. „Du hast furchtbar geschrien.“
„Ich hab nur geträumt“, erwiderte er ausweichend. Er wollte nicht darüber reden und sie drang auch nicht weiter in ihn. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie heiss ihm immer noch war. „Mir ist heiss“, stöhnte er, „wieso ist es hier so heiss?“
„Das ist das Fieber“, erklärte sie ihm geduldig, als sei er ein nörgeliges Kind.
Stimmt, er hatte ja Fieber. Das erklärte, warum sich sein Körper anfühlte, als würde er brennen. Und warum er sich so schlapp fühlte, wie ein ausgewrungener Waschlappen. Wieso habe ich Fieber, überlegte er, während Constance seine Bettdecke hob und mit flinken Fingern, seine Wadenwickel erneuerte. Dann kam es ihm wieder in Sinn. Der Kerker, die Verhandlung, seine schmerzende Lunge, die Flucht, das Wildschwein.
„Was wohl aus ihm geworden ist“, überlegte Aramis laut.
„Aus wem geworden ist?“
„Aus dem Wildschein. Ob es jetzt tot ist?“ Das arme Tier. Ermordet. Erstochen. Ach ja, deswegen war er doch im Gefängnis gelandet. Weil Richelieu behauptet hatte, er habe das Wildschwein erstochen und es war sein Lieblingswildschwein gewesen. Nein, das war Blödsinn. Irgendjemand anders war erstochen worden.
Constance schnaubte. „Mein Mitleid mit dem Vieh hält sich ehrlich gesagt in Grenzen.“
Aramis wollte etwas erwidern, aber ein neuer Hustenanfall liess ihn sich aufbäumen. Er keuchte, hustete, rang nach Luft, während er seine Hand auf die schmerzende Brust presste. Gott, er fühlte sich, als sei er ein alter Mann. Constance wartete bis der Husten verebbt war, dann half sie ihm sich wieder hinzulegen.
Da kam es ihn in den Sinn. „Er ist tot.“
Sie strich ihm fürsorglich die schweissverklebten Locken aus der Stirn. „Wer ist tot.“
„Francis.“
Erschüttertes Schweigen folgte. Ohne ein Wort tauchte Constance einen weiteren Lappen in die Wasserschüssel und begann, sein Gesicht zu waschen. Das kühle Nass fühlte sich himmlisch an und er schloss mit einem erleichterten Seufzen die Augen. Constance war ein nettes Mädchen, schade, dass sie eine mörderische Agentin des Kardinals war. Nein, das war anders gewesen, das war nicht Constance gewesen, sondern eine andere Frau, eine gefährliche Frau mit grünen Katzenaugen. Frauen mit grünen Augen waren sowieso gefährlich.
„Aramis?“
„Hm?“
„Ich denke, ich werde einen Arzt rufen müssen. Dein Husten klingt schlimm und dein Fieber steigt. Du brennst förmlich.“ Constances Stimme klang ruhig und entschlossen, aber Aramis riss erschrocken die Augen auf und griff hastig ihre Hand.
„Bitte nicht“, flehte er und ärgerte sich, wie schwach und kindlich er sich anhörte, „bitte, ruf keinen Arzt!“
Sie drückte seine Hand. „Sei doch vernünftig, Aramis. Du glühst inzwischen so, dass ich Eier auf dir braten könnte.“
Aber Aramis schüttelte den Kopf. Er wollte keinen Arzt und er hatte gute Gründe dafür. Als Athos einmal schlimm angeschossen worden war, hatten sie ihm den Händen eines Arztes anvertraut und es hatte ihnen beinahe Athos‘ Leben gekostet. Der Quacksalber hatte Athos so oft zur Ader gelassen, dass dieser fast blutleer gewesen war, als Aramis endlich den Arzt mit einen Tritt zur Tür hinaus befördert hatte, um Athos selbst zu pflegen. Das Bild des totenbleichen, nur noch schwach atmenden Athos, verfolgte ihn noch immer in seinen Träumen.
„Bitte nicht“, wiederholte er leise.
„Du braucht einen Arzt. Du bist fiebrig und verwirrt.“
„Ich bin nicht verwirrt“, widersprach er trotzig. Mit einem begütigenden Lächeln legte sie seine Hand zurück in seinen Schoss und legte ihm ein kühlendes Tuch auf seine Stirn.
„Du bringst schon einiges durcheinander. Und deine Fieberträume werden auch immer heftiger.“
„Da kann mir der Arzt auch nicht helfen.“
„Und abgesehen davon verwandelst du dich immer mehr in ein kleines Kind. Hör auf mit mir zu streiten, Aramis. Deine Freunde haben dich mir anvertraut und ich würde ihnen ungern mitteilen, dass du mir unter den Händen weggestorben bist, nur weil du zu stur warst, um einen Arzt an dich ranzulassen!“
Ihre Stimme war keineswegs mehr sanft, sondern hatte einen stählernen Klang. Ihre braunen Augen blitzen und als er Anstalten machte, sich aufzurichten, um zumindest den letzten kläglichen Rest seiner Würde wiederzuerlangen, legte sie die Hände unerbittlich auf seine Schultern und drückte ihn zurück auf das Bett. „Schlaf jetzt!“
„Du kommandierst schlimmer als Tréville!“
„Und du bist ein noch schlechterer Patient als d’Artagnan!“
Er hätte ihr gerne widersprochen, aber die Erschöpfung brach in Wellen über ihm zusammen. Widerstandslos sank er in den Schlaf. Nur noch ganz entfernt spürte er wie Constance fürsorglich die Decke über ihn zog und ihm über die schweissnassen Haare strich, als sei er ein krankes Kind und kein erwachsener Musketier.
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„Der Kardinal wurde überfallen? In der Bibliothek?“ d’Artagnan mochte es kaum glauben, was Tréville ihnen da erzählt hatte. Die Geschichte kam ihm abenteuerlich, ja gar bizarr vor. Auch wenn die Vorstellung eines sich am Boden wälzenden Kardinals durchaus seine Reize hatte.
Tréville stützte sich schwer auf seinem Schreibtisch, immer ein Zeichen dafür, dass ihm etwas quer im Magen lag. Das Sonnenlicht, das in schrägen Strahlen durch das Fenster fiel, enthüllte die Sorgenfalten auf seinem Gesicht. Die letzten Tage hatten auch ihre Spuren an dem unverwüstlichen Captain hinterlassen. „Es war eine Frau. Mehr kann ich zu dem Angreifer nicht sagen. Sie ist uns entwischt.“ Man sah ihm an, wie sehr ihn das grämte.
„Eine Frau?“, wiederholte d’Artagnan verblüfft.
Tréville wirkte mit einem Mal genervt. „d’Artagnan, du brauchst nicht alles zu wiederholen, was ich sage. Das macht die ganze Sache nicht unbedingt besser.“
Athos war d’Artagnans Retter aus der Not. „Ihr sagtet, der Kardinal habe einen Brief von Francis bekommen. Wie konnte die Angreiferin davon wissen? Beziehungsweise: Wie konnte sie wissen, was in dem Brief stand?“
Die Frage schien den Captain allerdings noch mehr zu reizen. „Wenn ich das wüsste, wäre ich jetzt wohl kaum hier, sondern gerade dabei die Angreiferin in Ketten zu legen! Alles was ich weiss ist, dass diese Zofe Marie, Francis‘ Nichte, den Brief zum Kardinal gebracht hat. Angeblich ohne ihn zu öffnen.“
Der Name Marie berührte etwas in d’Artagnans Gedächtnis. Irgendwo hatte er ihn in den letzten Tagen aufgeschnappt. Allerdings war Marie nicht gerade ein seltener Name. Nun, es würde ihm schon wieder einfallen, wenn es wichtig gewesen war.
„Immerhin schränkt das den Kreis enorm an. Wir wissen, dass eine Frau involviert ist, die sich frei am Hof bewegen kann.“ Athos zog wie üblich schnell seine Schlüsse.
„Du denkst, es sind mehrere?“, fragte d’Artagnan und vor seinem geistigen Auge tauchten gleich mehrere in dunkle Mäntel gehüllte Frauengestalten auf, die sich in den Ecken des Palastes rumdrückten.
„Ich denke“, sagte Athos langsam, als müsse er jedes Wort einzeln abwägen, „dass die Sache grösser ist, als wir angenommen haben. Geheimnisvolle Botschaften, die hinterlegt werden, ein Palastbewohner, der seine Finger im Spiel hat…Das klingt sogar nicht nach einem einfachen Mord aus Leidenschaft.“
„Der Kardinal und ich sind zum selben Schluss gekommen. Francis hatte ein schwerwiegendes Geheimnis, das ihn am Ende, das Leben gekostet hat. Wir müssen nur noch rausfinden, was für ein Geheimnis das gewesen ist.“ Es klang seltsam, wenn Tréville die Wendung der Kardinal und ich gebrauchte. Aber gemeinsam gegen eine Frau den Kürzeren zu ziehen, schweisste offenbar zusammen.
„Also schliessen wir Ellen aus dem Kreis der Verdächtigen aus?“, erkundigte sich d’Artagnan und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme enttäuscht klang. Diese Frau hatte mit ihren Lügen so viel angerichtet, dass er sie nur zu gerne als Mörderin entlarvt hätte.
Athos saugte nachdenklich an seiner Unterlippe, was ihn für einen Moment aussehen liess wie eine traurige Kuh. „Nein, ich würde sie noch nicht als Täterin ausschliessen. Sie lügt. Das würde sie nicht tun, wenn sie nichts zu verbergen hätte.“
Wie aufs Stichwort polterte Porthos in den Raum hinein. Das war ungewöhnlich. Niemand wagte es, ohne sich anzumelden oder gar ohne zu klopfen, Trévilles heilige Hallen zu betreten. Der Captain öffnete auch schon den Mund zu einer strengen Ermahnung, doch die blieb ihm im Halse stecken, als er sah, wie bleich der Musketier war. „Porthos! Ist etwas geschehen?“
Athos ergriff mit einem besorgten Blick Porthos‘ Ellbogen und führte ihn zu einem Stuhl. „Setz dich“, befahl er, „du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenbrechen!“
Porthos winkte die besorgten Avancen seiner Freunde ab, nahm den Becher Wasser, den d’Artagnan ihm reichte mit einem dankbaren Lächeln an. „Robert Dupont ist tot“, sagte er schliesslich, nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte.
Langsam schwindelte es d’Artagnan von dem Tempo, mit dem sich die Ereignisse überschlagen. Nächtliche Überfälle in der königlichen Bibliothek, Tréville und der Kardinal ein Herz und eine Seele, Aramis und Constance gemeinsam im Exil und jetzt noch ein Toter. „Ja, hört das denn gar nicht mehr auf?“, entfuhr es ihm, bereute es aber gleich. Das war wohl kaum die angemessene Art auf eine Todesnachricht zu reagieren.
Athos verschwendete allerdings auch keine Zeit mit Beileidsbekundungen. „Ermordet?“, fragte er nur.
„Ich habe ihn gefunden. Baumelte an einem Seil von der Empore der Kirche Sankt Martin.“ Porthos‘ Stimme klang rau, ein Zeichen dafür, wie nah ihm das alles ging. Porthos hatte ein gutmütiges Herz, obwohl seine riesige Gestalt viele glauben liessen er sei grob und roh. D’Artagnan berührte tröstend seine Hand und Porthos rang sich ein Lächeln für ihn ab. Wohl zum tausendsten Mal wünschte d’Artagnan, Aramis wäre hier. Er hätte irgendeinen blöden, unpassenden Witz gerissen um Porthos zum Lachen zu bringen und es wäre ihm zweifellos gelungen.
„Denkst du, er hat sich selbst gerichtet?“ Noch immer klang Athos kühl und zurückhaltend, als würden sie gerade über die neueste Garderobe des Königs plaudern. Seine Hand lag jedoch noch immer fest auf Porthos‘ Schulter. Manchmal konnte seine Gefühlskälte einem rasend machen, doch wenn man ihn wirklich brauchte, war er da, eine stille und tröstende Präsenz im Hintergrund.
„Der Priester meint, er habe schon lange mit dem Gedanken gespielt. Hat angeblich in der Beichte darüber gesprochen.“
Der Zweifel in seiner Stimme war für alle deutlich zu hören. „Aber das glaubst du nicht?“, erkundigte sich d’Artagnan.
„Ich weiss nicht…wenn Robert so gläubig war und sogar Priester werden wollte, wieso sollte er dann so eine Todsünde begehen, wie sich selbst umzubringen? Das macht doch keinen Sinn. Und dieser Pfaffe! Also irgendwie ist der…seltsam.“ Porthos hob ratlos die Schultern.
„Irgendjemand hat Robert unter Druck gesetzt, so dass dieser seine Aussage geändert hat. Aber jeder Trottel konnte sehen, dass ihm unwohl dabei war. Vielleicht hatte derjenige, der ihn bedroht hat, Angst, dass er ihn verrät. Und hat ihn schliesslich gleich selbst kaltgemacht!“
D’Artagnan war ziemlich stolz auf seine Theorie, aber Tréville sah ihn mit einem so ungläubigen Gesichtsausdruck an, dass er schon glaubte, sich gleich wieder einen Vortrag über seine blühende Fantasie anzuhören. Wider Erwarten nickte der Hauptmann und belohnte ihn mit einem Lächeln. „d’Artagnan, manchmal denke ich, du bist ein verkanntes Genie! Genau so, könnte es gewesen sein!“
Athos, der alte Miesmacher, war jedoch nicht so beeindruckt. „Meine Herren, wir verwenden entschieden zu oft die Worte könnte, hätte und vielleicht. Wir brauchen endlich Gewissheit!“
„Du hast Recht, Athos“, seufzte Tréville, „mir sind da inzwischen zu viele Figuren auf dem Spielbrett: Aramis, Francis, der Kardinal, die geheimnisvolle Unbekannte, Robert Dupont, Ellen, Marie…alle scheinen miteinander verwoben zu sein. Wir müssen versuchen zumindest eine Seite des Netzes aufzutrennen.“
„Ich bin dafür, dass wir Ellen endlich richtig in die Mangel nehmen. Sie muss uns sagen, was sie weiss“, sagte Athos in diesem entschiedenen Tonfall, der klar machte, dass er es sich gewohnt war, dass man seinen Befehlen Folge leistete.
„Oh“, sagte Porthos da plötzlich, „das hätte ich vor lauter Toten beinahe vergessen: Ich habe ganz nebenbei Ellens süsses Geheimnis entdeckt…“
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