Wem die Stunde schlägt von LadyAramis

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Kapitel "Wir können doch über alles reden!"

Kapitel 15

„Wir können doch über alles reden!“

 

„Wieso verlobt man sich mit zwei Männern?“, fragte d’Artagnan, der immer noch wie betäubt wirkte, von all den Enthüllungen, die in den letzten paar Stunden gemacht worden waren. Athos selbst hatte sich noch nicht ganz erholt. Wenn das alles hier ausgestanden war, würde er sich von Tréville ein paar freie Tage erbeten. Er wurde langsam zu alt für diese Intrigen und ihre kleine Gemeinschaft schien ständig in solche zu stolpern.

„d’Artagnan, das habe ich dir schon erklärt: Alain de Crécey hat Geld wie Heu, ist aber wahrscheinlich, an seinem Alter gemessen kein so angenehmer Liebhaber, wie es der schöne Francis gewesen ist. Ellen wollte eben einfach beides haben“, erklärte Porthos ungeduldig. Die Art, wie Porthos die Zügel hielt und auf seinem Sattel rumrutschte, zeigte Athos deutlich, dass er nervös war. Das war ungewöhnlich für den sonst so unerschrockenen Musketier, aber seit er den toten Dupont gefunden hatte, schien er ganz aufgelöst.

Wieder bewies d’Artagnan seine Naivität, als er in der reinsten Unschuld den Schluss zog: „Aber dann hat sie Francis ja gar nicht geliebt!“

In scherzhafter Dramatik stiess Athos einen schweren Seufzer aus und schüttelte den Kopf, als sei d’Artagnan ein Schuljunge, der gerade eine amüsante, allerdings falsche Feststellung gemacht hatte. „Ich sage es dir ungern, aber es gibt tatsächlich Menschen, die aus Motiven wie Gier handeln. Weisst du, nicht jede Prinzessin gibt ihren Stand auf um den armen Bauern zu heiraten. Die meisten Prinzessinnen wollen Prinzessinnen bleiben oder gar Königin werden.“

„Ellen ist aber keine Prinzessin.“ D’Artagnan hatte wohl heute wirklich seinen begriffsstutzigen Tag.

„Das war sinnbildlich gesprochen, mein Junge.“

„Bei deinen Sinnbildern kommen Frauen immer schlecht weg.“

Athos setzte ein gespielt nachdenkliches Gesicht auf. „Woran das wohl liegen könnte…“

„Vielleicht daran, dass deine Frau ständig versucht dich zu ermorden?“, schlug d’Artagnan grinsend vor.

Es war schon merkwürdig. Noch vor einem Jahr hatte allein die Erinnerung an Milady gereicht um ihn in eine schwere Krise zu stürzen und jetzt scherzte er mit d’Artagnan über die schlimmste Zeit in seinem Leben. Der Bauernjunge aus der Gascogne war wie ein Sturm in sein Leben geweht und hatte ihm die Sonne gleich mitgebracht.

„Lasst doch dieses Gerede“, brummte Porthos übellaunig. Wenn er nicht einmal zu Witzen aufgelegt war, stand es wahrlich schlecht um seinen Seelenzustand.

D’Artagnan schien ähnlich zu denken. Er trieb sei Pferd direkt neben das von Porthos und stiess ihm spielerisch den Ellbogen in die Rippen. „Du warst lange nicht mehr bei der schönen Engländerin, nicht wahr Porthos? Vermisst du sie schon?“

„Ich hatte in den letzten Tagen anderes zu tun als ein Schäferstündchen zu halten. Ich weiss nicht ob’s euch aufgefallen ist, aber unser Freund steht unter Mordverdacht!“

„Porthos, jetzt sei nicht so grantig! Wir tun alles um Aramis‘ Unschuld zu beweisen und keiner von uns hat irgendwelche Mühen gescheut um ihn aus dem Gefängnis zu holen!“, wies Athos seinen Freund zurecht. Ihm gefiel der harte Zug um Porthos‘ Mund ebenso wenig, wie die immer noch herrschende Blässe in seinem Gesicht.

Porthos schien einer scharfen Entgegnung ansetzen zu wollen, überlegte es sich dann aber scheinbar und sagte stattdessen mit etwas sanfterer Stimme. „Verzeiht. Es ist nur…“ Er liess den Satz unbeendet und seine dunklen Augen blieben nachdenklich am Himmel hängen, als könnten sie dort die Worte finden, die ihm jetzt fehlten.

D’Artagnans Übermut schwand sichtlich und er klang vollkommen ernst, als er meinte: „Du bist eben ein guter Freund, Porthos. Wenn es einem von uns schlecht geht, leidest du aus purer Loyalität mit. Aber Aramis ist jetzt in Sicherheit. Du brauchst nicht mehr mit dieser Leichenbittermiene herumzurennen.“

„Leichenbitter? Wo hast du denn das Wort aufgeschnappt“, fragte Porthos spöttisch, aber nicht halb so bissig wie vorher.

„Ich bin eben ein gebildeter Mann“, prahlte d’Artagnan und warf sich stolz in die Brust, eine Geste, die vielleicht überzeugend gewirkt hätte, wenn ihm nicht in diesen Moment ein Ast über das Gesicht gewischt wäre. Sein Schwall an Fluchworten zeugte allerdings tatsächlich von einem sehr reichhaltigen Vokabular.

„Bildung und Einbildung sind zwei verschiedene Dinge“, frotzelte Athos.

„Sagt der Mann, der ständig Lateinisch spricht einfach um zu beweisen, dass er es fehlerfrei kann“, schoss d’Artagnan gleich zurück.

„Aus dir spricht nur der pure Neid.“

„Wenn ich wählen könnte zwischen meinem jugendlich guten Aussehen und deinen Lateinkünsten, fällt mir die Wahl nicht schwer.“ D’Artagnans Schlagfertigkeit stand seiner eigenen in nichts nach, das musste er ihm lassen. Und seine Dreistigkeit war inzwischen sowohl am Hof als auch in der Garnison legendär.

„Wenn du ihn weiterhin so beleidigst, wirst du bald kein jugendlich gutes Aussehen mehr haben, weil er dir nämlich die Faust in dein hübsches Gesicht rammen wird“, warnte ihn Porthos mit einem halbherzigen Lachen. Athos freute sich, dass ihre Kabbeleien nun doch endlich ihren Zweck erfüllten. Porthos wachte langsam aus seinen trübsinnigen Gedanken auf.

„Ich nehme an, das Alter wird langsam auch Auswirkung auf die Härte seiner Schläge haben“, triezte d’Artagnan unbeirrt weiter.

„So alt ist Athos nun auch wieder nicht“, lachte Porthos.

Doch das Lachen verging ihm schnell, als d’Artagnan ihn hochmütig von oben bis unten musterte und dann, in demselben bissigen Ton, den Porthos vorher angeschlagen hatte sagte: „Du bist sogar ein paar Jährchen jünger als Athos und deine Faustschläge sind bei Gott auch nicht mehr das, was sie mal waren!“

„Du kleine Kröte!“, rief Porthos aus und wollte d’Artagnan einen Hieb gegen die Schulter versetzen, doch dieser hatte seinem Pferd schon die Sporen gegeben und jagte in einem Höllentempo davon. Porthos setzte ihm nach, fluchend und lachend zugleich; ein Bild von Freiheit und Wildheit. Athos dachte einen Moment noch wie kindisch das alles sei, dann ritt er seinen beiden Freunden nach; genoss den Wind, der durch seine Haare fuhr und dachte, dass nur ein Musketier wissen konnte, wie es sich anfühlte wahrlich frei zu sein.

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„Eigentlich ist es nur ein feiner, oberflächlicher Schnitt, der ohne grössere Probleme heilen sollte. Aber man sollte immer vorsichtig sein! Auch kleine Wunden können sich entzünden und das kann zu hohem Fieber führen, was wiederum…“

„Danke, Bruder Mathias. Ich brauche keine weiteren Schauergeschichten. Ich habe mich an einem Papier geschnitten und bin ziemlich sicher, dass ich es überleben werde“, unterbrach der Abt Guillaume ihn ungeduldig und wedelte ungeduldig mit der Hand, eine Geste, die Mathias schon schmerzhaft vertraut war.

Mathias biss sich auf die Lippen und senkte den Blick. Es war wirklich zu schade, dass niemand seine Sorgen ernst nahm. Alle hier gingen so schrecklich sorglos mit ihrem Körper und ihrer Gesundheit um, dass es nicht immer leicht war seinen Aufgaben als Heiler nachzugehen. Ihre Schmerzen liessen sie gerne von ihm behandeln, aber seine guten Ratschläge wehrten sie mit eben diesem nachlässigen Winken ab.

„Auch der grösste Held kann von einer kleinen Wunde sterben. Denkt an Achilles und seine Ferse!“, mahnte Mathias besorgt, während er einen Verband um den Finger legte. Er zog ihn kräftig an und übertrieb es wohl etwas mit den Umdrehungen, denn am Ende war Guillaumes Finger etwa dreimal so dick. Aber Mathias war zufrieden mit seinem Werk. Manchmal bluteten solche Schnitte sehr stark, mochten sie auch noch so klein sein. Jetzt würde sein Abt zumindest nicht mehr verbluten.

Guillaume jedoch stiess einen schweren Seufzer aus, als er seinen riesigen verbundenen Finger sah. „Mathias, Ihr geht Euren Pflichten mit bewundernswerter Eile nach, aber manchmal wünschte ich mir, Ihr wärt eine Spur weniger ängstlich.“

„Wenn es um die Gesundheit geht, kann man nicht vorsichtig genug sein“, beharrte Mathias trotzig.

Es schien ihm, als wollte Guillaume antworten, doch in dem Moment klopfte es an die Tür. „Herein“, rief der Abt mit seiner wohlklingenden, väterlich anmutenden Stimme. Ein schmutziger Junge, in dem Mathias den Taugenichts Felix erkannte, der sich sein Geld damit verdiente Botengänge zu machen und Ställe auszumisten. Mathis rückte zur Sicherheit noch etwas mehr von ihm ab. Der Kerl war ein Dreckspatz und wer wusste schon so genau, wo er schon überall herumgekrochen war und gerade Pferde hatten etwas so furchtbar Schmutziges an sich.

Guillaume schien solche Bedenken nicht zu kennen. Er reichte Felix mit einem freundlichen Lächeln die Hand. „Grüss dich Gott, mein Junge. Was führt dich diesmal in unser Kloster?“

Felix grinste und zeigte dabei überraschend weisse Zähne in seinem schmutzigen Gesicht. „Grüss Gott, Vater. Ich komme in Auftrag von Madame Bonacieux! Sie bittet um Eure Hilfe.“

Madame Bonacieux…ach ja, das war dieses reizende Persönchen mit diesem entsetzlich groben Mann. Der hatte sich einst eine lästige Erkältung zugezogen, die Mathias kuriert hatte. Leider war er kein besonders geduldiger Patient gewesen und sich beharrlich geweigert, gute Ratschläge anzunehmen. Dabei hatte er ihm so ausführlich erklärt, dass eine Erkältung oft der Vorbote einer ernsteren Erkrankung war und dass auch ein Schnupfen tödlich enden konnte. Doch dieser Banause von Schneider hatte ihn nicht einmal ernst genommen! Aber Madame Bonacieux war freundlich gewesen und hatte ihm sogar Geld angeboten, was er natürlich nicht angenommen hatte. Die beiden hatten ein heruntergekommenes Landhaus hier im Dorf und kamen manchmal in diese stillere Gegend, wenn ihnen Paris zu laut wurde.

„Und wie können wir Madame Bonacieux behilflich sein?“, fragte Guillaume mit  freundlichem Lächeln, während er gleichzeitig einen Becher mit Wasser füllte und ihn  Felix reichte. Mathias schürzte die Lippen. Er würde den Becher danach gründlich ausspülen, nicht das am Rand noch irgendwelche krankmachenden Pferdeflöhe hängen bleiben würden.

Felix trank das Wasser in einen Zug aus und stellte den Becher geräuschvoll zurück auf den Tisch. Dieser Flegel, dachte Mathias, während er sich das Trinkgefäss mit spitzen Fingern schnappte und es an seine Brust drückte, damit niemand auf die Idee kam, es ihm wegzunehmen, bevor er es gesäubert hatte. Guillaume warf ihm einen strafenden Blick zu, sagte aber nichts.  „Also eigentlich bittet sie darum, dass Bruder Mathias zu ihr kommt. Und sie sagt, er solle sich beeilen, es gehe um Leben und Tod. Ein Freund von ihr ist schwer erkrankt.“

Mathias fühlte eine leise Panik. Schwere Erkrankung, das klang gar nicht gut! In letzter Zeit hatte es keine Epidemien in Frankreich gegeben, aber was wenn das der Anfang war? Und wenn er es nicht eindämmen konnte, wäre er schuld daran, wenn das Land von einer furchtbaren Seuche dahingerafft werden würde! Was für eine Verantwortung. „Was fehlt ihm denn?“, fragte er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme vor Aufregung ganz hoch wurde.

Felix zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Weiss nicht. Ich glaube Fieber, wenn ich das richtig verstanden habe.“

Fieber. Das war wahrlich eine bedenkliche Sache. Mathias hatte schon oft erlebt, wie das Herz von Fieberkranken versagt hatte und er wusste, wie schnell der Körper von dieser tödlichen Hitze versengt werden konnte. Aber Fieber war auch hoch ansteckend. Er musste sich auf jeden Fall nach diesem Krankenbesuch erst einmal in Quarantäne begeben um seine Mitbrüder vor einer Ansteckung zu schützen.

Guillaume wandte sich an Mathias. „Ich verzichte ungern auf meinen tatkräftigen Heiler“, er wackelte demonstrativ mit seinem eingewickelten Finger, „aber wenn eines unserer Schäfchen um unsere Hilfe bittet, werden wir sie ihm selbstverständlich gewährleisten. Ich erwarte, dass Ihr alles tut was in Euren Kräften steht!“

Mathias nickte. Natürlich würde er das tun! Hoffentlich hatte sich diese reizende Constance nicht schon angesteckt. Frauen zu pflegen fiel ihm immer noch schwer. „Natürlich. Ich breche sofort auf!“ Er überlegte bereits eifrig, welche Kräuter er mitnehmen sollte. Er hatte einen kleinen Vorrat an getrockneten Heilkräutern auf seinem Zimmer, falls jemand im Kloster jäh erkranken würde und die Zeit fehlen würde, neue zu sammeln.

Er war schon halb aus der Tür, als Guillaume ihm lachend nachrief: „Den Becher könnt Ihr hier lassen,  Bruder Mathias.“

Puterrot drehte er sich noch einmal um. „Natürlich. Verzeihung, Vater.“

Als er den Becher auf den Tisch stellte, ergriff Guillaume sein Handgelenk und blickte ihn ernst an: „Und Bruder Mathias: Erstickt den armen Mann nicht gleich mit Eurer Fürsorglichkeit.“ Mit diesem rätselhaften Rat und einem letzten Segen, entliess der Abt Mathias.

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D’Artagnan hatte noch nie Männer so bewundert wie er Athos, Porthos und Aramis bewunderte. Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte er sie förmlich angebetet. Dann hatte er sie näher kennengelernt, hatte ihre Fehler und Schwächen entdeckt und langsam hatte sich das göttliche Bild, das er sich von den dreien gemacht hatte, verflüchtigt. Seiner Liebe zu ihnen hatte das keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Einen Gott konnte man nur anbeten, einen Menschen dagegen spüren, fühlen und sprechen. Das war besser als jedes Götzenbild.

Aber es gab immer noch Momente, in denen ihm diese drei Männer wie wahre Helden erschienen. Das war wieder einer dieser Momente. Als Athos und Porthos in ihren Uniformen auf das Tor zuschritten, hochaufgerichtet und stolzen, forschen Schrittes, ihre prächtigen Pferde am Zügel haltend; da schlug d’Artagnans Herz schneller bei den Gedanken, dass er diese Männer zu seinen Freunden zählen konnte. Sie hatten diesen Blick aufgesetzt, den er nur zu gut kannte. Wenn sie diesen  Ausdruck in den Augen hatten, waren sie entschlossen ihr Ziel zu erreichen, koste es, was es wolle.

D’Artagnan folgte ihnen, etwas gemesseneren Schrittes. Das Anwesen war wirklich atemberaubend. Er war beinahe täglich im Louvre, der bei Gott auch nicht gerade eine bescheidene Hütte zu nennen war, aber diese prunkvolle Villa mit dem ausladenden Park war wahrlich auch eine Augenweide. Und der Diener, der ans Tor geeilt kam, hatte denselben blasierten Gesichtsausdruck, den auch die Bediensteten des Palastes zu zeigen pflegten.

„Was wünschen die Herren?“, frage er mit nasaler Stimme.

„Die Herren wünschen mit Mademoiselle Ellen zu sprechen“, verlangte Athos mit brüsker Stimme.

Der Diener hüstelte geziert. „Nun, wie stellt Ihr Euch das vor? Dass Ihr einfach so ans Tor kommen könnt und ich Euch dann einfach so einlasse, damit Ihr Euch einfach so mit dem gnädigen Fräulein unterhalten könnt?“

„Ehrlich gesagt: Genau so stellen wir uns das vor!“, antwortete Porthos und man hörte bereits das drohende Grollen in seiner Stimme.  

„Und ich soll Euch jetzt einfach so das Tor öffnen, damit Ihr einfach so meine Herrschaften bei der Teestunde stören könnt?“, sagte der Diener und wahrscheinlich bildete er sich ein, sehr einschüchternd zu wirken. Allerdings war er mit seinen grauen Löckchen und seinen mädchenhaft geröteten Wangen nun wahrlich kein sonderlich beeindruckender Anblick. Sein extrem langsames Sprechtempo tat noch sein Übriges.

„Wir müssen dringend mit Ellen sprechen“, beharrte Athos unbeirrt.

Der Diener kniff misstrauisch die Augen zu. „In welcher Angelegenheit?“

„Och, einfach so“, rutschte es d’Artagnan heraus.

Der Diener warf ihm einen tödlichen Blick zu. „Ich werde den Herrschaften melden, dass Ihr hier wartet und dann werden der gnädige Herr und seine Verlobte mir sagen, wann die Herren wieder vorbei kommen können. Einfach so kann man bei dem gnädigen Herrn nämlich nicht vorsprechen!“

D’Artagnan glaubte förmlich zu hören, wie Porthos‘ Geduldsfaden riss. Der Hüne warf d’Artagnan mit einer beiläufigen Bewegung die Zügel zu. Dann trat er ganz dicht an das Tor heran und legte langsam seine behandschuhten Finger um die Gitterstäbe. Sein Gesicht war dem des Dieners so nah, als wollten sich die beiden küssen, aber davon konnte nicht die Rede sein. Porthos‘ dunkle Augen schienen förmlich zu glühen, als er den Diener fixierte und seine Stimme war zwar leise, aber aus jeder Silbe tropfte der Zorn, als er sagte: „Ich werde Euch jetzt sagen, wie das läuft: Wenn Ihr uns das Tor nicht aufmacht, werten wir das als Widerstand gegen die Musketiere des Königs und verschaffen uns gewaltsam Zutritt. Und dann schleppen wir das gnädige Fräulein an den Haaren nach Paris, wo wir sie in die Bastille werfen lassen, damit sie uns die Antworten gibt, die wir von ihr verlangen. Glaubt nicht, dass ich mit solchen Dingen einfach so scherze!“

Der Diener war bleich geworden. „Aber…mein Herr…“, stammelte er fassungslos.

Athos erbarmte sich seiner und sprach im deutlich freundlicheren Ton: „Ihr tut Eure Pflicht, das respektieren wir. Aber auch wir haben unsere Pflicht und müssen sie erfüllen.“

Ob es nun die Angst vor Porthos war oder der Respekt vor Athos, der so verbindlich und ehrenhaft wirkte, auf jeden Fall bewog es den Diener doch das Tor öffnen zu lassen. Und als d’Artagnan hinter seinen Freunden durchschritt, dachte er voller Stolz, dass sich diese zwei Männer wahrscheinlich sogar Zutritt der Hölle bekämen, wenn sie ihren Sinn darauf richten würden.         

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Constance legte zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag die Hand auf Aramis‘ Stirn. Noch immer war das Fieber hoch, aber was ihr fast noch mehr Sorgen machte, war der röchelnde Atem und die furchtbaren Hustenanfälle, die den immer schwächer werdenden Körper schüttelten. Wenn er wach war – und es kam zunehmend seltener vor, dass es ihr gelang ihn aus seinem Delirium zu reissen – klagte er über Brustschmerzen. Er mochte nichts essen und als sie ihm das letzte Mal Tee eingeflösst hatte, hatte er sich heftig erbrochen.

Sie nahm seine fieberheisse Hand in ihre. Es war schlimm zuzusehen wie Aramis, der sonst vor Gesundheit nur so strotzte, so rasend schnell vor ihren Augen verging. Sie hatte geglaubt, er habe sich im Kerker etwas unterkühlt und sich deshalb eine kräftige Erkältung eingefangen, die in Kombination mit seiner Kopfwunde für seinen schlechten Zustand verantwortlich war. Aber jetzt wurde ihr klar, dass sie sich die ganze Zeit selbst belogen hatte. Diese Krankheit sass tiefer.

Aramis bewegte unruhig den Kopf und schlug dann die Augen auf. Sie waren glasig, aber zumindest schien er sie zu erkennen, denn er sagte mit leiser, rauer Stimme: „Constance, ich fühl mich nicht so besonders.“

„Ich weiss, Aramis. Ich habe schon einen Arzt rufen lassen. Er wird sicher bald hier sein“, tröstete sie ihn. 

Er verzog das Gesicht. „Ich will keinen Arzt“, jammerte er und klang wie ein kleines Kind. Das hohe Fieber schien ihm alles zu nehmen, selbst seinen Stolz.

„Aber du brauchst einen. Keine Sorge, ich habe nach Bruder Mathias schicken lassen. Er ist kein Quacksalber, sondern ein heilkundiger Mönch. Er wird sich gut um dich kümmern.“ Auch wenn er bei deinem Anblick vermutlich erstmal einen hysterischen Anfall bekommt, fügte sie in Gedanken hinzu. Mathias war ein guter Heiler, aber der wohl am negativsten eingestellte Mensch, dem sie je begegnet war.

Sie hätte allerdings genauso gut der Wand von Bruder Mathias erzählen können. Die Worte schienen gar nicht erst zu Aramis durchzudringen. Sein fieberverhangener Blick heftete sich auf das Fenster und wurde sehnsüchtig. „Ich wünschte, ich könnte nach draussen.“

Dann kannst du dich auch gleich ins Grab legen, dachte Constance in einem Anflug von Galgenhumor. „Du weisst, dass das nicht möglich ist“, erklärte sie geduldig. Sie löste ihre Finger von den seinen, griff nach dem bereits wieder warmen Tuch auf seiner Stirn und tauschte es aus.

„Ich will aber“, entgegnete Aramis trotzig und versuchte sich aufzurichten. Doch ein heftiger Hustenanfall liess ihn sich jäh zusammenkrümmen und erschöpft sank er zugleich wieder in die durchschwitzten Laken. Constance wusste nicht recht, ob sie erleichtert oder besorgt sein soll, dass ihm die Kraft fehlte sich ihr zu widersetzen.    

„Mach es mir nicht noch schwerer, als es ist“, bat sie ihn leise und für einen Moment glaubte sie so etwas wie Verstehen in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Sein verwirrter Geist schien sich tatsächlich etwas zu lichten, denn er wisperte: „Glaub mir, ich bin nicht halb so schlimm wie dein Angebeteter. Als er das letzte Mal krank war, habe ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt ihn ans Bett zu binden“

„Führe mich nicht in Versuchung“, lachte Constance und schob ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Wenn er bei Kräften gewesen wäre, hätte er garantiert einen blöden Witz gerissen, jetzt erschlafften seine Gesichtszüge und er sank wieder zurück in seine Fieberträume. 

Constance sass neben ihm, sprach beruhigend auf ihn ein, wenn er sich im Schlaf herumwarf, kühlte seinen brennend heissen Körper und betete, dass Bruder Mathias bald kommen würde.

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Der Schreck stand Ellen förmlich ins Gesicht geschrieben, als die drei Musketiere in ihren Uniformen in den Garten traten. Sie sass in einem kostbaren Kleid an einem reichlich gedeckten Tisch und führte gerade einen zierlichen, silbernen Löffel zum Mund, als sie in der Bewegung erstarrte und die Männer mit vor Angst geweiteten Augen anstarrte. Ihr gegenüber sass ein älterer, gepflegt aussehender Herr, mit schwarzen Haaren, die stellenweise schon mit weissen Strähnen durchzogen waren. Als er sich umdrehte, um zu sehen, was den Blick seines Gegenübers so fesselte, sah Athos ein freundliches, gutmütiges Gesicht mit warmen, braunen Augen. Er vermutete sofort Alain de Crécey in diesem Mann, dessen gepflegte Hände und kostbar bestickte Kleidung sowohl von Reichtum als auch von gutem Geschmack zeugten.

Athos wollte schon den Mund zu einer freundlichen Begrüssung aufmachen, da sprang Alain auch schon auf, als sei er von einer Biene gestochen worden und fuhr die Männer an: „Wie könnt Ihr es wagen hierher zu kommen?“

Athos blinzelte verwirrt. Gut, zugegebenermassen sahen sie mit ihrem Degen und ihren Pistolen vielleicht ein wenig kriegerisch aus, mal abgesehen davon, dass Porthos so grimmig aussah, als habe er gerade mehrere Kinder verspeist. Aber das war auf keinen Fall ein Grund, dermassen aggressiv aufzutreten, zumal sie immerhin das Wappen des Königs auf der Schulter trugen.

„Wir müssen mit Ihrer reizenden Verlobten sprechen“, sagte d’Artagnan und vielleicht übertrieb er es dabei etwas mit seinem Sarkasmus, denn Alain lief krebsrot an und brüllte: „Verschwindet, bevor ich Euch mit Schimpf und Schande davonjage!“

Da kam er bei Porthos an den Falschen. Der Riese straffte die Schultern und trat Alain entgegen, der vor dieser hünenhaften Gestalt wie ein kleines Kind wirkte. „Sehen wir aus wie Männer, die sich von einem herausgeputzten Pudel davonjagen lassen?“, brüllte er zurück, wobei sein Stimmvolumen das von Alain noch um einiges übertraf.

„Das mit dem Pudel hat er nicht so gemeint“, warf Athos rasch dazwischen, da Alain inzwischen die Farbe einer reifen Tomate angenommen hatte und er nicht wollte, dass die Situation noch mehr ausuferte.

Porthos machte seine redlichen Bemühungen jedoch gleich zunichte. „Ich habe auch noch ganz andere Schimpfworte als Pudel für diesen kleinen Wurm!“

„Wen nennt Ihr hier Wurm! Ihr stellt meiner Verlobten nach, zieht die Ehre dieses schutzlosen Geschöpfes in den Dreck…“

Ach, diese Geschichte! Stimmt, Ellen hatte ja erzählt, sie werde von Musketieren bedrängt. Athos warf dem schutzlosen Geschöpf, das ebenfalls aufgestanden war und sich sicherheitshalber hinter ihren Verlobten geflüchtet war, einen scharfen Blick zu. Der Schreck war inzwischen aus ihren Zügen gewichen. Jetzt hatten sich ihre Augen in Dolche verwandelt und sie hatte den Mund trotzig verzogen.

Alain war noch immer mit seiner Schimpftriade beschäftigt. „…dass ein solcher Abschaum wie Ihr unter dem Banner des Königs kämpft ist eine Schande für ganz Frankreich! Wie Ellen unter Euch hat leiden müssen…“

Weiter kam er nicht. Ob es nun war, weil er sie als Abschaum betitelt hatte oder weil er diese fiese, intrigante Schlange Ellen als Unschuld vom Land hinstellte, auf jeden Fall verlor Porthos den letzten, kläglichen Rest seiner Selbstbeherrschung. Er packte den tobenden Alain am Kragen, hob ihn hoch als wiege er nicht mehr als ein Kind und warf ihn auf den gedeckten Tisch. Rücklings stürzte Alain über die Tischplatte, riss dabei Tischtuch und Geschirr mit sich. Es schepperte und krachte furchtbar, als sich die Leckereien und der brühend heisse Tee über den Gutsherren ergossen.

„Porthos!“, schrie d’Artagnan entsetzt, während Ellen sich mit ausgefahrenen Krallen auf Porthos stürzte und Athos zu Alain trat, um ihm aufzuhelfen. Doch der Mann hatte sich schon wieder erholt. Er spuckte auf Athos‘ ausgestreckte Hand. „Das werdet Ihr bereuen, Musketier!“, kreischte er, rappelte sich auf und griff nach der erstbesten Waffe, die ihn im die Finger kam. Einem Teelöffel.

Athos wusste aus Erfahrung, dass selbst harmlose Alltagsgegenstände in den Händen eines wütenden Berserkers zu tödlichen Waffen werden konnten, aber einen Edelmann mit ausgestrecktem Teelöffel konnte er nun wahrlich nicht ernst nehmen. Als sich aber besagter Edelmann sich ihm entgegenwarf und ihn mit seinem Gewicht umriss, wusste er, dass er sich getäuscht hatte. Alain kniete auf ihn und richtete den Teelöffel mit stierendem Blick auf seinen Hals, als wolle er ihm ernsthaft damit die Kehle durchbohren.

„Ihr werdet meine Verlobte nicht anrühren.“

Athos verdrehte die Augen. „Also erstens braucht Ihr nicht mehr so zu brüllen, ich verstehe Euch ganz ausgezeichnet. Zweitens wollen wir Eure Verlobte keineswegs anrühren, sondern nur mit ihr reden. Und drittens solltet Ihr niemals einen Musketier am Boden festhalten!“ Bei den letzten Worten hatte Athos die Knie angezogen und stiess Alain damit heftig in den Bauch. Keuchend liess dieser von ihm ab und bevor er sich erholen konnte, kniete Athos sich auf ihm, wand den Teelöffel aus seinen Fingern und drückte seine Arme auf den Boden, so dass er sich nicht mehr wehren konnte.

Athos sah hoch. Porthos hatte Ellen im festen Griff, obwohl sie sich gebärdete wie eine wildgewordene Katze. D’Artagnan unterdessen hielt den Diener davon ab seinen Herrschaften zur Hilfe zu eilen, indem er ihn einfach am Kragen festhielt. Sie hatten also alles unter Kontrolle.

Er schenkte den Anwesenden ein sonniges Lächeln. „Nun. Ich schätze, jetzt können wir reden!“