Wem die Stunde schlägt von LadyAramis

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Kapitel Die verschollene Maid

Kapitel 18

 

Die verschollene Maid

 

 

Dass Adelina klug, leidenschaftlich und verrucht war, hatte Porthos schon gewusst. Es war ihm auch immer klar gewesen, dass sie dickköpfig, stur und unnachgiebig sein konnte. Und jetzt lernte er gerade, dass seine englische Lady eine begeisterte Ermittlerin war. Seit er ihr das verräterische Schmuckstück gezeigt hatte, ging sie erregt auf und ab, wobei ihre Röcke eine Spur im Gras hinterliessen. Die Kette hielt sie fest umklammert, als helfe sie ihr beim Nachdenken.

„Ich verstehe das nicht“, murmelte sie, „Fleur und Francis. Davon habe ich nichts bemerkt.“

„Du wirst wohl kaum über jede Liebelei deiner Zofen Bescheid wissen.“

Ein listiges Lächeln glitt über ihr hübsches Gesicht. „Ich unterhalte eine sehr enge Beziehung zu meinen Bediensteten, Porthos. Vor allem zu den Mädchen. Es gibt kein besseres Spionagenetz am Hofe als die Zofen.“

Da war bestimmt etwas Wahres dran. Frauen redeten nun mal untereinander und Zofen hatten zwangsläufig ein sehr enges Verhältnis zu ihren Herrinnen. Sie bekamen mit wer die Gemächer der Hohen Damen betrat und wer sie in welchem Zustand wieder verliess. Es war daher clever, sich ihrer Zuneigung und Treue zu versichern. „Aber von Fleurs Beziehung zu Francis hast du nichts gewusst?“

Adelina blieb stehen und legte in koketter Weise den Kopf schräg. „Möglicherweise war ich abgelenkt von meinem eigenen Musketier“, sagte sie augenzwinkernd.

„Nun ja, du hast ja auch ein besonders gutaussehendes Exemplar erwischt“, ging Porthos auf ihre Neckerei ein. Er wusste, er sollte sich nicht ablenken lassen, aber das war nicht gerade einfach. Adelina vermochte es immer wieder, ihn in seinen Bann zu schlagen und seine Gedanken zu verwirren. Ein Blick in ihr ausladendes Dekolleté reichte, um ihn an ganz andere Sachen denken zu lassen, als an Leichen.

Sie warf ihm eine Kusshand zu, setzte ihre rastlose Wanderung aber fort. „Fleur ist eigentlich eine sehr zuverlässige Zofe. Aber sie ist sehr hübsch und sie liebt es, ihre Reize einzusetzen. Ihr wurde schon manche Affäre nachgesagt. Von daher, sollte es mich eigentlich nicht wundern, dass sie auch mit Francis intim wurde.“

„Nun, das allein ist noch kein Verbrechen. Nur weil sie mit ihm zärtlich verbunden war, heisst das nicht, dass sie ihn umgebracht hat.“

Adelina wirbelte zu ihm herum. „Schon. Aber warum hat sie es niemanden erzählt? Sie wäre vielleicht eine wichtige Zeugin! Seit Tagen redet der Hof über nichts anderes, als über den Mord an Francis. Und ihr ist es nicht in den Sinn gekommen, zu enthüllen, dass sie seine Geliebte gewesen ist? Also, wenn du mich fragst ist das sehr verdächtig.“ Sie sah ihn herausfordernd an, als erwarte sie Widerspruch.

Ihre Argumentation war schlüssig. Zudem wäre es Fleur, die bei Hofe lebte, möglich gewesen, nachts in die Bibliothek zu schleichen und sich mit dem Kardinal um die Bibel zu prügeln. Aber noch fehlte etwas: Das Motiv. Wieso sollte Fleur so etwas tun? Eifersucht? Ein Streit unter Liebenden? „Woher kommt Fleur eigentlich? Ich meine, wer sind ihre Eltern? Und wie lange arbeitet sie schon im Palast.“

„Ich weiss wenig von ihrem Hintergrund“, gab Adelina zu, „aber sie diente vor mir Madame de Chevreuse und die legte sie mir sehr ans Herz. Mir reichte die Empfehlung einer solch ehrenwerten Dame um Fleur bei mir aufzunehmen.“

Dass diese ehrenwerte Dame mehr Skandale verbuchte als alle anderen adeligen Frauen zusammen und zudem als die Königin der Intrigen galt, schien Adelina nicht zu wissen. Allerdings konnte Porthos nicht recht glauben, dass die Chevreuse eine Gaunerin an den Hof schleuste. Immerhin war sie Anna freundschaftlich verbunden und würde sie wohl kaum einer solchen Gefahr aussetzen. „Und dir ist nie etwas Ungewöhnliches an ihr aufgefallen?“

Adelina wollte den Kopf schütteln, hielt aber jäh in der Bewegung inne. „Doch, da gibt es etwas. Manchmal, wenn sie sehr müde oder erschöpft ist, wird ihre Sprache irgendwie…seltsam.“

„Seltsam? Was meinst du mit seltsam? Spricht sie auf einmal griechisch oder sagt sie die Sätze rückwärts?“

Sie rammte ihre kleine Faust gegen seine Schulter. „Sei nicht albern. Sie spricht dann irgendwie…grob. Wie ein…Nun ja, wie ein Gossenmädchen.“

Die herablassende Art wie sie ‚Gossenmädchen‘ betonte, schmerzte Porthos. Immerhin stammte er selbst aus dem Verbrecherviertel von Paris. Doch trotz all ihrer Vorzüge, war Adelina durch und durch Aristokratin, die nur wenige Gedanken an das einfache Volk verschwendete. Er schob seine Empfindlichkeiten weg und sagte: „Zofen geniessen nun einmal nicht dieselbe hohe Erziehung wie blaublütige Damen.“

„Nein, aber sie fluchen normalerweise auch nicht wie Bierkutscher“ entgegnete Adelina.

„Aber denkst du wirklich, sie hat etwas mit dem Mord an Francis zu tun?“

Sie nahm ihn bei dir Hand. „Warum stehen wir eigentlich hier und reden über sie, wo wir doch genauso gut mit ihr reden könnten? Ich lasse sie in meine Gemächer rufen und dann soll sie uns sagen, in welchem Verhältnis sie zu Francis stand!“

Das war eigentlich ein guter Plan. Doch später, in Adelinas kostbar ausgestatteten Gemächern, warteten die beiden vergeblich darauf, dass Fleur dem Ruf ihrer Herrin folgte. Je länger sie ausblieb, desto wütender wurde Adelinas Gesicht, bis sie schliesslich gefährliche Ähnlichkeit mit einem Drachen hatte. Wenn sie Feuer gespuckt hätte, wäre Porthos nicht verwundert gewesen.

„Wo bleibt sie?“, fauchte Adelina und wieder wurde Porthos bewusst, wie sehr sie Aristokratin war. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand ihren direkten Befehl ignorierte und sie warten musste.

Gerade wollte er sagen, dass sie schon noch kommen würde, da ging die Tür auf und ein Mädchen huschte in das Zimmer, wo sie gleich einen tiefen Knicks vollführte. „Womit kann ich Euch dienen?“

Porthos fand an dieser Frage nichts auszusetzen, doch Adelina starrte die Zofe an, als sei sie ein lilafarbenes Wildschwein. „Marie, was soll das? Ich habe ausdrücklich nach Fleur verlangt!“

Die arme Marie wirkte völlig verstört. „Aber Madame, Fleur ist nicht mehr im Palast“, stotterte sie. Die Kleine tat Porthos so leid, dass er ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte, doch diese war zu sehr auf die sturmumwölkte Miene Adelina konzentriert, um es überhaupt zu bemerken.

Adelinas grüne Katzenaugen wurden schmal. „Und wo ist sie dann?“, fragte sie, so schneidend und kalt, dass Porthos ihre Stimme kaum wiedererkannte.

„Sie hat gesagt, dass Ihr ihr Urlaub gegeben habt, weil doch ihre Tante plötzlich so schwer krank geworden ist“, stiess Marie so schnell hervor, als fürchte sie, die Worte sonst wieder zu vergessen.

Adelina wurde schlagartig bleich. „Ich habe ihr keinen Urlaub gegeben, Marie. Sie ist ohne meine Erlaubnis fortgegangen.“

Porthos unterdrückte ein Stöhnen. Das war ja klar gewesen. „Grossartig. Wieso können die Verdächtigen nicht einfach an Ort und Stelle bleiben, bis sie ordentlich vernommen worden sind? Ist das denn zu viel verlangt?“ Doch die beiden Damen blieben ihm eine Antwort schuldig.

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„Du musst es ihm sagen, Aramis!“

Diese Stimme! Diese verfluchte Stimme, die ihn nicht schlafen liess, die ihn quälte, ihm Vorwürfe machte und ihn immer wieder in den dunklen Abgrund seiner Fieberträume stiess. Francis‘ Stimme, die er nicht mehr loswurde, die wie ein Echo in ihm widerhallte. Stöhnend drehte er sich auf die andere Seite. Warum konnte Francis nicht schweigen?

„Er ist in Gefahr, Aramis. Dein bester Freund könnte sterben!“

Aramis‘ Finger krallten sich in die Laken. Eine Warnung. Francis wollte ihn warnen. Das hatte er schon einmal gemacht. Eine warme Frühlingsnacht, ein Becher Gewürzwein, ein Freund, der nicht so war, wie sonst. Ein blasses Gesicht, ein Flehen, eine Warnung und am Ende ein scharfer Schmerz, der durch seinen Kopf schoss. Das Fieber spielte mit seinen Erinnerungen und durchmischte sie, er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Sag es ihm!“

Wem sollte er es sagen? Wer war in Gefahr? Er könnte sich besser konzentrieren, wenn ihm nicht mehr so heiss wäre. Er wollte die Decke wegstrampeln, die sich schwer und feucht um seinen Körper gelegt hatte, aber seine Beine fühlten sich so schwer und nutzlos an, dass er nicht mehr die Kraft dazu fand.

„Sag es Porthos!“

„Porthos!“ Mit einem Schrei fuhr Aramis hoch. Wo war Porthos? Und wo waren Athos und d’Artagnan? Das Zimmer kam ihm fremd vor, es war nicht sein Raum in der Garnison. Wo war er? Panik stieg in ihm hoch. Er wollte nachhause, er wollte zu seinen Freunden und er wollte nicht länger in diesem Bett liegen, in diesem Bett, das ihn krank machte. Aber er konnte nicht aufstehen. Er schaffte es einfach nicht.

Der Husten überfiel ihn gemeinsam mit dieser Erkenntnis. Er krümmte sich, weil seine Brust so fürchterlich brannte. Seine Hand umfasste den Bettpfosten. Die Angst, die ihn packte, war schlimmer als das Fieber. Er würde ersticken. Er war alleine, weit weg von seinen Freunden und würde hier sterben, ohne Porthos warnen zu können.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Ganz ruhig, Monsieur. Atmet mit mir. Ein und Aus. Schön langsam. Ihr macht es nur schlimmer, wenn Ihr Euch so aufregt.“ Die Stimme klang ruhig und warm. Für einen Moment war Aramis sicher, dass Porthos da war. Hier. Neben ihm. Doch dann sah er die Mönchskutte und so etwas würde sein Freund niemals anziehen. Sein Herz wurde schwer.

„Porthos“, stiess er zwischen zwei Hustern hervor.

„Shhh. Konzentriert Euch auf das Atmen. Nicht sprechen, nur atmen. So ist es gut. Seht Ihr, es ist doch ganz einfach.“

Es half tatsächlich. Der Schmerz in seiner Brust verschwand nicht, aber das Gefühl zu ersticken ebbte langsam ab. Zurück blieb diese verfluchte Schwäche. Er schloss die Augen und fiel zurück in die Kissen. Eigentlich wollte er nicht schlafen, wollte nicht zurück in seine wirren Träume und in seine Erinnerungen. Aber er begriff langsam, dass ihm die Kontrolle über seinen Körper längst entglitten war. Und er fragte sich, ob sich Sterben so anfühlte.

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„Und wie sollen wir vorgehen?“, erkundigte sich d’Artagnan, als er gemeinsam mit Athos den Weg zur „Fröhlichen Gans“ einschlug, wobei er sich bemühen musste, mit seinen Freund Schritt zu halten, der so schnell ging, als wolle er in einem Tag die Welt umrunden.

„Nun, wir gehen da rein, sagen ‚Guten Tag‘ fragen ihn, warum er uns nicht erzählt hat, wie seine Beziehung zu Robert wirklich aussah und ob er ihn vielleicht zufällig getötet hat “, erklärte Athos knapp.

D’Artagnan wusste, dass Athos nicht gerade ein Meister in Sensibilität war, aber das war selbst für seine Verhältnisse sehr kaltherzig. Er zog ihn am Ellbogen zurück. „Athos, das kannst du nicht so machen!“

Blaue Augen blitzten ihn zornig an. „Was kann ich nicht so machen?“

D’Artagnan seufzte. Milady hatte viel bei Athos zerstört. Unter anderem seine Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen. Nein, korrigierte sich d’Artagnan, Eigentlich hatte Athos sie noch, aber er trug so viel Schmerz mit sich herum, dass er den von anderen nur ungern mitschulterte. „Also erstens hatte Monsieur Lefèvre allen Grund uns nicht zu gestehen, dass er eine romantische Beziehung zu Robert unterhielt. Wenn das die falschen Ohren vernehmen, hat er schneller eine Verabredung mit dem Henker als er ‚Gans‘ sagen kann. Und zweitens kannst du da nicht einfach reinmarschieren und ihn beschuldigen, nachdem er gerade die Leiche seines Liebhabers gesehen hat!“

„Wir haben jetzt keine Zeit für Empfindsamkeiten!“, knurrte Athos.

„Wir werden uns die Zeit nehmen müssen. Denn wenn du ihn vor dem Kopf stösst oder ihm gar drohst, wird er uns  gar nichts erzählen!“

Für einen Moment glaubte d’Artagnan, Athos wolle ihm den Kopf abreissen. Doch schliesslich schüttelte der Älteste resigniert den Kopf. „Wann bist du eigentlich so verflucht vernünftig geworden?“

Das Lob freute d’Artagnan, zumal es aus Athos‘ Mund kam. „Einer muss es ja sein“, erwiderte er bescheiden.

Inzwischen waren sie vor der „Fröhlichen Gans“ angekommen. D’Artagnan entging nicht, dass ein höchst widerwilliger Ausdruck über das strenge Gesicht von Athos glitt. Aramis liebte das Gasthaus, weil sie seiner Auffassung von einem zügellosen und freien Leben entsprach. Porthos begleitete Arams öfters hierher, weil er ein grosses Herz hatte und sich nicht an Dingen störte, die anders und fremd erschienen. Und er selbst…nun, sein Motiv war wohl die Neugier und sein Verlangen, alles selbst zu erleben.

Bei Athos lagen die Dinge anders. Er kam nur dann mit, wenn er Aramis eine Freude machen wollte und selbst dann machte er deutlich, was er vom Wirtshaus hielt. Es stiess ihn ab. Die erotisch aufgeladene Atmosphäre, die Freizügigkeit, das wilde Leben, das sich hinter bürgerlichen Fassaden abspielte, das alles erfreute Athos nicht, sondern erschreckte ihn höchstens.  Dass Robert Dupont und Monsieur Lefèvre mehr als nur Freunde waren, das entzog sich seinem Verständnis. Er mochte die Uniform seines Musketiers tragen, aber ein Teil von Athos würde immer ein Graf sein, der nach den uralten Werten seiner Familie lebte.

Bevor Athos die Flucht ergreifen konnte, nahm d’Artagnan ihn am Arm. „Überlass am besten mir das Reden. Und versuch um Himmels Willen, nicht ganz so grimmig dreinzuschauen!“ Athos brummelte irgendetwas, was d’Artagnan nicht verstehen konnte, aber er nahm nicht an, dass es Freundlichkeiten waren.

Er kannte das Wirtshaus eigentlich nur laut und belebt. Jetzt wirkten die Räume still und verlassen ohne die bunte Schar an Gästen und die grell bemalten Mädchen. Und Monsieur Lefèvre, sonst ein Bild des blühenden Lebens, sass zusammengesunken an einem der Tische und starrte betrübt in einen Bierkrug. Auf dem Stuhl neben ihm lag ein zerknüllter roter Stoff.

Als die Tür hinter den Musketieren geräuschvoll zufiel, schreckte er hoch. „Heute ist geschlossen“, sagte er mit vom Wein schwerer Stimme.

„Wir kommen nicht als Gäste, sondern als Musketiere. Wir müssen reden, Monsieur Lefèvre“, sagte d’Artagnan und versuchte zugleich warmherzig und würdevoll zu sprechen.

„Ich will jetzt nicht reden“, antwortete Monsieur Lefèvre und hob nicht einmal den Blick.

„Nur interessiert uns leider herzlich wenig was Ihr wollt!“, entgegnete Athos kühl.

„Athos, erinnerst du dich noch worüber wir eben noch gesprochen haben?“, zischte d’Artagnan in Athos‘ Ohr, ärgerlich darüber, dass sein Freund ihre ganze Strategie einfach mal so über den Haufen warf.

Léfevre mass sie mit einem langen, abschätzigen Blick. „Verschwindet“, sagte er dumpf und nahm einen tiefen Schluck.

Athos fuhr allerdings fröhlich damit fort weiter auf Lefèvres Gefühlen rumzutrampeln. „Wie war Euer Verhältnis zu Robert Dupont?“, bellte er den Wirt an, so dass dieser zusammenzuckte und vor Schreck das Bier verschüttete.

Er fing sich aber schnell wieder. „Ich denke nicht, dass Euch das irgendetwas angeht.“ Seine schneidende, kalte Stimme passte so gar nicht zu dem sonst so freundlichen Lefèvre und auch der bösartige Ausdruck in den Augen, kam d’Artagnan ganz fremd vor. Die Hand, die sich um den Krug geschlungen hatte, zitterte stark. Er war nervös und gereizt, eine eindeutig gefährliche Mischung.

Er zupfte Athos am Ärmel. „Wir sollten ein anderes Mal wiederkommen“, flüsterte er ihm zu. Allerdings schien sein Freund beschlossen zu haben, heute jeden Rat von ihm zu ignorieren. Statt den Rückzug anzutreten, trat er noch näher an Lefèvres Tisch heran und blickte so drohend auf ihn hinunter, als sei er ein äusserst bösartiges Exemplar einer Hausspinne. Dann beugte er sich zu ihm runter und brachte seinen Mund ganz nah an Lefèvres Ohr. „Manche begehren Juwelen oder Gold, für mich ist jedoch ein einziger Blick aus deinen schönen Augen mehr wert, als alle Schätze der Welt zusammen“, zitierte er aus dem verräterischen Liebesbrief.

Die Reaktion war heftig. Lefèvre brüllte wie ein verwundeter Stier, sprang auf und stiess Athos so heftig von sich, dass dieser über einen Stuhl gestürzt wäre, hätte d’Artagnan ihn nicht rechtzeitig am Ellbogen gepackt (wobei Athos es für diesen Auftritt wahrlich verdient hätte auf seinem Hintern zu landen). „RAUS! Auf der Stelle!“, schrie Lefèvre.

Athos jedoch schien heute von Selbstmordgedanken beseelt zu sein. Statt den Rückzug anzutreten, sagte er mit geschäftsmässiger Stimme: „Ihr wisst, dass das ein Angriff auf einen Musketier des Königs war und dass Ihr mit Konsequenzen zu rechnen habt?“

Als Antwort schleuderte Lefèvre seinen Bierkrug nach den beiden Musketieren. D’Artagnan hatte es seinem ausgezeichneten Instinkt zu verdanken, dass es ihm gelang sich rechtzeitig zur Seite zu werfen, denn der Krug flog genau dort durch, wo eben noch sein Kopf gewesen war und zerschellte an der Wand hinter ihm.

„Raus! Und wenn Ihr nicht sofort verschwindet, prügle ich Euch mit dem Besen hinaus, Musketier hin oder her!“, kreischte Lefèvre, wobei ihm Speichel über das Kinn floss.

Bevor Athos noch mehr Schaden anrichten konnte, schob d’Artagnan ihn auf die Strasse, wobei er nicht sonderlich zärtlich vorging. „Trotzdem noch einen schönen Tag!“, rief d’Artagnan über die Schulter, bevor die Tür mit solcher Wucht zugeschlagen wurde, dass er sich für einen Moment einbildete, das ganze Gebäude erzittere.

Schäumend vor Wut wandte d’Artagnan sich an Athos. „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Was sollte das eben? Haben wir uns nicht darauf geeinigt, dass wir behutsam vorgehen und nicht wie eine Horde Berserker?“ Einige Leute auf der Strasse drehten sich neugierig zu ihnen herum, aber das war d’Artagnan egal.

Athos jedoch schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. „Ich finde, es hat ganz gut geklappt.“

D’Artagnan traute seinen Ohren kaum. „Ganz gut geklappt? Athos, wir wurden eben um ein Haar von einem herumschwirrenden Bierkrug erschlagen!“

„Und haben dabei ganz nebenbei herausgefunden, dass die beiden wirklich eine geheime Beziehung zueinander unterhielten, dass Lefèvre nicht darüber sprechen will und dass er Damenbesuch hatte!“

D’Artagnan hatte schon den Mund aufgeklappt um Athos noch einige Nettigkeiten an den Kopf zu werfen. Jetzt stutzte er. „Damenbesuch? Wie kommst du darauf?“

Sein Mentor lächelte. „Auf dem Stuhl neben ihm lag ein roter Damenmantel. Monsieur Lefèvre mag einen ausgefallen Kleidungsstil pflegen, aber ich denke nicht, dass das zu seiner Garderobe gehört.“  

Jetzt erinnerte sich d’Artagnan an das rote Knäuel. Er hatte es nicht als Kleidungsstück identifiziert, aber Athos‘ scharfe Augen offenbar schon. „Das kann auch ein Gast liegen gelassen haben.“

„Und warum hat er es dann nicht weggeräumt? Abgesehen davon, konnte er uns nicht schnell genug loswerden!“

„Weil du ihn provoziert hast! Ausserdem war er betrunken.“

Wieder zeigte Athos dieses hinterlistige Lächeln. „Nein. Wir sollten nur glauben, dass er betrunken ist. Er war vollkommen klar im Kopf. Oder warum glaubst du, konnte er so gut zielen und hätte dich beinahe mit dem Krug getroffen?“

D’Artagnan mochte es nicht sonderlich, dass Athos jetzt den Überlegenen spielte. Er wusste, dass Athos klug war und auf Dinge achtete, die sonst keiner sah, aber das kam ihm jetzt etwas arg zusammengeschustert vor. „Und nur weil er mich beinahe erwischt hätte, bist du dir sicher, dass er nicht betrunken war?“

In Athos‘ Augen trat dieser altbekannte traurig wissende Ausdruck. „Glaub mir: Ich kann erkennen ob jemand betrunken ist oder ob er nur so tut.“

Da war etwas Wahres dran. Athos hatte da ja einschlägige Erfahrung. „Angenommen du hast Rech und es war eine Frau bei ihm, von der er nicht wollte, dass wir sie sehen: Wer war die Frau?“

„Das ist die grosse Frage, d’Artagnan. Das ist die Frage.“

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Von seinem Beobachtungsposten aus sah Pierre Lefèvre wie die beiden Musketiere auf der Strasse heftig diskutierten, bis sie endlich weitergingen. Er stiess erleichtert die Luft aus. Die zwei waren wirklich im dümmsten Augenblick aufgetaucht und hätte er nicht zufällig aus dem Fenster gesehen, hätten sie ihn und Fleur erwischt.

„Du kannst rauskommen“, rief er.

Fleur Delacroix trat aus dem Nebenraum. Sie sah ganz anders aus in ihrer schlichten Kleidung mit ihren hochgesteckten Locken und den blasierten Gesichtsausdruck, den sie wohl im Palastdienst angenommen hatte. Damals war sie sinnlicher gewesen, wilder. Offenbar hatten sie ihr einige Manieren eingebläut.

„Denkst du, sie können uns gefährlich werden?“, fragte sie und in ihrer Stimme vernahm er den Hauch von Furcht.

Er hob müde die Schultern. „Ich weiss es nicht. Das Einzige, was ich weiss ist, dass wir unsere Geheimnisse bewahren müssen. Um jeden Preis.“ 

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Bruder Mathias zog fürsorglich die Decke über seinen Patienten, der endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Seine Atemzüge kamen zu schnell und klangen zu angestrengt. Zudem wollte das Fieber einfach nicht runtergehen. Dieser Mann kämpfte, aber Mathias hatte immer stärker das Gefühl, dass er verlor. In den letzten Stunden hatte sich sein Zustand nicht gebessert und egal was er tat, nichts wollte fruchten. Er starrte in dieses totenbleiche mit den geröteten Wangen. Wenn er ihm nur helfen könnte.

„Ich weiss nicht was mir mehr Angst macht: Wenn er daliegt als wäre er tot oder wenn er um sich schlägt und wirres Zeug stammelt.“ Unbemerkt war Madame Bonacieux wieder ins Zimmer getreten. In den Händen hielt sie eine Schüssel mit frischem Wasser, die sie behutsam auf den Nachttisch stellte. Sie nahm den zusammengefalteten Lappen von Aramis‘ Stirn und befeuchtete ihn von neuem, bevor sie ihn wieder zurücklegte.

Als er die Kühle spürte, regte Aramis sich. „Porthos“, wimmerte er.

Voller Kummer strich Constance mit dem Finger über Aramis‘ Wange. „Er ist nicht hier, Aramis.“

„Wer ist dieser Porthos? Sein Bruder?“, fragte Mathias. Immer wieder sprach der Musketier von diesem Porthos. Er schien ihm nahe zu stehen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Kranke sich danach sehnten dass ihre Liebsten bei ihnen waren. Und Aramis verlangte ganz offensichtlich nach diesem Porthos.

Constance lächelte traurig. „Sein Waffenbruder. Sie dienen zusammen im Korps der Musketiere.“

Sie fuhr abwesend mit der Hand durch Aramis‘ Locken. Dann, ganz unvermittelt, sagte sie leise: „Es steht nicht gut um ihn oder?“

Mathias wurde es schwer ums Herz. Ein Teil von ihm wollte ihr  genau beschreiben was das hohe Fieber im Körper anrichten konnte, wie die Krankheit Aramis den Atem stehlen und ihm schliesslich den Tod bringen würde. Er wollte sie nicht anlügen und er wollte sie vorbereiten. Aber er entschied sich für einen anderen Weg. „Madame Bonacieux, ich denke, dass Ihr, Nachricht an diesen Monsieur Porthos schicken solltet. Sie stehen sich offenbar sehr nahe. Er sollte hierhergekommen.“

Sie blickte ihn voller Unverständnis an. „Wieso soll Porthos hierhergekommen?“

Er zwang sich den Satz auszusprechen, den er hatte vermeiden wollen. „Damit er Abschied nehmen kann. Madame Bonacieux, es tut mir Leid, aber ich fürchte, dieser Mann hier liegt im Sterben.“

 

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