Wem die Stunde schlägt von LadyAramis

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Kapitel Und immer wieder geht die Sonne auf

Kapitel 20

 

Und immer wieder geht die Sonne auf

 

Für einen Moment hatte Mathias mit den Gedanken gespielt, Aramis die letzte Ölung zu geben, hatte sich dann aber eines anderen besonnen. Wenn er das tat, hiess das, die Hoffnung aufzugeben und dazu war er noch nicht bereit. Sein Stolz und sein freundschaftliches Gefühl für Madame Bonacieux liessen das nicht zu, auch wenn er wusste, dass die Erfolgsaussichten verschwindend gering waren.

Man konnte eine Lungenentzündung überstehen. Allerdings war das Fieber schon viel zu hoch gewesen, als Mathias mit der Behandlung angefangen hatte und es schwächte Aramis immer mehr. Er hatte kaum noch die Kraft zu husten und konnte kaum etwas zu sich nehmen, ohne sich zu erbrechen. Gerade das wäre allerdings wichtig gewesen. Aramis brauchte Flüssigkeit.

Mathias setzte sich auf die Bettkante „Ich wünschte, ich könnte mehr für Euch tun“, seufzte er, während er behutsam mit dem Lappen über die Stirn und die Wangen des Kranken strich. Als hätte er die leisen Worte gehört, stiess Aramis einen Seufzer aus und schlug die Augen auf. „Porthos, du musst auf dich aufpassen“, murmelte er. Seine Hand tastete nach der von Mathias. Offenbar war er der Meinung, Porthos sässe an seinem Bett.

Mathias drückte die Hand, die sich so vertrauensvoll in seine gelegt hatte. Die Finger fühlten sich zerbrechlich an, kaum zu glauben, dass hier ein gestandener Soldat lag. Aber Krankheiten konnten jeden noch so starken Mann dahinraffen und wie oft hatte er erlebt, dass kräftige Menschen vergangen waren wie Herbstblätter in einem  Sturmwind? „Porthos kommt bald. Haltet noch ein wenig durch.“

Aramis bewegte sich unruhig. „Francis…er hat uns verraten“, stöhnte er und die fiebrig glänzenden Augen weiteten sich, „er hat es nicht absichtlich gemacht. Sei nicht böse auf ihn, er wollte nicht, dass er stirbt, wirklich nicht, sei nicht böse…“

Es war das Gerede eines Fieberkranken, man konnte es nicht ernstnehmen, aber es regte Aramis zu sehr auf. Ruhelos wand er sich von der einen Seite auf die andere, während er unablässig wirres Zeug sprach, wobei sich immer mehr auch spanische Worte darunter mischten. Und dann fing er wieder an zu husten, ein furchtbarer Laut, der klang, als kämpfe Aramis gegen seine eigene Lunge an.

Wimmernd drehte Aramis sich auf den Bauch und vergrub den Kopf in die Kissen, als könne er damit das Husten ersticken. Mathias liess ihn jedoch nicht. Behutsam drehte er den Musketier auf den Rücken und brachte ihn in eine halbwegs sitzende Position. Aramis sträubte sich, in seinem geschwächten Zustand, hätte allerdings selbst ein Kind ihn überwinden können. Mathias schob sich hinter ihm auf das Bett, kniete sich hin und klopfte Aramis kräftig auf den Rücken. Er war sich nicht sicher, ob es funktionierte, aber sie waren inzwischen an einem Punkt angelangt, wo man eigentlich nichts mehr schlimmer, sondern alles nur noch besser machen konnte.

Erst veränderte sich gar nichts, dann wurde der Husten kräftiger. Flink griff Mathias nach der Schüssel, die noch immer auf dem Nachtisch stand und hielt sie unter Aramis‘ Kinn. Er stiess ein furchtbares Würgen aus, dann spuckte er Schleim, was kein sonderlich angenehmer Anblick war. Mathias nahm sich vor, sich nach der ganzen Prozedur gründlich die Hände zu waschen. 

Die Behandlung zeigte Wirkung. Der Husten verebbte und Aramis‘ Atem wurde ruhiger. Mathias stelle die Schüssel weg und wollte aufstehen, doch Aramis verhinderte dies, indem er den Kopf schwer auf Mathias‘ Schulter fallen liess. Zu seinem Beschämen war Mathias‘ erster Instinkt, aufzuspringen und ihn wegzuschieben. Immerhin war dieser Mann krank und er hatte wenig Lust, sich ebenfalls die Lunge aus dem Leib zu husten.

Abgesehen davon, wäre es ein Fräulein gewesen, das da in seinem Armen lag, wäre die Beichte fällig gewesen, dachte er errötend. Aramis‘ schwerer Atem strich warm über seinen Hals und sein Körper drängte sich so eng an den seinen, dass er die sengende Fieberhitze spürte. Mathias wusste nicht recht, was er mit dieser Anhänglichkeit tun sollte. Er selbst mied es normalerweise schon, anderen die Hände zu schütteln, geschweige denn sie zu umarmen. Aber Aramis war wie ein krankes Kind, das sich nach der Nähe seiner Mutter sehnte und er hatte einfach nicht das Herz, ihn von sich wegzuschieben.

So tätschelte er Aramis unbeholfen die Schulter, während er leise Gebete in sein Ohr flüsterte. Constance hatte erwähnt, dass Aramis ein sehr gläubiger Mann war und vielleicht wurde der Klang der vertrauten Worte ihn in seinen dunklen Träumen erreichen. Tatsächlich entspannte Aramis sich in seinen Armen und für einen Moment senkte sich eine tiefe Ruhe über den Mönch und den Musketier.

Allerdings war ihnen diese nicht lange vergönnt. Mathias schrak auf, als er das Krachen der Tür vernahm, gefolgt von einem aufgeregten Wirrwarr aus Stimmen, dem Poltern von Stiefeln und den Klirren von Degen. Mathias‘ Herz schlug mit einem Mal so schnell, als wolle es zerspringen. Wer war das? Eigentlich wusste er doch nichts über den Mann, der sich jetzt so vertrauensvoll in seine Arme schmiegte. Er war ein Musketier, aber was war wenn Madame Bonacieux ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte? Möglicherweise war Aramis ein Deserteur und jetzt kamen seine ehemaligen Kameraden um ihn in den Kerker zu werfen!

Aramis runzelte die Stirn und riss die Augen auf. „Sie kommen“, flüsterte er und Mathias wusste nicht recht, ob es die Verzweiflung oder die Erschöpfung war, die seine Stimme brechen liess, „sie kommen mich holen.“ Tränen rannen ihm über die Wangen. Aus Trauer? Oder aus Wut darüber, dass sein Körper ihn im Stich liess und ihn so hilflos seinen Feinden auslieferte, als sei er ein neugeborenes Kätzchen?

Als Aramis sich zusammenrollte wie ein hilfloser Igel, fasste Mathias einen Entschluss. Ganz egal was Aramis getan hatte, jetzt war er ein armer, kranker Mann und verdiente es, seinen Frieden zu haben. Er würde nicht zulassen, dass man ihn einfach fortschleppte. Er würde ihn beschützen!

Die Stimmen und Schritte wurden lauter. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Also glitt er rasch vom Bett und sah sich suchend nach einer möglichen Waffe um. Dummerweise war das hier das Schlafzimmer eines Krämers und nicht das eines bis an die Zähne bewaffneten Hauptmannes. Es gab hier weder einen Degen noch eine Pistole.

Zu seinem Entsetzen hörte Mathias wie jemand die Treppe hinaufstieg. Ihm blieb keine Zeit mehr. Beherzt griff er nach dem erstbesten Gegenstand, dem er habhaft werden konnte. Mit angehaltenem Atem lauschte er den schweren Schritten und als er sah, wie die Türklinke sich bewegte hob er den Gegenstand über seinen Kopf.

Und als der fremde, hünenhafte Mann in das Zimmer trat, schleuderte Mathias ihn mit einem lauten Schrei nichts Geringeres als den Nachttopf entgegen.

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Porthos war ja in seinem Leben schon mit vielen Waffen konfrontiert worden, aber es war das erste Mal, dass ein Nachttopf auf ihn zugeflogen kam. Doch trotz kurzer Irritation funktionierten seine Reaktionen und er warf sich blitzschnell zu Boden. D’Artagnan, der hinter ihm stand, hatte weniger Glück. Ihm streifte das Geschoss an der Stirn und er fiel mit einem überraschten Laut rückwärts in Athos‘ Arme.

Der Übeltäter war ein kleines, zitterndes Mönchlein, das sich wie ein Racheengel vor dem Bett aufgebaut hatte und Porthos anstarrte, als sei er der Satan persönlich. „Was soll das?“, fragte Porthos, mehr erstaunt als wütend. Constance hatte ihnen von dem ängstlichen, heilkundigen Bruder Mathias erzählt und er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum dieser sich aufführte wie ein Verrückter und mit Nachttöpfen um sich warf.

Bruder Mathias breitete die Arme aus. „Lasst diesen Mann in Frieden! Er ist krank und braucht Ruhe, keine Soldaten, die ihn fortschleifen“, sagte er, und obwohl seine Beine zitterten, klang seine Stimme erstaunlich fest. Trotz des rüden Empfangs, flog Porthos‘ Herz diesem Mönch entgegen, der sich so tapfer für Aramis einsetzte. Zum ersten Mal, seit Constance ihnen die niederschmetternden Nachrichten von dem sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand ihres Freundes gebracht hatte, breitete sich ein ehrliches Lächeln auf seinen Zügen aus.

„Was ist denn hier los?“ Constance drängte sich an den Männern vorbei ins Zimmer, wobei ein besorgter Blick d’Artagnan streifte, der zwar inzwischen wieder auf eigenen Beinen stand, allerdings noch bedrohlich wankte.

Constances Anblick beruhigte Mathias sichtlich. „Madame Bonacieux! Verzeiht, ich dachte…wer sind diese Männer?“ stammelte er.

„Das sind Porthos, Athos und d’Artagnan. Aramis‘ Freunde und Musketiere des Königs“, erklärte Constance mit einem fast schon feierlichen Unterton. 

Mathias lief dunkelrot an und spielte verlegen mit den Ärmeln seiner Mönchsrobe. „Es tut mir leid, ich hielt Euch für Feinde“, murmelte er mit gesenktem Kopf.

D’Artagnan beruhigte mit einem leisen Ächzen die Schürfung. „Für was tragen wir eigentlich Uniformen?“, maulte er.

Athos‘ Mitleid mit seinem lädierten Freund hielt sich in Grenzen. „Vielleicht solltest du Tréville um auffälligere Modelle bitten. Himmelblau würde dir gut stehen.“

Porthos ignorierte das Geplänkel seiner Freunde. Er umrundete Mathias, um endlich zu Aramis zu gelangen. Schmal und ausgezehrt wirkte er zwischen den zerwühlten Laken. Die sonst so sorgfältig gepflegten Locken hingen ihm schweissverklebt in die bleiche Stirn und die eingefallenen Wangen waren so gerötet, dass Porthos ihn nicht zu berühren brauchte, um zu wissen, dass er Fieber hatte. Aber das Schlimmste war der Atem, der in schnellen, keuchenden Stössen kam, ein rasselndes und qualvolles Geräusch, das ihm bis in die Seele schmerzte.  

Er griff nach der Hand, die sich furchtbar klein und zerbrechlich in seiner eigenen anfühlte. Er rieb mit den Finger über die heisse Haut und rief leise: „Aramis? Ich bin hier, Aramis! Hörst du mich?“ Er spürte, wie die Finger in seiner Hand zuckten. Doch Aramis‘ Augen blieben geschlossen und diese ungewöhnliche Leblosigkeit, die von dem sonst so sprunghaften Freund ausging, verstörte Porthos zutiefst. „Ist er jetzt immer so?“ fragte er ängstlich.

„Nein. Es gibt Momente, da ist er wach und auch einigermassen klar. Aber sie werden seltener. Meistens ist er im Delirium und spricht wirres Zeug“, fasste Constance zusammen und obwohl sie kühle Worte wählte, sah er deutlich die Betroffenheit, die sich in ihrem Gesicht spiegelte.

„Er war manchmal richtig ausser sich. Rief ständig nach Euch. Es fiel uns immer schwerer ihn zu beruhigen“, führte Mathias weiter aus.

Athos und d’Artagnan traten ebenfalls an das Bett. Während der Ältere wie versteinert stehen blieb und mit fassungsloser Miene auf seinen kranken Freund hinabsah, setzte sich d’Artagnan auf die Bettkante und legte die Hand auf Aramis‘ Brust, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass er noch atmete. Constance zog Mathias am Ärmel und deutete auf die Tür. Diskret zogen sich die beiden zurück und liessen die Freunde allein.

Eine Weile schwiegen sie, überwältigt vom Anblick ihres Waffenbruders, der weder von Klinge noch Muskete niedergestreckt worden war, sondern von seinem eigenen Körper. Porthos presste Aramis‘ Hand an seine Brust. Ihm schien es, als könne er allein durch seinen starken Griff verhindern, dass er ihnen davonglitt.

Schliesslich begann Aramis sich zu regen. Er hustete schwach und versuchte, mit den Beinen die Decke wegzutreten. Seine Lider flatterten und schliesslich schlug er die Augen ganz auf. „Aramis! Wie schön von dir, dass du uns jetzt doch noch beachtest“, witzelte Porthos und beugte sich über ihn, um ihm eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen, erleichtert und glücklich, dass Aramis aufgewacht war.

Aramis starrte ihn lange an, sein glasiger Blick liess Porthos zweifeln, ob er sie wirklich erkannte. Doch dann erschien der Schatten eines Lächelns auf seinen Zügen. „Porthos“, hauchte er und der Name klang wie ein Gebet.

„Ich bin hier“, sagte Porthos und es fiel ihm schwer die Tränen zurückzuhalten, als sich Aramis unter Aufbietung seiner verbliebenen Kräfte aufrichtete und die Arme um ihn warf. Es war gewiss nicht das erste Mal, dass sich die beiden Freunde umarmten, aber noch nie hatte Aramis sich  so schmal angefühlt. Behutsam drückte Porthos ihn an sich. Wie kleine Schluchzer klang Aramis‘ Atem, der in schnellen, stockenden Zügen kam, eine ständige Erinnerung an die furchtbare Krankheit, die ihn befallen hatte.

„Wir alle sind hier“, bekräftigte d’Artagnan, kletterte kurzerhand auf das Bett und schlang ebenfalls die Arme um Aramis. Endlich löste sich auch Athos aus seiner Starre, trat näher und legte die Hand auf Aramis‘ dunklen Schopf. Beinahe zärtlich fuhr er durch die schweissverklebten Locken. Er sagte nichts, das wäre auch nicht seine Art gewesen, aber seine ruhige Präsenz und die väterliche Geste schien Aramis zu helfen. Porthos konnte fühlen, wie sich sein rasender Herzschlag etwas beruhigte. 

Der Friede war ihnen nicht lange vergönnt. Aramis begann auf einmal zu husten. Erst waren es kleine Huster, die er zu unterdrücken versuchte, in dem er stöhnend das Gesicht tiefer in Porthos‘ Schulter vergrub. Doch dann wurde der Husten schlimmer. Verstört mussten die drei Freunde mitansehen wie Aramis nach Atem rang und sein ganzer Leib förmlich durchgerüttelt wurde. Er krümmte und wand sich in Porthos‘ Armen, dem Hustenanfall hilflos ausgeliefert.

Erst waren die drei Musketiere gelähmt vor Schreck. Dann sprang d’Artagnan vom Bett und rannte zur Tür, wahrscheinlich um den Arzt zu holen. Athos nahm seinen Platz ein, kniete sich hinter Aramis und klopfte ihm hart auf den Rücken. Erst dachte Porthos er sei verrückt geworden und befürchtete, er würde Aramis zu allem Übel noch einige Knochen brechen. Doch diese unsanfte Behandlung zeigte Wirkung. Der Husten klang ab und als Mathias mit gerafftem Priesterrock an Porthos‘ Seite eilte, lag Aramis wieder ruhig in seinen Armen, völlig ermattet von den Anstrengungen.

Bruder Mathias half Porthos, Aramis wieder hinzulegen. „Ihr habt richtig gehandelt, Monsieur“, wandte sich der Priester dann an Athos, während Porthos noch damit beschäftigt war, die Decke vorsichtig um Aramis‘ Schultern festzustecken.

Athos war so bleich, wie Porthos ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte und starrte wie in Trance auf Aramis, der mit geschlossenen Augen in den Laken lag und vor sich hinmurmelte. Das Fieber hatte ihn wieder mitgerissen. Als Porthos seine Stirn fühlte, war sie zwar heiss, aber trocken.

„Mein Bruder hatte einmal die Lungenentzündung. Als er noch klein war.“

Die Erschütterung stand deutlich in Athos‘ blauen Augen geschrieben. Er sprach selten über seinen Bruder, der auf so grausame Art und Weise gestorben war, ermordet von der Frau, die Athos über alles geliebt hatte. Es war immer schwierig, wenn Erinnerungen an Thomas hochkamen, egal wie weit entfernt sie inzwischen waren. Nur selten sprach er von ihm und wenn, dann nur, wenn er schon arg betrunken war.

D’Artagnan und Porthos tauschten einen besorgten Blick. Das Letzte was sie jetzt brauchten war, dass Athos in Melancholie versank. Zum Glück schien Athos sich wieder zu fassen und straffte sich. „Er hat es überstanden. Er war gerade mal sieben Jahre alt und hat überlebt. Aramis ist stark, kräftig und ein Kämpfer. Ich sehe keinen Grund, wieso er es nicht schaffen sollte.“ Athos sprach, als seien seine Worte Gesetz.

Bruder Mathias seufzte schwer „Ich wünschte es wäre so. Monsieur Aramis ist geschwächt. Der schlimme Husten verbraucht seine letzten Kraftreserven und das hohe Fieber belastet sein Herz. Er hat zu lange nichts mehr gegessen und auch nichts mehr getrunken. Es steht nicht gut um ihn.“

Porthos brauchte das nicht um zu wissen, dass Aramis an der Schwelle zum Tod stand. Diese abgemagerte, hustende und fiebernde Personen, die sich im Bett zusammengerollt hatte wie eine kleine Strassenkatze hatte wenig gemeinsam mit seinem sonst so strahlenden, lebenslustigen Freund. Sollte es so enden? Nicht mit Tod und Glorie auf dem Schlachtfeld, sondern todkrank in einer Matratzengruft? Konnte Gott, dieser Gott, den Aramis so bedingungslos liebte, wirklich so grausam sein?

Athos war aschgrau im Gesicht und starrte wie hypnotisiert auf Aramis‘ Brust, die sich unregelmässig hob und senkte, jeder Atemzug eine sichtbare Qual. „Nein!“, stiess er dann mit einer Heftigkeit hervor, die man nur selten an ihm beobachten konnte und dann drehte er sich um und floh aus dem Raum, als könne er damit auch vor der Wahrheit fliehen. D’Artagnan zögerte, folgte ihm jedoch auf Porthos‘ nachdrückliches Nicken nach draussen. Wenn jemand Athos jetzt beistehen konnte, dann war es d’Artagnan.

Er selbst schluckte schwer, nahm dann erneut die feingliedrige Hand seines Freundes in die seine und presste die Lippen gegen den fieberheissen Handrücken. „Ich lasse nicht zu, dass er stirbt!“

„Es gibt Dinge, die liegen nicht in unserer Hand…“ begann Bruder Mathias, verstummte aber eingeschüchtert als Porthos ihn scharf ansah. Er wollte das nicht hören und Aramis sollte das auch nicht hören. Er war ja bei Gott kein Arzt, alles Medizinische überliess er klügeren Menschen, dennoch glaubte er daran, dass ein guter Schuss Optimismus und eine Portion Fröhlichkeit oft besser wirken konnte als manche bittere Medizin. Das Letzte was Aramis jetzt brauchte, waren Menschen, die mit Leichenbittermienen auf ihn herabsahen und ihn totsagten.

„Ich lass ihn nicht sterben“, wiederholte er nachdrücklich. Er war sich nicht sicher ob es Einbildung war oder nicht, aber ihm schien es, als ob Aramis den Druck seiner Hand, schwach erwiderte. Und das gab Porthos Hoffnung.

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Athos stürzte an der verblüfften Constance vorbei, hinaus ins Freie. Die kühle Nachtluft strich über sein Gesicht und hatte etwas merkwürdig Tröstliches. Er schlang die Arme um sich, nicht weil ihm kalt war, sondern um sich selbst Halt zu geben. Irgendwie hatte er das Gefühl, das die Erde wankte. Aber das war natürlich Unsinn, nicht die Welt wankte, nur er selbst hatte jeglichen Halt verloren. Einer seiner Stützen war weggebrochen und er fühlte sich beinahe so verlassen wie damals, als er an einem Tag Frau und Bruder verloren hatte.

Es war merkwürdig, aber Athos hatte nie geglaubt, dass Aramis ihn verlassen könnte. Dass er sterben könnte. Wenn er sah, mit welcher Kopflosigkeit sich Porthos in jeden Kampf stürzte und wie leicht er sich provozieren liess, dann war ihm klar, dass Porthos nicht als alter Mann im Bett sterben würde. Und wenn er d’Artagnan sah, der mehr Heldenhaftigkeit in sich trug, als gut für ihn war, dann fürchtete er jeden Tag um dieses junge Leben.

 

Bei Aramis lagen die Dinge anders. Zum einen hatte der das Glück des Teufels. Er schrammte oft haarscharf an der Katastrophe vorbei, irgendwie entging er ihr jedoch immer wieder. Und zum anderen konnte Aramis sehr gut auf sich selbst aufpassen. Sein Selbsterhaltungstrieb und sein Überlebenswillen waren unerschütterlich. Aramis, der kluge und gerissene Aramis, würde sie alle überleben, das war für ihn immer klar gewesen.

 

Gott schien das nicht so klar zu sein, denn jetzt lag Aramis todkrank darnieder.

 

„Das ist nicht fair“, schrie er in die Dunkelheit und dann, vom plötzlichen heissem Zorn erfüllt, rammte er die Faust gegen den Türpfosten. Es brachte nichts, abgesehen davon das jetzt seine Knöchel bluteten. Er starrte auf das Blut, dass seine Haut hinabrann, seltsame Muster hinterliess. Es faszinierte ihn auf eine abstossende Art und Weise, lenkte ihn ab von den Gedanken, die wirr und dunkel in seinem Kopf tanzten.

 

Er war so versunken in den Anblick, dass er d’Artagnan erst bemerkte, als dieser die Hand auf seine Schulter legte. Die Berührung war federleicht, dennoch fuhr Athos herum, als hätte ihn d’Artagnan geschlagen. Als er in das bekümmerte und traurige  Gesicht seines Schülers sah, beschämte ihn dies. D’Artagnan versuchte, stark zu sein, versuchte die Haltung zu bewahren. Und er? Er konnte es einfach nicht.

 

„Ich kann ihm nicht beim Sterben zusehen“, flüsterte Athos erstickt, „das übersteigt meine Kräfte. Er war immer so gesund, so unverwüstlich. Ich kann das nicht ertragen ihn so zu sehen.“

 

D’Artagnan sagte nichts, sprach nicht dagegen, machte ihm keine Vorwürfe. Stattdessen öffnete er einfach die Arme und zog Athos in eine innige Umarmung. Erst wollte er sich dagegen sträuben. Dann jedoch spürte er d’Artagnans Wange an der seinen und sie war nass vor Tränen, die er bis jetzt nicht bemerkte hatte. Mit einem Mal begriff Athos, dass er nicht alleine war in seinem Schmerz.

Und er begriff noch etwas. Er alleine konnte es nicht durchstehen. Aber mit d’Artagnan an seiner Seite konnte er es.

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„Wie können wir ihm helfen?“, fragte Porthos. Er sass nicht mehr auf der Bettkante, sondern hatte sich wie Athos vorher hinter Aramis gekniet und dessen Kopf auf seinen Schoss gebetet. Aramis war in einen unruhigen Fieberschlaf gesunken, war der wirklichen Welt und damit auch Porthos entglitten. Manchmal schreckte er zwar auf und öffnete die Augen, allerdings waren sie glasig und nahmen seine Umgebung kaum mehr wahr. In Porthos brannte der Wunsch, ihn zu retten. Aber er war nun mal ein Krieger und kein Heiler.

„Das Wichtigste wäre, das Fieber zu senken. Aber was wir auch versuchten, es wollte nicht weichen. Er verglüht förmlich“, schloss Bruder Mathias traurig.

„Aber wir müssen doch etwas tun können! Wir können doch nicht einfach zusehen, wie er stirbt“, rief Porthos verzweifelt. Seine Hand ruhte auf Aramis‘ Stirn, aber die Hitze brannte nicht nur dort, sondern im ganzen Körper. Bleib bei mir, flehte er in Gedanken, verlass mich nicht. Wenn er doch nur früher gekommen wäre! Hatte er nicht gespürt, dass es Aramis nicht gut ging? Hatte die Wahrsagerin ihn nicht sogar gewarnt, dass Aramis schwer erkrankt war? Jetzt konnte er nichts mehr tun.

Bruder Mathias betrachtete ihn versonnen, dann sagte er zögernd: „Nun, manchmal hilft bei so hohem Fieber ein kaltes Bad…“

„Warum sagt Ihr das erst jetzt? Holt Wasser und füllt so eine verdammte Wanne“, verlangte Porthos, wohlmöglich eine Spur zu harsch, denn Mathias fuhr zusammen wie ein Kaninchen nach einem Pistolenschuss, widersprach aber tapfer: „Das ist nicht ohne Risiko. Es könnte sein, dass Monsieur Aramis‘ Herz diesen Kälteeinbruch nicht mitmacht und stehen bleibt. Einer meiner Mitbrüder fand es mal eine ausgezeichnete Idee mitten im tiefsten Winter ein Bad in einem eiskalten Bach zu nehmen. Er wollte damit seine Sünden büssen. Ich habe ihm natürlich von dieser blödsinnigen Idee abgeraten, aber er zog es vor sein lebensgefährliches Unterfangen durchzuführen. Am Ende zogen wir seine Leiche aus dem Wasser.“

Porthos starrte ihn an. Sollte ihn diese irre Geschichte von dem toten Mönch jetzt aufmuntern? Er entschied sich, nicht näher darauf einzugehen. Offenbar gehörte es zu Mathias‘ Schrullen, gruselige Begebenheiten zu erzählen, die absolut nichts Tröstendes an sich hatten. „Ihr meint also, Aramis könnte sterben wenn wir versuchen seine Temperatur zu senken. Aber Ihr sagt auch, dass das Fieber ihn bestimmt töten wird.“

Der Musketier sah das Zögern und die Angst in Mathias‘ Blick, er las jedoch auch den verzweifelten Wunsch zu helfen aus der bleichen Miene. Dann sah der Mönch auf Aramis, der sich wie ein Häufchen Elend zusammengerollt hatte und dessen Brust sich in ständigen heftigen Hustenanfällen hektisch hob und senkte. Ein sichtbarer Ruck ging durch den guten Bruder, dann nickte er entschlossen. „Tun wir‘s!“

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Es war ein seltsames Gefühl, Athos im Arm zu halten. Athos, das war ihr Fels in der Brandung, das war der schweigsame Ritter, der immer da war um ihm rechten Augenblick die schimmernde Rüstung anzulegen und sie alle aus dem Dreck zu ziehen, egal wie tief sie darin steckten. Doch jetzt schien ihn alle Kraft verlassen zu haben und jetzt war er es, der nach Halt suchte.

D’Artagnan wünschte, er könnte ihm mehr geben, als diese Umarmung. Er wünschte sich so sehr, dass er Athos das geben könnte, was dieser ihm immer so selbstverständlich offeriert hatte: Mut im Angesicht der Aussichtslosigkeit, Hoffnung, wo es keine mehr gab, Stärke, wo die anderen nur noch Schwäche zeigen konnten. Aber er selbst fühlte sich so verdammt hilflos, wenn er an Aramis dachte, der gerade dabei war seinen wichtigsten Kampf zu verlieren.

Doch das Wenige an Wärme und Sicherheit, dass er Athos bieten konnte, schien zu reichen. Er spürte, wie der Ältere tief Luft holte und sich langsam von ihm löste. „Danke“, murmelte er und fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Haare, „geh wieder rein. Ich…Ich hätte jetzt gerne noch ein wenig Zeit für mich.“

Das war schon wieder der alte Athos. Dramen machte er lieber mit sich selber aus, statt seine Freunde damit zu belasten. Allerdings, das letzte Mal als d’Artagnan einen aufgelösten Athos allein gelassen hatte, hatte er es beinahe geschafft, sich sturzbetrunken von seiner wütenden Ehefrau verbrennen zu lassen, von daher war es vielleicht keine gute Idee, seinen Wünschen nachzukommen.

Athos gluckste leise. „Keine Angst. Ich werde mich nicht in die Heugabel stürzen, sobald du mir den Rücken zudrehst.

D’Artagnan zuckte unwillkürlich zusammen. Manchmal hätte er schwören können, dass Athos Gedanken lesen konnte. Ein Blick in Athos‘ Gesicht überzeugte ihn, dass sein Freund keinerlei Selbstmordgedanken hegte. Er wirkte noch immer betroffen, aber gefasst und der kühle Blick aus den stahlblauen Augen zeugte von der gewohnten Schärfe.

Also nickte er Athos noch einmal zu, bevor er zurück ins Haus ging. Er war kaum über die Schwelle getreten, da stiess er mit Constance zusammen, die aus irgendwelchen unbekannten Gründen einen schweren Zuber gefüllt mit Wasser durch die Gegend schleppte. Sie schrie erschrocken auf und schüttete vor Schreck einen kleinen Teil über d’Artagnans Hose.

„Pass doch auf!“, fuhr sie ihn heftig an.

D’Artagnan war nicht minder ärgerlich. Mit seiner Laune stand es ohnehin nicht zum Besten und jetzt kam zu seiner Angst um Aramis auch noch das äusserst unangenehme Gefühl einer feuchten Hose. „Warum zum Teufel trägst du denn Wasser spazieren?“

„Das ist für ein Bad“, schnappte sie.

D’Artagnan fiel aus allen Wolken. Aramis lag im Todeskampf darnieder und Constance dachte an ihre Schönheitspflege. „Dir fällt nichts Besseres ein, als jetzt zu baden?“  

In ihren dunklen Augen blitzte es gefährlich. „Glaubst du wirklich, mir steht jetzt der Sinn nach einem Bad? Glaubst du, es ist mir egal, dass Aramis gerade dabei ist im Bett meines Mannes zu sterben?“ Jedes ihrer Worte war begleitet von einem drohenden Zischen.

D’Artagnan wusste, er war zu weit gegangen. Innerlich schalt er sich einen Narren. Aber immer wenn er Constance sah, wurde er so wütend. Wütend darüber, dass sie einfach alles, was sie gehabt hatten, weggeworfen hatte für ein bürgerliches Leben mit ihrem Mann. Wütend darüber, dass sie jetzt so tat, als sei das zwischen ihnen ein Ausrutscher gewesen, etwas, wofür man sich schämen musste. Aber es war mehr zwischen ihnen. Es war nicht einfach nur Begehren oder körperliche Anziehung. Sie war einfach die Frau, die zu ihm gehörte. Auch wenn sie mit einem anderen verheiratet war, sie gehörte zu ihm. Was kümmerte es ihn, was die bürgerliche Gesellschaft sagte, wenn sein Herz so sehr nach ihr schrie, dass es wehtat?

„Constance…verzeih. Das war dumm von mir.“

Doch sie schien nicht in nachsichtiger Stimmung zu sein. „Ich kann nicht glauben, dass du in dieses Haus kommst um mir Vorwürfe zu machen, nachdem ich die letzten Tage damit verbracht habe, an Aramis‘ Bettkante zu sitzen und ihm zu erklären, warum ihr nicht da seid.“

Der Vorwurf in ihrer Stimme war unüberhörbar, aber d’Artagnan beschloss, nicht darauf einzugehen, ansonsten würden sie anfangen zu streiten. Und d’Artagnan hatte ernsthaft Zweifel daran, ob seine Freunde es gutheissen würde, wenn er in diesen schwierigen Stunden auch noch seine Liebesnöte ausbreitete. Deshalb beschloss er, seinen Schmerz beiseite zu schieben und griff nach dem Zuber. „Komm. Der ist doch viel zu schwer für dich.“

Constance war jedoch nicht gewillt ihren Zuber loszulassen. Sie verstärkte den Griff noch. „Ich kann das selbst. Ich brauch keine Held, der mich rettet.“ Die Zweideutigkeit in ihrem Satz war beabsichtigt. Im Gegensatz zu ihm wollte sie sich offensichtlich streiten. Nun gut, das konnte sie haben.

„Willst du noch jemanden das Wasser über die Hose schütten?“, fragte er spöttisch.

„Das ist mir nur passiert, weil du in mich reingerannt bist!“

„Die Hose ist auf jeden Fall ruiniert.“

„Schade habe ich nicht das, was in der Hose ist, ruiniert!“

„Sagt mal, worüber sprecht ihr beiden da eigentlich?“

Erschrocken fuhren die beiden zornesroten Köpfe herum. Lässig an den Türrahmen gelehnt stand Athos und betrachtete die beiden mit hochgezogenen Augenbrauen. D’Artagnan verbiss sich einen Fluch. Wieso musste Athos sich gerade diesen Moment aussuchen um aus seiner Melancholie aufzutauchen?

Sein Erscheinen brachte Constance aber wieder zur Vernunft. Sie drückte den Zuber in d’Artagnans Hände. „Bring das nach oben. Aramis nimmt ein Bad“, sagte sie im geschäftsmässigen Ton und rauschte dann an ihm vorbei. Jetzt war d’Artagnan noch verblüffter. Aramis nahm ein Bad? Vorhin hatte es nicht so ausgesehen, als würde Aramis je wieder das Bett verlassen und jetzt wollte er baden?

„Sag mal d’Artagnan…“ Athos‘ gedehnter Tonfall verhiess nichts Gutes, „wie war das noch einmal mit der Hose? Ich habe da nicht alles ganz verstanden…“

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Ihm war so entsetzlich heiss, dass er glaubte in Flammen zu stehen. War das schon die Hölle? Brannte er schon im Fegefeuer für seine Sünden? Verdient hätte er es gewiss. Er hatte mit der Königin geschlafen und er konnte es nicht einmal aufrichtig bereuen, weil er es jederzeit wieder tun würde. Er hatte Francis nicht retten können. Und er hatte Porthos nicht warnen können. Was war er für ein Freund? Was war er für ein Musketier? Er war keines von beiden, er war nur ein armer Sünder und wenn er jetzt auf ewig in der Hölle schmoren würde, so hatte er das verdient.

Er glaubte Stimmen zu vernehmen, leise, aufgeregte Stimmen. Sie schienen weit weg zu sein, aber sie hatten etwas wunderbar Tröstendes. War er gar noch nicht tot? Er versuchte die Augen zu öffnen, aber seine Lider fühlten sich bleischwer an. Wäre er doch nur nicht so entsetzlich müde. Ihm entglitt die Wirklichkeit, er driftete davon und er war viel zu ausgelaugt um sich dagegen zu wehren.

Jemand rüttelte an seiner Schulter. „Aramis, komm schon, mach die Augen auf. Wir haben auch ein schönes Bad für dich vorbereitet.“

Porthos, dachte Aramis, mein guter Porthos. Richtig, er war ja gekommen. Zu ihm. Aber er hatte ihm nicht sagen können das….ja, was hatte er ihm eigentlich sagen wollen? Er wusste es nicht mehr. War es wichtig gewesen? War überhaupt noch etwas wichtig? Gleichgültigkeit kroch in seine Glieder. Er wollte nur schlafen. Wenn es nicht so heiss wäre, könnte er endlich einschlafen.

Doch sie schienen andere Pläne mit ihm zu haben. Er spürte, wie er aufgerichtet wurde. Der Hustenreiz wurde wieder übermächtig, aber nur ein ersticktes Keuchen entfloh seinen Lippen. Teufel noch mal, wie konnte man nur so schwach sein. Wann war er das letzte Mal so krank gewesen?

Jemand hielt seine Arme hoch, während andere Hände ihm das Hemd über den Kopf streiften. Hätte er noch die Kraft dazu gehabt, hätte er gelacht. Nutzten sie seine Wehrlosigkeit jetzt aus, um ihn zu entkleiden? Zu kümmern brauchte es ihn ja nicht. Er war ja schon nicht mehr Teil dieser Welt.

Als er die so vertrauten Arme von Porthos spüre, die ihn so leicht hochhoben, als sei er ein Kind, glaubte er, zu wissen was sie vorhatten. Er war schon tot und jetzt würden sie ihn begraben. Nackt. Das war schon in Ordnung so. Vor Gott brauchte er keine Kleider. Wenn er überhaupt jemals bei diesem ankam. Es war nur schade, dass er gar nicht hatte richtig Abschied nehmen können. Dafür lag er jetzt in Porthos‘ sicheren, warmen Armen. Gab es eine schönere Art zu Grabe getragen zu werden?

Sogar auf seinem letzten Weg, liess sein treuer Freund ihn nicht im Stich.

Das Gefühl der Geborgenheit verliess ihn jedoch, als kühles Wasser über seine Brust geschüttet wurde. Vor wenigen Augenblicke hatte er sich noch nach Kälte gesehnt, jetzt fröstelte er und begann zu zittern. Was taten sie nur mit ihm? Porthos‘ Griff lockerte sich auf einmal und für einen Moment glaubte er, sein Freund liesse ihn einfach so ins Grab fallen wie eine heisse Kartoffel.

„Alles ist gut, ich halte dich fest. Ich lass dich nicht fallen.“

„Es wird jetzt richtig kalt, aber danach wird es dir bestimmt besser gehen.“

Auf einmal begriff Aramis, dass er nicht in ein Grab gelegt  wurde, sondern in Wasser. Es wanderte seine Beine hinauf, schwappte dann über seinen Unterleib und kam ihm schliesslich bis zur Brust. Wollten sie sein Leiden abkürzen und ihn ertränken wie einen überflüssigen, schwächlichen Welpen?

Porthos hielt jedoch sein Versprechen. Er liess ihn nicht los, hielt seinen Kopf über Wasser, während sein restlicher Körper vom kühlen Nass überschwappt wurde. Er strich ihm beruhigend über die Stirn, als er anfing sich zu verkrampfen, weil die plötzliche Kälte ihn quälte, auch wenn sie die Hitze aus seinen Gliedern vertrieb. Er flüsterte Worte in sein Ohr, Worte, die er nicht recht begreifen konnte, aber alleine der Klang seiner Stimme vermittelte ihm Geborgenheit. Und er verstand, dass Porthos gerade um sein Leben kämpfte.

Er fühlte sich noch immer schwach und krank. Aber die Gleichgültigkeit war weg.

Er wollte leben.

Er musste leben.

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Mathias beobachtete mit einem warmen Gefühl in Bauch, wie sich der der riesenhafte Hüne – Porthos nannten sie ihn – über seinen Freund beugte und  mit überraschend viel Zartheit über die feucht gewordenen Locken strich. Das Bad war besser gegangen als erwartet. Auch wenn Aramis sich erst gesträubt und dann sogar gekrampft hatte, hatte sein Herz durchgehalten. Das war zum grossen Teil Porthos zu verdanken, der ihn nicht nur unerbittlich über Wasser gehalten, sondern ihm auch seelisch beigestanden hatte. Das Band dieser zwei Männer war stark, das konnte Mathias spüren. Jetzt verstand er auch, wieso Aramis so verzweifelt nach Porthos verlangt hatte.

„Er ist immer noch warm.“ Porthos‘ besorgte Stimme riss Mathias aus seinen stillen Betrachtungen. Seine dunkle und kräftige Hand ruhte auf der kalkweissen Stirn und der Kontrast liess Aramis noch zerbrechlicher wirken.

„So schnell geht das nicht. Das Fieber ist noch da, aber es ist nicht mehr so hoch.“ Vielleicht steigt es aber wieder, fügte er hinzu, aber er brachte es nicht über sich, es laut auszusprechen und die Hoffnung in Porthos‘ Blick wieder zu zerstören.

Aramis begann wieder zu husten, dieses furchtbar rasselnde Geräusch, das Mathias zu hassen begonnen hatte. Porthos rieb ihm heftig über den Rücken und liess die Hand dann im Nacken seines Freundes ruhen, als sei Aramis ein Kätzchen, das es zu kraulen galt. „Was können wir noch tun?“

Mathias spürte, wie sich der alte Kampfgeist in ihm regte. „Ich werde Wadenwickel vorbereiten. Es scheint zu helfen, wenn wir ihn bei einem Hustenanfall aufrichten, also werden wir auch das tun. Und ich werde Madame Bonacieux bitten, noch mehr Tee zu kochen…“

Porthos bedachte ihn mit einem langen, prüfenden Blick. „Das wird wohl eine lange Nacht.“ Und nur Gott weiss, wie er enden wird, dachte Mathias. Auch wenn Aramis offenbar beschlossen hatte, doch nicht so schnell kleinbeizugeben, war die Lage noch immer ernst, die Lungenentzündung noch immer gefährlich.

„Lange und dunkel“, prophezeite er düster.

Ein plötzliches Lächeln erhellte Porthos‘ Gesicht. „Aber eines ist sicher.“

„Und was?“, fragte Mathias.

„Irgendwann geht immer die Sonne auf.“