Wem die Stunde schlägt von LadyAramis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 10 BewertungenKapitel Frühstück bei Richelieu
Kapitel 22
Frühstück bei Richelieu
Dass der Tag nichts werden würde, wusste Tréville spätestens in dem Moment, als ein Bote des Kardinals morgens an seine Tür klopfte und ihm ein Billet aushändigte. Kommt um zehn Uhr in mein Arbeitszimmer stand da in der ordentlich kleinen Schrift Richelieus. Von Bitte und Danke hatte er ja noch nie viel gehalten.
Also zog Tréville sich an, seinen Degen um und setzte sich seinen Hut auf, um sich in den Louvre zu begeben. Die Wachen liessen ihn mit einem kurzen Blick auf Richelieus Billet passieren. Wenn sie überrascht waren, dass Tréville beim Kardinal und nicht beim König eine Audienz hatte, so liessen sie es sich nicht anmerken, auch wenn es allgemein bekannt war, dass Tréville und Richelieu nur ungern Zeit miteinander verbrachten.
Als Tréville das Arbeitszimmer betrat, wäre er beinahe über eine von Richelieus vermaledeiten Katzen gestolpert. Er verbiss sich einen Fluch. Dass der Kardinal eine dermassen innige Zuneigung zu Tieren fassen konnte, bewies immerhin, dass er so was wie ein Herz hatte, allerdings konnte sich Tréville nicht dem Verdacht erwehren, dass die Viecher in Wirklichkeit Spione des Kardinals waren. Allzu oft tauchten die Samtpfoten an allen möglichen Orten des Palastes auf und schienen mit ihren spitzen Ohren alles zu hören, was in den Gemächern geflüstert wurde.
Die Katze liess ein empörtes Fauchen hören und marschierte dann mit erhobenem Schwanz unter den Schreibtisch ihres Herrn, der sich runterbeugte, um den seidigen Kopf zu kraulen.
Richelieu war noch beim Frühstück, auf seinem Schreibtisch, sonst übersät von Papieren und Büchern, stand ein schweres Tablett gefüllt mit saftig aussehenden Früchten und Brot, alles herrlich angerichtet auf kostbaren Geschirr. Obwohl Tréville diese Art von demonstrierten Prunk verabscheute, lief ihm bei diesen Anblick das Wasser im Mund zusammen und er konnte nicht verhindern, dass sein Magen vernehmlich knurrte.
Richelieu lächelte spöttisch. „Tréville! Ich weiss Eure Pünktlichkeit zu schätzen. Selbst Euer Frühstück lasst Ihr dafür ausfallen. Aber das sind eben die Soldaten, die unser Land braucht!“
Tréville liess sich von dieser hämischen Begrüssung nicht aus der Ruhe bringen. Von Richelieu war er Herablassung gewohnt und obwohl sie eine Art Waffenstillstand geschlossen hatten, war ihre Beziehung zueinander nicht herzlicher geworden. Deswegen warf sich Tréville auch betont leger auf seinen Stuhl und schlug die Beine übereinander, nicht ohne seine schmutzigen Stiefel noch schnell am Tischbein abzureiben. Nichts brachte den Kardinal mehr in Rage, als wenn er sich auf diese provozierend flegelhafte Art benahm.
Es fruchtete auch diesmal. „Ist Euer Gehalt so niedrig, dass Ihr Euch keine zweite Uniform leisten könnt oder warum lauf Ihr immer in derselben, zerschlissenen Kleidung herum?“
„Ich hoffe, Ihr habt mich nicht rufen lassen, um über meine Erscheinungsbild zu diskutieren“, entgegnete Tréville und legte seinen Hut – in der Tat sein hässlichstes Exemplar – auf den ohnehin überfüllten Schreibtisch, direkt neben Richelieus Tasse. Der Kardinal zog pikiert die Augenbrauen hoch, enthielt sich aber eines Kommentars und sagte stattdessen: „Nein, natürlich nicht. Ich habe Euch rufen lassen, weil ich wissen wollte, ob Eure phänomenalen Musketiere schon etwas rausgefunden haben, was diese mysteriösen Todesfälle anbelangt. Mir ist zu Ohren gekommen, es hat einen weiteren Mord gegeben. Und der Unglückliche ist niemand Geringeres als der verehrte Robert Dupont, der famose Kronzeuge, der Euren Musketier ins Gefängnis gebracht hat.“
Hatte er es also schon wieder rausbekommen. Unwillkürlich warf Tréville der Katze, die sich jetzt elegant das Fell putzte, einen vorwurfsvollen Blick zu. Er misstraute dem Vieh einfach. „Robert Dupont wurde erhängt in einer Kirche gefunden.“
„Selbstmord?“, fragte der Kardinal, während er einen Apfel in kleine Stückchen schnitt.
Tréville ignorierte seinen Magen, der sich beim Anblick der saftenden Frucht, wieder zu Wort meldete. „Nein. Also wir gehen zumindest nicht davon aus. Dupont war ein gefährlicher Mitwisser für die Täterin. Wir nehmen an, sie hat sich ihm entledigt.“
Richelieu schob sich ein Apfelstückchen in den Mund und kaute bedächtig. „Warum hat er unserer grossen Unbekannten geholfen? Ich dachte, er und Euer Musketier seien befreundet?“
An diesem Punkt zögerte Tréville. Es war ihm unangenehm über Roberts und Lefèvres skandalöse Beziehung zu sprechen. Der Kardinal war zwar grosszügig was seine eigenen Sünden anbelangt, das galt allerdings nicht wirklich für seine Mitmenschen. Und die Kirche, verurteilte gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen. Allerdings, wenn sie den Fall lösen wollten, dann brauchen sie Richelieu. Ausserdem hatte sich Lefèvre den Ärger selbst zuzuschreiben. „Robert hatte ein dunkles Geheimnis. Er hat sein Bett mit einem Mann geteilt. Wahrscheinlich hat sie ihn mit diesem Wissen erpresst.“
Richelieu schien diese Enthüllung nicht gross zu beeindrucken. Wahrscheinlich hörten die scharfen Ohren des Kardinals am Hof noch weitaus skandalösere Dinge. „Sieh an, sieh an. Nun ja, stille Wasser sind tief. Und mit wem hat Dupont seine Schäferstündchen abgehalten? Etwa mit dem getöteten Musketier?“
Tréville sah wehmütig zu, wie Richelieu ein Stück Brot entzweibrach. Wenn der Kardinal bei jeder Mahlzeit einen so gesunden Appetit an Tag legte wie beim Frühstück, grenzte es an ein Wunder, dass er sich seine schlanke Figur bewahrt hatte. „Mit Pierre Lefèvre. Dem Wirt der ‚Fröhlichen Gans‘.“
Als Richelieu den Namen ‚Fröhliche Gans‘ hörte, sog er erschrocken die Luft ein und verschluckte sich an seinem Brot. Er hustete und würgte, während sein Gesicht rot wie eine Tomate wurde. Seine Katze stiess ein erschrockenes Fauchen aus und sauste unter einem Sessel. Nur noch die zwei gelben Augen leuchteten gespenstisch hervor. Tréville unterdessen unternahm zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage eine Rettungsaktion für den Kardinal, auch wenn sie diesmal weniger spektakulär ablief. Tréville klopfte Richelieu einfach einmal kräftig auf den Rücken und spuckte die Brotreste in eine Serviette.
„Erst schlucken, dann reden“, kommentierte Tréville trocken und gestatte sich ein amüsiertes Grinsen. Warum reagierte Richelieu so ungewohnt heftig auf die Erwähnung der ‚Fröhlichen Gans‘? Oder interpretierte er das falsch und Richelieu hatte sich einfach zufällig verschluckt?
Richelieu standen Tränen in den Augen und er griff hastig nach seinem Glas, um einen Schluck zu trinken. „Ich werde es mir merken“, knurrte er, „habe ich das richtig verstanden? Ist das nicht das Lokal, in dessen Hinterhof Francis ermordet wurde? Und Pierre Lefèvre ist der Wirt?“
Nun, offenbar gab es doch Dinge, die Richelieu entgingen. Das war nun doch einigermassen tröstlich. „Wusstet Ihr das nicht?“
„Meine Männer haben mir nur berichtet, dass Francis in diesem Hinterhof gefunden wurde. Sie haben mir nicht gesagt, dass Pierre Lefèvre der Wirt dieser Spelunke ist!“
Tréville betrachtete Richelieu prüfend. Lag da tatsächlich ein rötlicher Schimmer auf den bleichen Wangen? Was verband den strengen, unbarmherzigen Kardinal mit dem sprunghaften, lasterhaften Lefèvre? Tréville konnte sich nur schwer vorstellen, dass Richelieu in dem Lokal ein – und ausging. „Der Name scheint Euch wohlbekannt zu sein!“
„Und ob! Wo Monsieur Lefèvre auftaucht, ist der Ärger meist nicht weit. Wundert mich gar nicht, dass er in die Sache verwickelt ist. Er ist doch in die Sache verwickelt oder?“, fügte er mit Nachdruck hinzu, als wäre jede andere Antwort als „Ja“ völlig ausgeschlossen.
Tréville hob unschlüssig die Schultern. „Er ist auf jeden Fall mehr in die Sache verwickelt, als es anfangs schien.“ Und er erzählte dem Kardinal von Fleur Delacroix und Athos‘ Verdacht, dass sie bei Lefèvre Zuflucht gefunden hatte.
Richelieu hatte aufgehört zu essen und lauschte aufmerksam, wobei seine langen Finger unaufhörlich auf den Tisch trommelten. In seinen dunklen Augen glomm ein Funke, der Tréville geradezu unheimlich vertraut war. So sah Richelieu immer aus, wenn er entschlossen war, irgendetwas ans Tageslicht zu zerren, egal was es ihn und andere kostete. Normalerweise hatte er diesen Blick streng für Musketiere reserviert. Lefèvre musste ihm wahrlich etwas Schlimmes angetan haben.
Als Tréville geendet hatte, schlug Richelieu jäh mit der flachen Hand auf den Tisch, wobei das Geschirr ein vernehmliches Klirren von sich gab. „Verdammt, Tréville! Wieso habt Ihr nicht gleich den ganzen Gasthof räumen lassen und den Laden durchsucht?“
„Kardinal Richelieu, ich kann nicht einfach mal eben einen Gasthof auf den Kopf stellen, aufgrund einer vagen Vermutung. Es gibt keine Verbindung zwischen Fleur Delacroix und Pierre Lefèvre, ausser einem verdächtigen Kleidungsstück“, antwortete Tréville ruhig. Er hatte es längst aufgegeben, sich darüber zu ärgern, dass Richelieu immer und überall seine Kompetenz in Frage stellte.
„Euer ständiges Zögern und Abwarten ist der Grund wieso der Mörder immer noch frei herumläuft!“, entgegnete Richelieu scharf.
„Musketiere tragen die Uniforme des Königs. Wir haben einen Ruf, den wir bewahren müssen. Wir können nicht einfach unbescholtene Bürger nach Lust und Laune festnehmen, während uns ganz Paris dabei zusieht!“
Richelieu schnaubte. „Pierre Lefèvre ist ganz gewiss kein unbescholtener Bürger. Aber wenn Ihr Euch so ziert, werden eben meine Männer den Laden auseinander nehmen. Und dann werde ich Monsieur Lefèvre zu einer gemütlichen Teestunde einladen und ein gemütliches Schwätzchen mit ihm halten.“
Das klang alles weniger nach einer Einladung als vielmehr nach einer Drohung. „Eure Eminenz, ich weiss, Ihr hört ohnehin nicht auf meinen Rat, aber ich gebe ihn Euch trotzdem: Wir sollten jetzt nichts überstürzen. Dass Monsieur Lefèvre ein mehr als fragwürdiges Geschäft unterhält, da sind wir uns einig. Aber wenn wir zu früh Schritte einleiten, schrecken wir die Rehe auf und sie entkommen uns wieder.“
„Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber Eure Ermittlungen haben bisher nichts gebracht, ausser noch mehr Fragen aufzuwerfen und eine weitere Leiche zu präsentieren. Eure Musketiere lassen nach, Tréville. Es wird Zeit, dass ich mich persönlich um diese unerfreuliche Angelegenheit kümmere.“
Der trotzige Tonfall passte gar nicht zu dem sonst so kühlen Kardinal. Tréville beschloss, ergeben zu nicken. Wenn Richelieu unbedingt mit Pauken und Trompeten die „Fröhliche Gans“ räumen lassen und damit die Aufmerksamkeit von ganz Paris auf sich ziehen wollte, sollte er es eben tun. „Wie Ihr wünscht, Eure Eminenz.“
Richelieu blinzelte, offensichtlich erstaunt, über den Mangel an Widerstand. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Euer Regiment sich ein wenig verkleinert hat. Ausgerechnet Eure besten Männer sind seit gestern Abend spurlos verschwunden.“ Wie aufs Stichwort nährte sich die Katze wieder ihren Meister und sprang in einer geschmeidigen Bewegung auf Richelieus Schoss. Ihre gelben Augen richteten sich auf Tréville und für einen Moment glaubte dieser sogar zu sehen, wie sich die pelzigen Züge zu einem hämischen Grinsen verzogen. Er nahm sich vor, in Zukunft jede Katze sofort aus der Garnison zu verbannen.
„Eine dringende Angelegenheit, die keinen Aufschub duldete.“ Das war nicht einmal gelogen. Ein kranker Aramis war wirklich mehr als eine dringende Angelegenheit. Tréville verdrängte den Gedanken aber schnell wieder. Er musste vor Richelieu den Gelassenen spielen und durfte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihm das Schicksal von Aramis beschäftigte. Auch wenn Richelieu seine Wut gerade auf jemand anderen lenkte, wenn er herausfand, dass sie Aramis versteckt hielten, würde er nicht zögern, den Musketier vom Krankenbett in die nächste Gefängniszelle zu zerren.
„Eine dringende Angelegenheit, soso“, Richelieus Finger kraulten behutsam durch das Fell, aber zum Glück, bohrte er nicht weiter, sondern sagte abschliessend: „Nun denn. Ich werde so handeln, wie ich es für richtig halte.“
„Alles andere hätte mich auch erstaunt. Aber ich wäre froh, wenn ich bei dieser Teestunde mit Lefèvre dabei sein könnte.“
„Und wieso?“
Weil ich nur zu gern wüsste, was zwischen Euch und Pierre vorgefallen ist, dachte Tréville. Laut sagte er: „Es geht immer noch um meinen toten Musketier und um einen anderen meiner Musketiere, der für genau dieses Verbrechen beschuldigt wird.“
Richelieu verdrehte die Augen. „Der gute Vater für seine Musketiere, jaja. Aber bitte. Ich lasse nach Euch schicken, sobald ich Lefèvre habe. Vielleicht werdet Ihr dann noch lernen, wie man mit Verdächtigen umgeht.“
„Ihr wisst ja: Eure Eminenz ist mein grösstes Vorbild.“ Tréville gab sich nicht einmal Mühe, den Spott zu verbergen. Die Lagebesprechung schien beendet zu sein, also stand Tréville auf, tippte kurz an seinem Hut und neigte als kurze Respektbezeugung den Kopf. Richelieu entliess ihn mit einem ungeduldigen Wedeln der Hand.
Morgenbesprechung mit dem Kardinal war nicht gerade ein idealer Tagesbeginn und das Magenknurren half nicht gerade beim Heben der Laune. Missmutig eilte Tréville durch die verschlungen Gänge der Louvre. Vielleicht sollte er noch kurz beim König vorbeischauen. Er war oft um diese Zeit beim Frühstück und freute sich immer über Gesellschaft. Er würde sich nicht den Bauch vollstopfen, während sein halbverhungerter Captain vor ihm im Stuhl hing.
Doch als Tréville den Weg zu den Gemächern des Königs einschlagen wollte, hörte er das leise Trippeln von Frauenfüssen und kurz darauf rief eine Stimme: „Monsieur Tréville! Bitte wartet!“
Als Tréville sich umdrehte, sah er niemand Geringeren als Adelina, von allen nur die schöne Lady aus England genannt, auf sich zueilen. Sie wurde ihrem Spitznahmen auch in den frühen Morgenstunden gerecht. Ihr grünes, ausladendes Kleid schmeichelte ihren Augen und der hohe Kragen betonte ihren schmalen Hals. Ihre wilden Locken fielen ihr jedoch ungezähmt über die Schultern, ein Zeichen dafür, dass sie nicht die übliche Sorgfalt auf ihre Morgentoilette verwendet hatte.
Eine Spur ausser Atem blieb sie vor Tréville stehen, der sich galant verbeugte und ihre schmale Hand küsste. Sie war auf jeden Fall ein weitaus erfreulicher Anblick als Richelieu und seine Katze. „Gräfin Adelina! Was verschafft mir diese hohe Ehre?“
Sie blickte ihn verschwörerisch an. „Monsieur Tréville, es tut mir Leid, wenn ich Euch so rüde anspreche und noch dazu in einer Angelegenheit, die ganz und gar privat ist.“
Tréville ahnte schon, was jetzt kommen würde. Offenbar war es sein Schicksal, immer auch in die Liebesbeziehungen seiner Musketiere gezogen zu werden, auch wenn er sich dies stets ausdrücklich verbot. Er unterdrückte einen Seufzer. „Ich freue mich immer, wenn ich edlen Damen helfen kann. Besonders wenn sie nicht nur schön sind, sondern auch noch ein freundliches Herz haben.“
„Von allen Franzosen, die ich bis jetzt kennengelernt hatte, seid Ihr bei weitem der Charmanteste.“
Er erwiderte ihr neckisches Lächeln. „Wenn Porthos das jetzt gehört hätte, würde er Euch das wahrscheinlich übelnehmen.“
Damit hatte er ihr eine goldene Brücke gebaut und sie verlor auch gar keine Zeit mehr mit weiteren Spielchen. Nachdem sie einen raschen Blick über die Schulter geworfen hatte, um sich zu versichern, dass sie allein waren, dann senkte sie die Stimme. „Ich habe heute Morgen nach Porthos geschickt. Aber man sagte mir, er sei nicht in der Garnison.“
Sie versuchte ihre Eifersucht zu verbergen, aber es gelang ihr nicht richtig. Dachte sie wirklich, Porthos hätte sich schon ein anderes Liebchen gesucht und wolle sie nun loswerden? Nachdem er die letzten Wochen rumgelaufen war, wie ein liebestrunkener Jüngling und sich für sie sogar in Frauenkleider geworfen hatte? Wie misstrauisch war doch so ein Frauenherz!
„Da hat man Euch richtig informiert. Porthos musste gestern Abend überstürzt aufbrechen.“
„Eine Mission? So plötzlich?“
„Ich würde es nicht gerade Mission nennen."
„Aber was ausser seine Pflichten…o mein Gott“, unterbrach sie sich selbst, „o mein Gott, es ist etwas mit Aramis oder? Er hat mir erzählt, sie hätten ihn in Sicherheit gebracht aber…“
Er bedeutete ihr, etwas leiser zu sprechen. Hier hatten ja bekanntlich die Wände Ohre und es gab wohl keinen unpassenderen Augenblick um Aramis‘ Aufenthaltsort zu enthüllen. „Es geht ihm sehr schlecht. Wir befürchten das Schlimmste.“ Ausgesprochen tat es noch mehr weh und für einen Moment hatte Tréville Schwierigkeiten, sich zurückzuhalten und nicht alle seine Ängste mit dieser Frau zu teilen, die offenbar sehr mit Porthos mitfühlte.
Federleicht legte sich ihre Hand auf seinen Arm. „Dann verstehe ich. Verzeiht, meine kindische Aufmerksamkeit. Wenn Ihr Porthos seht, sagt ihm, dass ich an seiner Seite bin. Was auch immer geschieht.“
„Ich bin sicher, dass weiss er schon.“
„Und bitte: Haltet mich auf dem Laufenden. Wenn Ihr Nachricht von ihm habt, gebt mir Bescheid. Auch über das Befinden von Aramis.“
Als Bestätigung küsste er ihr erneut die Fingerspitzen. „Euer ergebener Diener.“
Sie nickte ihm noch einmal zu, dann drehte sie sich um und verliess ihn mit raschen Schritten, ganz so, als sei sie eine Waldfee aus dem Märchen. Porthos war wirklich ein Glückspilz, auch wenn diese Liebe wohl kaum eine Zukunft haben würde. Adelina war eine adelige Engländerin, Porthos ein Kind von den Strassen. Wenigstens brauchte er sich darum nicht zu kümmern.
Das Treffen mit Adelina war trotz dieser bittersüssen Liebesgeschichten ein Lichtblick gewesen. Doch lange hielt die gute Laune nicht an, denn vor den Gemächern des Königs traf ihn Louis‘ Kammerdiener, der ihm förmlich mitteilte, dass Ihre Majestät das Frühstück schon beendet hatte und ausgeritten war.
Tréville konnte nur schwer dem Drang widerstehen, den Kammerdiener mit Haut und Haar aufzufressen.
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Es war ein seltsames Gefühl, ohne Porthos und ohne Aramis in den Hof der Garnison zu reiten. Fast so, als wäre er ein Stück verletzlicher, ungeschützter. Und dennoch, als Athos aus dem Sattel glitt und die Zügel seines Pferdes, dem Stallburschen zuwarf, war es wie nachhause kommen. Zumindest bis zu dem Moment, als plötzlich eine kreischende Furie auf ihn zuschoss.
„Wo ist Monsieur Porthos? Ich muss mit Monsieur Porthos sprechen!“
Es dauerte einen Moment bis Athos zwischen all den flatternden Tüchern eine Frauengestalt ausmachen konnte, ein kleines, ältlich aussehendes Persönchen mit einem Kopftuch ums Haar. Doch trotz ihres gebrechlich wirkenden Äusseren, fühlten sich ihre Fingernägel, die sich in seinen Arm bohrten, äusserst schmerzhaft an. Es war, als würde sich eine sehr aggressive Katze an seiner Uniform festkrallen.
Energisch schob er sie von sich. „Madame, vielleicht habt Ihr die Güte Euch erst vorzustellen. Dann stehen wir Euch selbstverständlich für jegliche Auskünfte bereit.“
Sie sah ihn aus grossen, geweiteten Augen an und ihre Hand klammerte sich noch immer um seinen Arm, als befürchte sie, er könnte sonst davonlaufen. „Ich bin Madame Lilith. Die Pfade meines Schicksals haben sich mit denen von Monsieur Porthos gekreuzt. Ich muss mit ihm sprechen!“
„So viel haben wir inzwischen verstanden“, bemerkte d’Artagnan, der sich neben Athos positioniert hatte, allerdings in sicherer Entfernung von Madame Liliths Fingernägel.
Madame Lilith…war das nicht die verrückte Wahrsagerin, von der ihnen Porthos grinsend erzählt hatte? Die Frau, die den toten Robert gefunden hatte? Athos musterte sie mit neu erwachtem Interesse. Dass sie ein wenig verdreht war, konnte man ihr ansehen, aber vielleicht lohnte es sich doch, sich einmal Zeit für sie zu nehmen. Immerhin war sie eine Zeugin. Und so fragte er, mit einem deutlich wärmeren Unterton: „Was wünscht Ihr denn von Porthos? Vielleicht können wir Euch weiterhelfen. Denn zu meinen Bedauern, muss ich Euch mitteilen, dass unser Freund nicht hier ist.“
Ein wissender Ausdruck glitt über Madame Liliths Gesicht. „Dann ist er wohl bei seinem Freund. Derjenige, der so schwer erkrankt ist.“
Athos und d’Artagnan tauschten einen beunruhigten Blick. Athos hielt sich selbst für einen äusserst vernunftbegabten und nüchternen Menschen, eine Tatsache, die schon manchen seiner Freunde – vor allem Aramis – beinahe in die Verzweiflung getrieben hatte. Sein Glaube an Gott war zu oft erschüttert worden, als dass er noch bedingungslos an himmlische Mächte hätte glauben können. Dennoch lief ihm ein Schauer über den Rücken. Wie konnte sie wissen, dass Aramis krank niederlag? Hatte Porthos es ihr erzählt?
„Das tut nichts zur Sache! Sagt jetzt endlich, was Ihr wollt!“ D’Artagnan war ungewöhnlich harsch, aber die vergangenen, emotionalen Stunden schienen sein sonst so freundliches Wesen arg malträtiert zu haben.
Madame Lilith beachtete ihn gar nicht. Sie hielt ihren unergründlichen Blick fest auf Athos gerichtet. „Der Teufel bekommt Besuch von der Hexe“, flüsterte sie.
Daraus wurde Athos nicht recht schlau. „Von welchem Teufel sprechen wir genau? In Paris gibt es ja einige!“
„Pater Jaques! Und bei Nacht empfängt er seine Schwester, die Hexe, und gemeinsam schmieden sie böse Pläne. Ihr müsst sie aufhalten! Denkt an meine Worte: Die Unschuldigen ruhen zu Füssen des Engels, die Sünder treiben ihr Unwesen selbst hinter den Mauern des Palastes!“
D’Artagnan stiess ein ungläubiges Schnauben aus, aber Athos begann langsam zu glauben, dass hinter all diesen wirren Worten ein Körnchen Wahrheit steckte. Von diesem Priester hatte schon Porthos berichtet und auch er hatte sein Misstrauen bekundet. Hatte Jacques nicht versucht, Porthos davon zu überzeugen, Dupont hätte Selbstmord begangen? Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte er: „Diese Hexe…Wie sah sie aus?“
Doch Madame Lilith hatte sich schon von ihnen abgewandt und schritt würdevoll davon, wobei ihre Tücher sich im Wind bauschten und ihr geheimnisvolles Auftreten noch einmal unterstrichen. Bevor sie ihren Blicken entschwand, drehte sie sich noch einmal um. „Habt keine Furcht, meine Herren. Euer Freund mag noch in der Nacht wandeln, aber er sieht schon die Dämmerung des Morgens.“
„Verrückte alte Schachtel“, murrte d’Artagnan.
„Es gibt ein Sprichwort: Nur Betrunkene, Kinder und Verrückte sprechen die Wahrheit“, erwiderte Athos. Madame Lilith hatte ihm einigen Stoff zum Nachdenken gegeben. Viellicht hatten sie sich zu sehr auf die ‚Fröhliche Gans‘ und auf Ellen konzentriert und dabei andere, ebenso verdächtige Dinge, ausser Acht gelassen.
Madame Lilith hatte kaum den Hof verlassen, da tauchte ein äusserst missgelaunt wirkender Tréville auf, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Als er seine beiden Musketiere erkannte, blieb er wie angewurzelt stehen und stiess einen schweren Seufzer. „Meine Herren, ich bin sicher, Ihr habt mir Wichtiges zu berichten, da Ihr schon wieder zurück seid. Und glaubt mir, ich brenne darauf zu erfahren, wie es Aramis geht. Aber ich muss jetzt etwas essen. Dringend!“
So sassen d’Artagnan und Athos kurze Zeit später in Trévilles Arbeitsstube. Während dieser mit fast schon unanständigem Appetit ein reichhaltiges, allerdings arg verspätetes Frühstück zu sich nahm, gab d’Artagnan einen kurzen Bericht über Aramis‘ Gesundheitszustand. Athos überliess seinem jüngeren Kameraden das Reden. Er hatte viel Stoff zum Nachdenken. Er hatte das Gefühl, dass Madame Lilith ihnen einen wichtigen Schlüssel zur Lösung des Rätsels in die Hand gegeben hatte, aber er kam nicht drauf, wie er ihn verwenden sollte.
Tréville lauschte aufmerksam. „Das klingt in der Tat alles andere als gut“, sagte er traurig, nach d’Artagnans ausführlicher Schilderung über Aramis‘ Gesundheitszustand, „andererseits habe ich Aramis schon manches Mal totgesagt und er ist immer wieder aufgestanden. Wir müssen in die Kraft Gottes vertrauen, so wie er es tun würde.“
Betrübtes Schweigen senkte sich über die Männer. Es war schwierig, das Bild des schweratmenden, fiebernden Aramis aus seinem Kopf zu verbannen. Auch Porthos, der unerschütterliche, geradlinige Porthos fehlte ihnen, auch wenn Athos wusste, dass Aramis seinen Freund jetzt dringender brauchte.
Tréville straffte energisch die Schultern. „Trotzdem, meine Herren, ich bin froh, dass ihr zurückgekommen seid. Der Kardinal scheint ein wenig die Nerven zu verlieren. Aufgrund unseren ermittelten Erkenntnisse, ist er fest entschlossen die ‚Fröhliche Gans‘ räumen zu lassen und den Wirt zu verhaften.“
„Ist das nicht ein wenig übereilt? Bisher haben wir ja nur Vermutungen“, wunderte sich d’Artagnan.
Ein seltsames Lächeln kräuselte Trévilles Lippen. „Nun ja, es scheint als habe unser Kardinal eine persönliche Rechnung mit dem lieben Pierre Lefèvre zu begleichen.“
Das war in der Tat eine sehr abstruse Vorstellung, allerdings hatte Athos früh die Erfahrung gemacht, dass der Kardinal überall in Paris seine Finger im Spiel hatte. Warum also auch nicht auch in der ‚Fröhlichen Gans‘? „Überlassen wir dem Kardinal doch seinen persönlichen Rachefeldzug. Ich denke, wir sollten uns einmal um diesen Priester Jacques kümmern.“
„Weil diese irre Alte sich irgendwelche Verschwörungstheorien zusammenreimt?“, fragte d’Artagnan ungläubig.
„Porthos hat ebenfalls sein Misstrauen gegenüber Jacques geäussert. Abgesehen davon ist die Kirche ein Tatort. Es kann nicht schaden, dort einmal vorbeizuschauen.“
„Ich denke nicht, dass wir Richelieu unbeaufsichtigt in der ‚Fröhlichen Gans‘ wüten lassen sollten“, bemerkte Tréville, während seine Finger unablässig Kreise auf seinen Tisch zeichneten, „ich werde das im Auge behalten!“
Athos und d’Artagnan standen zeitgleich auf, doch bevor sie sich verabschieden konnten, schüttelte Tréville energisch den Kopf. „Nein, ihr werdet jetzt nicht gleich in die Kirche rennen! Ihr geht jetzt erst einmal ins Bett. Ihr seid so bleich wie ein Laken und um die dunklen Ringe um eure Augen zu verdecken, würden alle Puderdosen der Königin nicht ausreichen. Schlaft euch erst einmal ordentlich aus!“
Athos und d’Artagnan wechselten einen zerknirschten Blick. Die letzten, unruhigen Nächte hatten tatsächlich ihre Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen. Schlaf war wirklich zu kurz gekommen. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fühlte er die Müdigkeit in jedem einzelnen Knochen. Der Rat ihres Captains war – wie so oft – der richtige.
Bevor sie ihm jedoch Folge leisten konnten, hielt sie Tréville noch einmal zurück. „Ach, und vielleicht solltet ihr bei der Gelegenheit auch gleich noch ein Bad nehmen. Euer Geruch ist eine Spur zu exotisch für den königlichen Hof. Oder um es weniger geschwollen auszudrücken: Ihr stinkt wie ein Schweinestall!“
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Anmerkung: Die Katzenleidenschaft von Richelieu ist historisch verbürgt, wie ich seit der Lektüre der Fanfiction „Zwischen den Fronten“ weiss. Mir hat lange der richtige Einstieg in das Kapitel gefehlt, da kamen mir die Katzen gerade recht.