Wem die Stunde schlägt von LadyAramis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 10 BewertungenKapitel Der Kardinal und der Gastwirt
Kapitel 23
Der Kardinal und der Gastwirt
Trévilles Besuch hatte Richelieu in eine tiefe, innere Aufregung verursacht. Pierre Lefèvre! Nach so vielen Jahren lieferte das Schicksal ihm diese Ratte aus! Er wäre ein Dummkopf, wenn er diese Gelegenheit nicht nutzte und wenn er eines nicht war, dann dumm. Pierre hatte ihm eine der schlimmsten Demütigungen seines Lebens zugefügt und jetzt hatte er endlich die Gelegenheit sich dafür zu rächen.
Sein Kater strich ihm auffordernd um die Beine und er bückte sich, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. „Mein lieber Cäsar, das ist die Gelegenheit auf die wir so lange gewartet haben“, frohlockte er, erntete von seinem pelzigen Kameraden allerdings nur ein müdes Gähnen. Offensichtlich interessierten ihn die Rachegelüste seines Herrn nur wenig.
Richelieu erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. Tréville hatte zur Umsicht gemahnt, aber er würde sich diese grossartige Chance nicht nehmen lassen. Der Hauptmann sollte lieber froh sein, dass er seine Anstrengungen auf einen anderen Verdächtigen richtete, als auf seinen geliebten Musketier Aramis, der noch immer wie vom Erdboden verschluckt war und dessen merkwürdiges Schicksal jetzt auch noch seine Freunde ereilt hatte. Tréville musste ihn schon für sehr dumm halten, wenn er glaubte, er könnte ihn irreführen. Natürlich waren Athos, Porthos und ihr Schosshündchen d’Artagnan bei Aramis, wo auch immer das sein mochte.
Allerdings kümmerte das Richelieu gerade einen feuchten Dreck. Es wäre nett gewesen, diesen scharfzüngigen Aramis hängen zu sehen, noch dazu für einen feigen Kameradenmord. Das hätte dem Regiment der Musketiere erheblich geschadet. Aber Richelieu war kein Narr. Seine Anklage stand nur noch auf wackligen Füssen, seit diese Ellen der Lüge überführt worden war und Tréville würde zweifellos nicht eher ruhen bis er Aramis von jeglichem Verdacht reingewaschen hatte. Und dann war da noch die Königin, die ihre schützende Hand über ihren Favoriten hielt. Nein, Richelieu wusste, wann er verloren hatte. Aramis würde sein Nervenkostüm wohl doch noch eine Weile strapazieren.
Pierre Lefèvre dagegen hatte weder die unerschütterliche Loyalität der Musketiere, noch den Schutz einer einflussreichen Gönnerin. Ihn konnte er zum Fall bringen. Zumal er Pierre durchaus zutraute, in diese mysteriösen Angelegenheiten verwickelt zu sein. Der Wirt mochte immer den Anschein eines harmlosen Zeitgenossen erwecken, aber in seinem Lokal wurden vermutlich mehr Intrigen angezettelt als Wein getrunken.
Richelieu griff nach der silbernen Glocke, die auf seinen Schreibtisch stand und läutete kräftig. Als sein Kammerdiener das Zimmer betrat, deutete er mit einer ungeduldigen Handbewegung auf das Geschirr. „Bringt das weg. Und dann holt mir Férardier her.“
Während der Kammerdiener noch eilig zusammenräumte, setzt Richelieu sich hin und griff nach Feder und Papier. Der Hauptmann hatte sich bei seinen letzten Aufträgen zwar wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, aber man musste nun einmal mit dem arbeiten, was man hatte und wenn das Einzige, was man hatte, ein tumber aber loyaler Soldat war, war das ebenso. Wenn er Tréville etwas zugestehen musste, dann dass er eindeutig ein besseres Händchen für seine Rekruten hatte.
Férardier kam gerade, als Richelieu seine schwungvolle Unterschrift unter den Haftbefehl von Pierre Lefèvre setzte. Genau wie Tréville vor ihm übersah er Cäsar, nur konnte er das Gleichgewicht nicht so mühelos halten wie der erfahrene Soldat. Er stürzte, konnte sich mit knapper Not jedoch noch an der Schreibtischkante festklammern. „Eure Eminenz!“
„Férardier, ich schätze Ergebenheit, aber deswegen müsst Ihr Euch nicht gleich zu Boden werfen“, bemerkte Richelieu spitz und verzichtete darauf seine Hand zum Kuss zu bieten.
Im vergeblichen Bemühen sich zumindest einen Restbestand an Würde zu bewahren, strich Férardier sich über die Unform. „Wie kann ich Euch dienen?“
„Ich möchte, dass Ihr Eure Männer zusammenruft und die Fröhliche Gans räumen lasst.“
Férardier blinzelte verwirrt. „Die Fröhliche Gans? Auf welchen Befehl denn?“
Richelieu hasste es, wenn dumme Menschen in den falschen Momenten noch dümmere Fragen stellten. „Auf meinen Befehl, Férardier, der einzige Befehl, der für Euch zu gelten hat. Den Wirt der Gans lasst Ihr verhaften und ins Gefängnis bringen. Ich will, dass diesem sündigen Treiben ein Ende gesetzt wird!“ Mit diesen Worten drückte er Férardier den unterschriebenen Haftbefehl in die Hand, der ihn so erstaunt musterte, als habe Richelieu ihm gerade einen Beutel voll mit Cäsars Fäkalien übergeben.
„Aber ist das nicht ein gar drastischer Schritt? Ich kann Euch versichern, wir haben den Tatort gründlich durchsucht und das ganze Gasthaus auf dem Kopf gestellt.“
Musste der Tölpel gerade jetzt seinen eigenen Willen entdecken? „Oh, Verzeihung! Ich muss mich wohl geirrt haben, ich war bis eben der Meinung, ich sei Kardinal Richelieu, erster Minister von Frankreich und nach dem König, der mächtigste Mann im Land. Aber ich muss mich wohl getäuscht haben, denn wenn ich mich vor Hauptmann Férardier rechtfertigen muss, bin ich wohl ein gar niedriger Wurm.“
Férardier verstand die Warnung. „Eure Eminenz, ich werde tun, wie Ihr mir befiehlt.“
„So geht mit Gott.“ Richelieu schlug nachlässig das Kreuzzeichen über ihn und Férardier verabschiedete sich mit einem leichten Neigen seines Kopfes.
Cäsar sprang mit einem eleganten Satz auf den Schreibtisch. Er kraulte den Kater hinter den Ohren und stiess einen lauten Seufzer aus. „Manchmal denke ich, mein Leben wäre einfacher, wenn ich statt einfältige Männer, so kluge Katzen wie dich in meinem Regiment hätte.“
Cäsar liess ein zustimmendes Mauzen hören.
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„Ich kann mich doch auf Eure Diskretion verlassen?“ Pierre Lefèvre drückte dem Kutscher die Münzen in die Hand und sah ihm fest in die Augen. Dieser zählte umsichtig das Geld und steckte sie dann in die Tasche.
„Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Monsieur.“
Bevor er wieder auf den Kutschbock steigen konnte, hielt Pierre ihn noch einmal zurück. „Wenn Euch jemand fragt: Ihr kennt mich nicht. Ihr habt diese junge Dame nie gesehen. Und…
„…ich weiss auch nichts über ihren Aufenthaltsort“, wiederholte der Kutscher augenverdrehend und fügte seufzend hinzu: „Wenn Ihr wüsstet, wie oft ich darum gebeten werde, die Gesichter meiner Fahrgäste zu vergessen.
Fleur steckte ihren Kopf durch das Wagenfenster. Ihr Mund zitterte. „Muss ich denn wirklich Paris verlassen?“ Ihre Stimme hatte nichts mehr von dem üblichen verruchten Selbstbewusstsein, sie hatte vielmehr einen weinerlichen, kindlichen Klang. Es zerriss ihm beinahe das Herz. Als kleines Mädchen war sie damals zu ihm gekommen, abgemagert und mit zerschlissenen Schuhen, dennoch fest entschlossen, ihr Glück zu machen. Und sie hatte dank ihres eisernen Willen und ihrer Schönheit wahrlich eine traumhafte Karriere bei Hof hingelegt.
„Es ist doch nicht für immer, Schätzchen.“ Er griff durch das Fenster nach ihrer Hand. Trotz der Handschuhe fühlte er, wie eiskalt ihre Finger waren.
„Ich fühle mich wie eine Verräterin. Ich lasse alle im Stich. Marie, Lady Adelina…“ Tränen stiegen in ihre schönen blauen Augen und sie kramte hektisch nach einem Taschentuch. Zuvorkommend reichte er ihr seines, das sie mit einem dankbaren Lächeln annahm.
„Fleur, wir haben das doch alles besprochen. Du musst fort, bevor sie dir auf die Schliche kommen. Oder willst du alles zerstören, was du dir aufgebaut hast? Was wir uns aufgebaut haben?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, natürlich nicht, aber Pierre: Was wenn meine Flucht alles noch schlimmer macht?“
Ihr Zögern kam zu einem schlechten Zeitpunkt. Der Kutscher hat sich bereits mehrmals bedeutsam geräuspert. Ausserdem wäre Pierre erst dann beruhigt, wenn Fleur endlich aus der Stadt war. Robert war tot, Fleur konnte er jedoch noch retten und er würde alles tun, um wenigstens sie, die er wie eine Tochter liebte, vor jeglichem Schaden zu schützen.
„Fleur, du musst jetzt gehen. Ich schicke dir Nachricht wenn…wenn alles wieder seine Ordnung hat.“ Sofern es nach Roberts Tod jemals wieder so etwas wie eine Ordnung geben konnte, dachte er bitter. Für einen Moment musste er selbst mit den Tränen kämpfen, als sich der Abschiedsschmerz mit der noch immer so frischen Trauer über Roberts Tod mischte.
Während er vor ihren Augen zerbrach, fasste Fleur sich wieder. Sie wischte sich die Tränen ab und setzt sich aufrecht hin. „Adieu Pierre! Möge unser Abschied nicht von allzu langer Dauer sein.“
Er hauchte einen Kuss auf ihren Handschuh. „Auf Wiedersehen, Fleur.“
Sie zog ihre Hand zurück, klopfte mit ihrem Fächer gegen die Innenwand der Kutsche und fuhr endlich los. Eine Weile flatterte noch das Taschentuch im Wind, dann zog sich der weisse Arm zurück und die Kutsche schoss um die Ecke. Fleur war fort. Und Pierre fühlte sich mit einem Mal furchtbar alleine.
Er blieb leider nicht allzu lange alleine. Kaum war die Kutsche verschwunden, bog ein ganzer Schwarm von Roten Gardisten in die Strasse ein. Pierre versteifte sich. Die Kerle hatten schon einmal sein ganzes Lokal auseinander genommen und sie waren dabei nicht gerade zimperlich vorgegangen. Nach Roberts und Francis‘ Tod blieben ohnehin schon viele Gäste fern. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine weitere Durchsuchung seines Gasthauses.
„Guten Tag“, grüsste der Hauptmann. Er sah ausnehmend gut aus, mit scharfen Gesichtszügen und einem kräftigen Körperbau. An einem anderen Tag in einer weniger traurigen Zeit hätte Pierre ihm vielleicht schöne Augen gemacht, mit ihm kokettiert und dabei genossen wie die Schamesröte dem anderen die Wange färbte.
Jetzt musterte er den Roten Gardist kühl und verschränkte die Arme. „Er war gut, bis Ihr hier aufgetaucht seid. Ich kann Euch versichern, egal wie oft ihr meinen Hinterhof noch absucht, es tauchen nicht plötzlich aus dem Nichts irgendwelche Beweise auf.“
„Es tut mir leid, Monsieur Lefèvre, aber es geht nicht um Euren Hinterhof. Ich habe Anweisung, Euren Gasthof räumen zu lassen.“
Pierre verstand nicht. „Wie bitte? Was soll das heissen, räumen lassen?“
Der Hauptmann warf sich wichtig in die Brust. „Das bedeutet, dass wir das Lokal schliessen lassen.“
„Und was gibt Euch das Recht dazu?“, fragte Pierre und die Erregung liess seine Stimme brechen. Nahm das Unglück denn gar kein Ende mehr? War Gott so grausam gegen jene, die liebten?
„Dieses Schreiben“, erwiderte sein Gegenüber stolz, zog ein versiegeltes Dokument hervor und übergab es Pierre feierlich. Als er das Siegel erbrochen hatte, tanzten die Buchstaben wild vor seinen Augen, so aufgeregt war er und er konnte den Sinn der Worte nicht fassen. Und als er den Inhalt endlich begriffen hatte, wurde er bleich. Ihm war, als werde alles Blut aus seinem Körper getrieben und die Erde schien auf einmal zu schwanken. „Aber, das beinhaltet auch einen Haftbefehl für mich“, hauchte er entsetzt.
„Bedauerlicherweise.“
Bedauerlicherweise war nach Pierres Empfinden eine gewaltige Untertreibung. Er hatte sich immer gefürchtet vor den kalten Gefängnismauern. Dass seine Neigung gefährlich war, hatte er immer gewusst, dass er mit seinem Gasthaus ein hohes Risiko einging auch. Aber er hatte immer an der Grenze des Erlaubten balanciert, hatte seine Geheimnisse behutsam bewahrt und niemanden zu nah an sich rangelassen. Bis auf Robert. Und es schien, als würde ihm genau dieses Vertrauen, geboren aus Liebe, nun in die Arme seines schlimmsten Alptraumes treiben.
Dann sah er die Unterschrift. „Kardinal Richelieu veranlasst meine Verhaftung?“, fragte er ungläubig, doch sprach er mehr zu sich selbst, als zu dem Hauptmann. Dass diese alte Nemesis aus ihrem Grab gestiegen war, verstörte ihn beinahe noch mehr, als der drohende Gefängnisaufenthalt.
„Ihr dürft Euch geehrt fühlen. Der Kardinal streckt nicht nach jedem seine Finger aus.“ Es klang nicht einmal bösartig, eher als sei es tatsächlich ernst gemeint.
Nein, das war keine Ehre, denn er war keineswegs ein gefährlicher, politischer Feind, den es aus dem Weg zu räumen gab. Das hier war nicht mehr als eine kleine, persönliche Rache. Pierre fühlte den Schlag und er wusste auch, warum er geführt wurde. Und der Grund liess ihn in hysterisches Lachen ausbrechen. Er lehnte sich an seine Tür und schüttete sich so sehr aus vor Lachen, dass ihm die Rippen wehtaten. „Der Kardinal lässt mich tatsächlich nach all diesen Jahren verhaften? Er muss wahrlich rachsüchtig sein, wenn er sogar einen harmlosen Scherz so grausam Vergeltung übt!“
Der Rote Gardist begriff nicht und flüchtete sich in Förmlichkeiten. „Monsieur Lefèvre, ich verhafte Euch im Namen des Königs und des Kardinals von Frankreich!“
Diese furchtbaren Worte, die ausgesprochen noch so viel schrecklicher und vor allem so endgültig klangen, liessen das Lachen auf seinen Lippen ersterben. Stattdessen regten sich der Kampfgeist und der alte Trotz in ihm, beides Eigenschaften, die ihn dazu gebracht hatten in Paris zu überleben.
„Dann müsst Ihr mich erst fangen!“, rief er, drehte sich blitzschnell auf dem Absatz um und rannte in das Gasthaus, wobei er aus voller Kehle brüllte: „Mädchen, Jungs, alle auf Gefechtsstation, der Feind ist über uns gekommen!“ Das war die vereinbarte Parole. Wenn man ein so gefährlich anrüchiges Gasthaus führte, bestand immer die Gefahr, dass ihnen jemand Böses wollte.
Das Haus erwachte. Leise Trippelschritte verrieten ihm, dass die Mädchen aus ihren Zimmern kamen. Als die Gardisten sich wie rote Ameisen in sein Gasthaus – in sein Zuhause – ergossen, griff er nach einem der Kerzenleuchter, die auf den Tischen standen und schlug sie dem Hauptmann mit Wucht um den Kopf. Dieser ging mit einem leisen, überraschten Laut zu Boden.
Pierre holte aus, um auch den zweiten auf diese Weise niederzustrecken, doch diesmal war der Soldat gewarnt, fing seinen Arm ab und drehte ihn schmerzhaft auf Pierres Rücken. Doch lange musste er nicht in dieser unbequemen Pose verharren, denn mit einem Schrei liess der Mann ihn wieder los. Pierre stolperte aus seiner Reichweite und wirbelte herum. Der Anblick, der sich ihm bot, war wirklich köstlich. Auf dem Kopf des ungläubig dreinblickenden Gardisten war eine Melone gelandet und thronte nun wie eine merkwürdig geformte Krone auf seinen Kopf.
„Ich hab noch mehr davon!“, brüllte Albert, Pierres treuer und beherzter Koch. Und tatsächlich segelten schon die nächsten Melonen durch die Luft, eine davon traf Férardier, der sich wieder so halbwegs aufgerichtet hatte, allerdings gleich wieder zu Boden sank, nachdem die Frucht auf unschöne Weise mit seinem Gesicht kollidiert war.
Auch auf seine Mädchen war Verlass. Parfümflaschen flogen wie schwere Regentropfen herunter, verströmten ihr betäubend schweren Duft und nässten den Boden, der sich innerhalb von kurzer Zeit in eine spiegelglatte Oberfläche verwandelte. Die so ehrenvolle und stolze Garde des Kardinals rutschte bald wie eine Horde unbeholfener Kinder durch das Gasthaus, während sie verzweifelt versuchten, sich durch gebrüllte Befehle Respekt zu verschaffen.
Einer der Soldaten machte den Fehler, nach einem der Mädchen zu grabschen und zu versuchen sie festzuhalten. Doch Louise war schon immer ein wehrhaftes, kleines Ding gewesen. Sie biss ihm erst kräftig in die Hand, drehte sich dann blitzschnell um und hob dann in einer geschmeidigen Bewegung das Knie. Als ihr Angreifer zusammenklappte, hieb sie ihm zusätzlich noch einen ihrer hohen Schuhe über den Kopf.
Es war wunderbar zu sehen, wie sich jene, die er immer als Familie betrachtet hatte, denen er Heim und einen Broterwerb gegeben hatte, sich nun so vehement und rigoros für ich einsetzten. Es trieb ihm die Tränen in die Augen, wie diese sanften und im Grunde gutmütigen Menschen, sich für ihn so von der Gewalt mitreissen liessen.
„Pierre, lauf weg“, schrie Louise und Pierre erwachte aus seiner Erstarrung. Er wandte sich um und floh durch den Hintereingang, durch jenen Hintereingang, der in diesen verfluchten Hof führte, der Francis und Robert das Leben gekostet hatte. Wenn er es schaffte, über die Mauer zu kommen, dann…
Eine eiserne Hand am Arm hielt ihn zurück und ehe er noch wusste, wie ihm geschah, lag er mit dem Gesicht nach vorne auf der Erde. Er stöhnte und versuchte sich aus dem unnachgiebigen Griff zu winden, aber ein schweres Knie bohrte sich in seinen Rücken und verhinderte, dass er sich aufrichten konnte. „Monsieur Lefèvre, Ihr hättet Euch und uns dieses Schmierentheater ersparen können!“, zischte eine erboste Stimme, dann wurde er grob hochgezogen.
Der Mann, der ihn gepackt hatte, war kein eleganter Lebemann wie Férardier, sondern ein grobschlächtiger Kerl, der wohl schon viele Jahre in einem anderen Regiment gedient hatte, jedenfalls zeugten die zahlreichen Narben in seinem Gesicht davon. Als er Pierre ein dreckiges Grinsen schenkte, entblösste er mehrere Zahnlücken. „Sieht aus, als hätte unser hübscher Paradiesvogel ausgeflattert.“
Dieser Hohn würde ihn auch im Gefängnis erwarten, das war Pierre klar. Aber er wollte verdammt sein, wenn er sich davon seinen Stolz nehmen liesse. Er hob das Kinn. „Monsieur, Ihr habt Melonenstücke im Haar!“, erwiderte er nur und als er mit gebundenen Händen abgeführt wurde, jubelten ihm die Menschen auf den Strassen zu, als sei er ein Kriegsheld.
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Richelieu starrte Férardier ungläubig an. Zum einen stank sein Hauptmann ganz fürchterlich, ungefähr so wie ein in Rosenwasser gebadetes Stinktier. Zum anderen war er sich ziemlich sicher, dass auf der sonst so sorgfältig gepflegten Uniform des Soldaten Stücke von irgendeiner Frucht klebten. Und das was aus den langen Haaren tropfte, schien kein Wasser zu sein, sondern Saft. Die Verbeugung wirkte deshalb eher lächerlich. „Eure Eminenz, wir haben Euren Auftrag ausgeführt!“
„Aha. Und seid unterwegs in einen Markstand voller Früchte gefallen?“
„Nein, aber leider hat sich der Beschuldige seinen Gefangennahme heftig widersetzt.“
Das konnte Richelieu sich bei Pierre lebhaft vorstellen, aber so wie er den Wirt kannte, war der Widerstand eher lächerlich gewesen, als bedrohlich. „Nur damit wir uns richtig verstehen: Dieser parfümierte Kobold hat meiner bestens ausgebildeten Garde Widerstand geleistet?“
Férardiers Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an. „Er war nicht alleine…Das ganze verdammte Gasthaus war auf einmal auf den Beinen.“
Richelieu hob die Brauen. „Ja. Bitte vergebt mir, ich kann mir vorstellen, dass die zartgebauten Kurtisanen ein unüberwindbares Hindernis für einen tapferen Hauptmann darstellen.“
Einer von Férardiers wenigen Vorzügen war, dass er eine ernstgemeinte Aussage nicht von Spott unterscheiden konnte, weshalb man sich mühelos auf sarkastische Weis über ihn lustig machen konnte, ohne eine wütende Reaktion zu provozieren. So ging er über diese Spitze einfach mit einem dümmlichen Lächeln hinweg und meinte: „Ich habe den Gefangenen mitgebracht. Soll ich ihn reinbringen lassen?“
Nein, ich hab ihn hierherschleppen lassen, damit ich ihn als Statue vor meinem Arbeitszimmer aufstellen lassen kann, dachte Richelieu bissig. „Wenn ich bitten darf.“
Mit einem beflissenen Nicken trat Férardier aus dem Zimmer und kam kurze Zeit später zurück, mit dem derangiert wirkenden Pierre am Arm. Als sich ihre Blicke trafen, versteifte sich Lefèvre, während Richelieu nicht verhindern konnte, dass ein triumphierendes Lächeln sich über sein Gesicht zog. Es gab kaum etwas, das sein Herz so erwärmte wie eine schöne Rache.
„Lasst uns alleine. Und vergesst nicht, Eure Uniform zu putzen und das Haar zu waschen! Ich möchte nicht, dass mein Hauptmann aussieht, als sei er gerade aus einem Müllhaufen gekrochen!“
Als Férardier der Aufforderung Folge geleistet hatte, standen sich die beiden so ungleichen Männer gegenüber, Pierre Lefèvre ohne einen seiner auffälligen Hüte, dafür mit einem grell bestickten Hemd und farbigen Hose, Kardinal Richelieu in seiner beeindruckenden roten Robe. Sie waren schon immer unterschiedlich gewesen, selbst ihre Kleidung unterstrich das, ebenso wie die verschiedenen Lebenswege, die sie genommen hatten.
Schliesslich beschloss Richelieu das unheilschwangere Schweigen zu durchbrechen. „So sieht man sich also wieder.“
„Ich würde ja sagen, dass ich mich freue dich wiederzusehen, Armand. Aber das wäre glatt gelogen.“ Der vertraulich plumpe Ton den Pierre anschlug reizte ihn bis aufs Blut. Die gemeinsamen Jahren im Priesterseminar lagen lange zurück, Pierre war nur ein einfacher Gastwirt, er dagegen der mächtigste Mann in Frankreich.
„Deine Frechheit hat mir schon immer imponiert.“
Wenn Blicke hätten töten können, wären sie wohl jetzt beide tot umgefallen. Doch nach einer Weile wurde es Richelieu zu langweilig seinen Gegner anzustarren. Pierre hatte sich davon schon früher nicht einschüchtern lassen, er würde jetzt wohl kaum damit anfangen. Unerträglich stolz und hartnäckig, Eigenschaften, die er auch sich selbst zuschreiben könnte, die ihm aber an dem anderen ärgerte.
„Ich wusste ja schon früher, dass dein Weg dich früher oder später ins Gefängnis führen würde. Und wie so oft, habe ich mich nicht getäuscht“, sagte er. Er wählte bewusst einen süffisanten, herablassenden Ton, der dem erschöpft und ausgelaugt wirkenden Pierre zeigen sollte, wer hier in der stärkeren Position war.
Pierre verdrehte die Augen. „Armand, wir sind hier unter uns. Du kannst mir nicht weismachen, dass du ehrlich meinst, ich hätte etwas mit diesem Mord zu tun. Du willst mir einfach einen Strick drehen, weil du mir deine Schmach nie verziehen hast.“
„Du hast also nichts mit den Morden zu tun? Aber du hast beide Opfer gekannt, nicht wahr? Und beide waren regelmässig Gäste in deinem…Etablissement.“
Richelieu genoss es, zu sehen wie die Blässe in Pierres Gesicht zog und wie seine Hände anfingen zu zittern. Pierre mit seiner unbändigen Lebensfreude, seiner Schlagfertigkeit, seinen Extravaganzen war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen und nach jener Nacht, hatte er ihn richtiggehend gehasst. Vielleicht hasste er ihn auch, weil Pierre sich dieses freie selbstbestimmte Leben einfach genommen hatte. Er selbst hatte die Macht gewählt und die damit einhergehende Verpflichtungen.
„Sie waren meine Freunde. Ich hätte ihnen nie etwas angetan. Aber das ist ja etwas, was du nie verstehen wirst oder? Freundschaft. Liebe. Verbundenheit.“ Es sollte wohl scharf klingen, aber es erinnerte Richelieu eher an das Gekläffe eines Schosshundes. Und es war Musik in seinen Ohren.
„Trévilles Männer haben Interessantes herausgefunden. Robert Dupont war offenbar ein bisschen mehr als nur ein Freund.“
Inzwischen hatte Richelieus Bettlaken mehr Farbe als Pierre. Für einen Moment glaubte er, der Gastwirt würde zusammenbrechen. Aber er riss sich zusammen. „Es gibt Dinge, die gehen nur mich etwas an und sonst Niemanden!“
„Oh, wie niedlich! Du denkst, es gebe bei Mord so etwas wie eine Privatsphäre“, höhnte Richelieu.
„Ich habe nichts mit den Morden zu tun und das weisst du auch!“
„So, weiss ich das? Und mit Fleur Delacroix? Hast du mit ihr auch nichts mehr zu tun?“
Diese beiläufig, spielerisch gestellte Frage brachte Pierre aus dem Konzept. Richelieu sah an dem Flackern in seinen Augen, dass er auf der richtigen Spur war. „Fleur?“, stammelte er.
„Ja. Fleur. Eine Hofdame. Sie ist spurlos verschwunden. Und ich frage mich, ob du vielleicht weisst, wo sie ist.“
Pierre presste trotzig die Lippen aufeinander, bevor er durch die Zähne zischte: „Ich kenne keine Fleur. Ich meide den Hof, so gut es geht. Ich habe immer viel zu viel Angst, dir über den Weg zu laufen und glaube mir, allein die Erinnerung an dein verkniffenes Gesicht reicht um mir gründlich den Tag zu vermiesen!“
„Du kennst also Fleur nicht. Du hast auch nichts mit den Morden zu tun und überhaupt bist du so unschuldig wie ein neugeborenes Kind?“
„Verglichen mit dir bin ich wirklich ein Sangeswunder!“
Sie funkelten sich an. Pierres Widerspenstigkeit war ärgerlich, aber zu erwarten gewesen. Zeit die letzte und schärfste Waffe zu ziehen. Richelieu schnalzte bedauernd mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Pierre, Pierre, du solltest dir deine Strategie wirklich noch einmal überlegen. Weisst du, die Kirche – meine Kirche – hat nicht viel Verständnis für das, was du so grossspurig, Liebe nennst.“
Pierre liess einen gequälten Laut hören und senkte den Blick. Wahrscheinlich ahnte er schon, worauf Richelieu hinauswolle. Oder aber es war die Erinnerung an den toten Robert, die ihn schmerzte. So oder so, er war auf der richtigen Fährte und er würde das nutzen. Er umrundete seinen Tisch, trat näher an den Kontrahenten und hob dessen Kinn mit zwei Fingern. Die Wut in den blauen Augen war köstlich mitanzusehen. „Liebe zwischen Männern. Das ist nicht nur unnatürlich, das ist Sünde. Eine der schlimmsten Sünden, wohlgemerkt. Ich könnte mir vorstellen, dass man dabei zu einigen althergebrachten Methoden greifen könnte.“
Richelieu spürte das Zittern, das Pierres Körper durchlief. Furcht. Das war reine, pure Furcht. Wie süss war es doch, diesen Mann endgültig in seiner Hand zu haben. Er strich ihm beinahe zärtlich mit dem Finger über die Wange. „Es wird nicht sehr appetitlich sein. Ist Folter ja selten, aber ich habe gehört, dass dies äusserst wirksam ist, um Männern solche Neigungen abzugewöhnen…“
„Streichle mir weiterhin über die Wange und ich lege meine Neigungen auch so ab!“
Richelieu zog seine Hand weg. Unbelehrbar stur. Wenn er Pierre nicht so verabscheut hätte, hätte es ihm Achtung abgerungen. „Ich würde mir gut überlegen, ob du nicht einfach den Mord an Francis und Robert gestehen solltest. Dann vergesse ich auch dein schmutziges Geheimnis. Ansonsten könnte ich noch auf die Idee kommen, ein schönes Ketzerfeuer für dich anzuzünden.“
Für einen Moment glaubte Richelieu, Pierre würde wanken. Tod durch Verbrennen war eine grauenhafte Vorstellung, die damit verbundenen Schmerzen kaum zu ertragen. Und dann noch als Ketzer angeklagt zu werden, jeglichen Trostes von Gott beraubt, öffentlich entehrt…Schon mancher standhafter Mann war bei dieser Drohung eingeknickt.
Unglücklicherweise gehörte Pierre nicht dazu. Er straffte die Schultern. „Fahr zur Hölle!“, spie er Richelieu ins Gesicht.
„Wahrscheinlich bist du schneller dort als ich“, entgegnete Richelieu kühl, „aber du kannst in Ruhe über deine Aussagen denken. Die Bastille ist ein ausgezeichneter Ort dafür!“ Macht war wirklich ein äusserst nützliches Gut.
Als Férardier kam, um Pierre abzuführen, drehte sich dieser an der Tür noch einmal um. Das altbekannte spottlustige Funkeln in seinen Augen war zurückgekehrt. „Irgendwie stinkt es hier. Hat dein Kater in die Ecke geschissen oder ist das einfach deine verfluchte Seele, die anfängt zu faulen?“ Und er ging so stolz, als sei er ein König und die Fesseln sein Schmuck.