Wem die Stunde schlägt von LadyAramis

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Kapitel Pater Jacques

Kapitel 24

 

Pater Jacques

 

 

Während des ganzen Tages hatten sie geglaubt, es ginge Aramis besser. Er war nicht mehr im Delirium, sondern war bei klarem Verstand und sprach ganz vernünftig mit ihnen. Willig ass er, was Constance ihm vorsetzte und konnte es bei sich behalten. Sogar ihren Tee trank er, auch wenn er sich bitter über den sauren Geschmack beklagte. Aber selbst das war Constance willkommen. Wenn er schon wieder jammern konnte, ging es wohl aufwärts mit ihm, auch wenn ihm noch immer ein brennender Hustenreiz quälte.

Aber gegen Abend verschlechterte sich sein Zustand wieder. Der Husten hatte ihn sehr geschwächt, zu Tode erschöpft lag er im Bett und gab nur noch einsilbige Antworten. Als Constance die Hand auf seine Wange legte, zog er sie erschrocken wieder zurück. Aramis glühte wieder wie zuvor. Sie seufzte schwer. „Was machst du nur für Sachen?“

Aramis blinzelte schwach. Seine Augen glänzten so fiebrig, dass sie in dem blassen Gesicht förmlich zu leuchten schienen. „Mir ist so kalt“, murmelte er und tatsächlich zitterte er am ganzen Körper, obwohl sich seine Haut trocken und brennend heiss anfühlte.

Constance strich ihm behutsam über den bebenden Rücken. „Das scheint dir nur so. Du hast Fieber.“

 

Aramis verzog den Mund. Er sah aus wie ein schmollendes Kind und wenn ihr nicht so elend zumute gewesen wäre, hätte Constance über den Anblick gelacht. „Ich habe schon ziemlich lange Fieber oder?“

„Zu lange, mein Freund.“

Ein schwerer Seufzen kam über Aramis‘ Lippen. Er verwandelte sich in ein schmerzhaft klingendes Husten, das er im Kissen erstickte. Hastig griff Constance nach dem Becher, der auf dem Nachtisch stand. Behutsam schlang sie den Arm um seine Schultern, um ihn aufzurichten. „Komm. Trink noch etwas.“

Wie ein Kind liess er sich den Tee einflössen, dann fiel sein Kopf zurück aufs Kissen. „Ich bin nur immer so verflucht müde“, hauchte er.

„Dann solltest du mehr schlafen und weniger reden.“ Unbemerkt von den beiden war Porthos in das Zimmer getreten. Er hatte sich nur schwer überreden lassen, dass Krankenlager seines Freundes zu verlassen, aber der Hunger hatte schliesslich die Überhand gewonnen, auch wenn er sich bei weitem nicht so viel Zeit damit gelassen hatte wie sonst.

Es erstaunte Constance immer wieder aufs Neue welche Wirkung Porthos auf Aramis hatte. Dessen Lethargie schien auf einmal nachzulassen, er richtete sich sogar ein Stück auf. „Ich kann nicht schlafen, wenn du mich immer störst!“, murrte er, doch er griff voller Dankbarkeit nach Porthos‘ Hand als sich sein Freund auf den vertrauten Platz auf der Bettkante setzte.

„Ich weiss, dass Constances Gesellschaft dir lieber ist, du alter Schwerenöter“, frotzelte Porthos, „aber du wirst mit meiner vorlieb müssen. Sie muss nämlich noch mehr von diesem wunderbaren Tee brauen, den du so magst.“

Aramis stöhnte. „Und wenn ich diesen scheusslichen Tee nie mehr trinken müsste, wäre es immer noch zu früh!“

„Das war jetzt nicht sehr charmant der Dame des Hauses gegenüber“, tadelte Porthos sanft.

Charme schien Aramis jedoch gerade herzlich egal zu sein. Er grummelte noch etwas Unverständliches, rollte sich dann wie eine Katze zusammen und schlief ein, wobei seine Hand noch immer die von Porthos umklammerte, als sei sie sein Rettungsseil. Porthos sah mit so viel Liebe auf dieses schlafende Bündel Elend hinab, dass es Constance ganz warm ums Herz wurde. Wie gut, dass er bei ihnen geblieben war!

„Er kann von Glück sagen, dass er einen Freund wie dich hat, Porthos.“

Er hob resigniert die Schultern. „Ich kann nicht viel für ihn tun. Nur beten und hoffen und diesen schwierigen Weg mit ihm gehen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft er schon an meinem und an Athos‘ Bett gesessen hat.“

Aramis bewegte sich unruhig im Schlaf und versuchte die Decke von sich zu streifen. Obwohl er vorhin über Kälte geklagt hatte, schien er die brennende Hitze seines Körpers nun auf einmal zu empfinden, er wand sich in den Laken und zerrte ungeduldig an seinem Hemd. „Lass das!“, mahnte Porthos nachsichtig, während er die Decken zurückschlug und ein frisches Tuch auf Aramis‘ Stirn legte, um ihm zumindest ein wenig Linderung von der tobenden Hitze zu verschaffen.

„Er ist euer Feldmediziner, nicht wahr?“

„Er ist unser Herz, unser Heiler und unser Priester. Viele sehen in ihm nur den notorischen Schwerenöter, den leichtsinnigen Lebemann, den Herzensbrecher, der ohne Rücksicht auf die anderen ganz nach seinen Gefühlen lebt. Aber er ist mehr, Constance. Er ist grosszügig, gütig und freundlich. Manchmal muss man ihn selbst daran erinnern, dass er ein guter Mensch ist“, schloss Porthos mit einem zweideutigen Grinsen.

Seine Worte berührten Constance. Das Band, das diese vier Männer miteinander teilten hatte sie schon immer ins Staunen versetzt. Wie unerschütterlich diese Freundschaft war, obwohl sie alle so unterschiedlich und solche Sturköpfe waren. „Du liebst ihn sehr“, stellte sie mit warmer Stimme fest.

Porthos betrachtete versonnen seinen schlafenden Freund. „Ja“, gestand er leise, dann sah er Constance mit einem entwaffnenden Blick aus seinen dunklen Augen an, „in meinem Leben sind die Menschen immer gekommen und dann wieder gegangen. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, meine Mutter ist gestorben, meine Freunde habe ich zurückgelassen, um meinem König zu dienen. Als ich frisch zu den Musketieren kam, war ich sehr einsam. Ein dunkelhäutiger, ehemaliger Strassendieb. Das war für viele nicht leicht zu akzeptieren. Aber Aramis konnte es. Er setzte sich eines Tages einfach neben mich und begann mit mir zu reden. Als seien wir schon ewig Freunde. Und es hat sich auch so angefühlt, als würden uns schon seit unserer Geburt kennen.“

Nach dieser langen Rede kamen sie nicht mehr dazu viel zu reden. Es wurde eine weitere scheussliche Nacht. Aramis war unruhig, hustete sich die Seele aus dem Leib und litt unter einem weiteren heftigen Fieberschub, der ihm düstere Träume bescherte. Ihm fehlte die Kraft zu schreien, sein trockener Mund formte lautlos Worte, die sie nicht mehr verstehen konnten. Constance wechselte sich mit Bruder Mathias ab, doch Porthos blieb unerschütterlich an Aramis‘ Seite, hielt ihn während der quälenden Hustenkrämpfe, kühlte ihm die Stirn und sprach voller Liebe auf ihn ein, während sein Geist sich in Fieberträume verabschiedete.

Porthos kämpfte wie ein Löwe, doch Constance konnte sich des beklemmenden Gefühls nicht erwehren, dass der Kampf bereits verloren war.

Als die ersten zögerlichen Strahlen der Morgensonne sich in das Zimmer stahlen, war Porthos eingeschlafen, den Kopf neben Aramis‘ Arm gebettet. Constance blinzelte müde. Sie musste selbst kurz eingeschlafen sein, sie sass zusammengesunken auf ihren Stuhl, den Lappen für Aramis‘ Stirn noch in der Hand. Kopfschüttelnd erhob sie sich. Sie war ja eine schöne Krankenpflegerin!

Wenigstens auf Bruder Mathias war Verlass. Er stand neben dem Krankenlager und sah mit ernstem Gesicht auf den Schlafenden hinunter, den Finger am abgemagerten Handgelenk. Constance blieb beinahe das Herz stehen. War es tatsächlich geschehen? War Aramis wirklich gestorben, hatte sich einfach still und leise davongemacht? Sie alle zurückgelassen? Hatte nicht einmal Porthos‘ Freundschaft ihn zurückhalten können?

Tränen stiegen in ihre Augen. All die durchwachten Stunden, all ihr Bemühen um Aramis, all ihre Pflege, ihre Hingabe und ihre Liebe…umsonst, ein Tropfen auf heissem Stein, verlorene Zeit. Wie sollte sie Athos sagen? Wie sollte sie es d’Artagnan sagen? Er hatte ihr vertraut, hatte ihr das Wertvollste anvertraut, das Leben seines Bruders, und sie hatte es nicht bewahren können.

Zu ihrem Entsetzen sah sie in Mathias‘ Augen ebenfalls das verräterische Schimmern von Tränen. Es war also wahr, unausweichlich wahr, schmerzhaft wahr…Aramis war tot. Doch während noch ein heiseres, verzweifeltes Schluchzen in ihrer Kehle aufstieg, sah sie, dass die Augen des Mönchs zwar glitzerten, sein Mund aber lächelte.

„Madame Bonacieux, Monsieur Porthos…ein Wunder!“

Bruder Mathias‘ Ausruf weckte auch Porthos, der mit noch schlafverhangenen Augen auf Aramis hinabsah, dann jedoch schlagartig erbleichte. „Er ist ja schweissnass!“, bekundete er entsetzt und als Constance näher herantrat, sah sie, was er meinte. Die Laken dampften förmlich vor Schweiss.

Mathias nickte und das erleichterte Lächeln, das seine Züge erhellte, war wie der erste Sonnenstrahl nach einem langen Winter. „Und das ist gut, Monsieur Porthos! Das ist sogar sehr gut! Das Fieber ist endlich gesunken.“

Als Constance die bebende Hand auf Aramis‘ Wange legte, spürte sie, was Mathias meinte. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich die Haut unter ihren Fingern beinahe kühl an. Der Atem des Kranken kam noch immer in viel zu hektischen Stössen, durchbrochen von rasselnden Hustengeräuschen, aber es war ein Schritt. Endlich ein Schritt in die richtige Richtung.

„Er wird wieder gesund, Porthos.“

Doch Porthos hatte keinen Blick für sie. Er starrte sprachlos auf seinen Freund hinab. Dann nahm er dessen schmale Hand in die seine, presste sie gegen seine Stirn und begann hemmungslos zu weinen.

 

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„Ein wunderbarer Morgen!“

„Hm…“

„War wirklich eine gute Idee von Tréville uns ins Bett zu schicken. Ist es zu fassen, dass wir einen ganzen Tag verschlafen haben? Ich fühle mich richtig erholt und erfrischt, genau richtig, um unserem seltsamen Priester mal ein wenig auf den Zahn zu fühlen!“

„Hm.“

„Ich hoffe nur, Aramis geht es wieder besser. Aber es gab ja Hoffnung, als wir aufgebrochen sind.“

„Hm.“

„Bruder Mathias ist ein seltsamer Kauz. Scheint aber etwas Heilkunst zu verstehen.“

„Hm.“

D’Artagnan beschlich langsam das Gefühl, dass Athos ihm gar nicht zuhörte. „Ich bin übrigens schwanger. Von Tréville. Ich kann das Geheimnis einfach nicht länger für mich behalten. In ein paar Wochen wird mein Zustand ohnehin unübersehbar sein.“

„Hm.“

D’Artagnan beschloss zu rigoroseren Mitteln zu greifen und kniff Athos fest in den Arm. Dieser zuckte erschrocken zusammen und zischte ärgerlich: „Was sollte das?“

„Och, ich wolle nur kurz überprüfen, ob wirklich Athos an meiner Seite ist oder ein Götzenbild“, entgegnete d’Artagnan bissig.

Athos hob in einer entschuldigenden Geste die Schultern. „Entschuldige. Ich habe nur nachgedacht.“

„Es gibt Leute, die können nachdenken und schwatzen. Ich zum Beispiel.“

„Das eine oder das andere leidet bei dir allerdings immer. Meistens das Denken.“

Athos wich gewandt d’Artagnans halbherzigen Faustschlag aus, prallte bei dem Manöver jedoch mit einer rundlichen Marktfrau zusammen, die gerade mit ihrem Korb am Arm an ihnen vorbeieilte. Sie hatte schon den Mund geöffnet um Athos anzukeifen, dieser hob jedoch mit so vollendeter höfischer Manier den Hut und lächelte sie so strahlend an, dass ihr die bösen Worte im Hals stecken blieben und sie stattdessen spontan zurücklächelte. Das war einer dieser Momente, wo Athos‘ adeliger Charakter aufblitzte. Athos war nicht nur wegen seinem Geburtsrecht ein Graf, er vereinigte auch in seinem Wesen alle richterlichen Tugenden, die man von einem Edelmann erwartete. Es lag in seinem Blut. Und es stimmte d’Artagnan immer traurig, wenn er daran dachte, was für ein grosser Mann Athos hätte werden können, wenn das Leben nicht so grausame Scherze mit ihm gespielt hätte.

Er schüttelte diese düsteren Gedanken ab. „Darf ich fragen, worüber du so angestrengt sinnierst hast oder ist das nichts für Kleingeister wie mich?“

„Ich überlege mir gerade, wie wir diesem windigen Priester am besten auf dem Zahn fühlen sollen.“

D’Artagnan stöhnte theatralisch. „Dein letzter Plan endete damit, dass wir angebrüllt und rausgeworfen wurden."

„Und wir haben dank dieser Strategie ein paar interessante Erkenntnisse gewonnen. Also, sieh zu und lerne!“

Inzwischen waren sie bei der Kirche angekommen, die trotz der grausigen Geschehnisse noch immer friedlich und unbefleckt wirkte. Dennoch lief d’Artagnan ein Schauer über den Rücken als Athos das schwere Kirchentor aufstiess. Natürlich glaubte er nicht mehr an Gespenster, dennoch gruselte es ihn, wenn er daran dachte, dass er jetzt den Ort betrat, wo Robert Dupont auf so tragische Weise das Zeitliche gesegnet hatte. 

„Irgendwie unheimlich oder?“, flüsterte er Athos zu, der mit seinem üblichen forschen Schritt in die Kirche marschierte, als sei e auf dem Weg in die nächste Schlacht.

„Was ist unheimlich?“, fragte Athos und seine Stimme klang wie ein Peitschenknall in der stillen Kirche.

„Naja, immerhin ist hier ein Mord passiert!“

Athos warf ihm einen höchst befremdeten Blick zu. „Ich bitte dich. Dupont ist ja nun wirklich nicht die erste Leiche, die dir über den Weg läuft.“

„Ja, aber der Mord ist immerhin in einer Kirche geschehen!“

Athos schien die Problematik noch immer nicht nachvollziehen zu können. „Und warum genau ist das jetzt schlimmer, als wenn er in einer schmutzigen Gasse passiert wäre?“

„Athos! Die Kirche ist immerhin Gottes Haus. Ein Hort des Friedens.“

„Du hast aber die Bibel schon begriffen oder? Mord und Totschlag auf fast jeder Seite!“

Manchmal war Athos‘ ewiger Zynismus ganz schön ärgerlich. „Du bist und bleibst  ein elender Ketzer!“

„Aber, aber, so böse Worte hören wir in der Kirche aber gar nicht gerne.“

D’Artagnan fuhr erschrocken zusammen. Aus den düsteren Schatten der Kirche war auf leisen Sohlen ein schlanker, hochgewachsener Mann getreten, ganz in das Schwarz eines Priesters gekleidet. Porthos hatte ihn gut beschrieben, Pater Jacques hatte wirklich etwas von einem Fuchs. Und irgendwie hatte d’Artagnan das Gefühl, ihn zu kennen, auch wenn ihm partout nicht einfallen wollte woher.

Auch Athos zog gleich die richtigen Schlüsse. „Ihr müsst Pater Jacques sein.“

Pater Jacques hatte jenes milde Lächeln auf dem Gesicht, das auch Aramis gerne hervorkramte, wenn er sich mal wieder mit dem Gedanken trug, nicht mehr dem König sondern nur noch Gott zu dienen. Und wie bei Aramis, fand d’Artagnan es eigenartig unpassend in diesem Gesicht mit den wilden Zügen. „Muss ich mir Sorgen machen, wenn Musketiere bei mir auftauchen und meinen Namen kennen?“

„Wir sind Athos und d’Artagnan von den Königlichen Musketieren. Unser Freund Porthos hat uns Euren Namen genannt“, erklärte Athos. D’Artagnan entging nicht, dass der Musketier die Hand auf seinen Degen gelegt hatte. Eine oft unbewusste Geste von Athos, wenn er jemanden instinktiv misstraute.

Sofort glitt ein bedauernder Ausdruck über Jaques‘ Gesicht. „Ah ja Monsieur Porthos. Ein beeindruckender Mann. Schade, haben wir uns unter so bedauernswerten Umständen kennengelernt.“

„Bedauernswert ist ein seltsames Wort für einen Mord“, bemerkte d’Artagnan süffisant.

Jaques hob die Augenbrauen. „Mord? Da muss ein Irrtum vorliegen, Monsieur! Es war Selbstmord. Eine furchtbare Sünde und das unter Gottes Dach.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf.

„Wir vermuten, dass es kein Selbstmord war.“ D’Artagnan schloss ergeben die Augen. Athos schien keinerlei Lust auf Spielchen zu haben und schnitt das heikle Thema auf seine üblich sensible, zurückhaltende Weise an. Vielleicht machte er Leute einfach absichtlich wütend. War vielleicht die unterdrückte Todessehnsucht in seiner Seele.

Im Gegensatz zu Monsieur Lefèvre blieb Jacques allerdings ruhig und gelassen. Vielleicht die so viel beschworene Demut eines Priesters. „Kein Selbstmord? Ich versteh nicht ganz.“ Sein Blick glitt unsicher von Athos zu d’Artagnan.

„Wir sind da auf gewisse Unstimmigkeiten gestossen“, erklärte Athos brüsk.

„Die da wären?“

Athos ignorierte den Einwand und deutete stattdessen auf die Empore. „Von dort oben hat er sich runtergestürzt? Können wir da mal raufgehen?“ Obwohl er es als Frage formulierte, klang es aus Athos‘ Mund eher wie ein Befehl und so kam es an. D’Artagnan glaubte zu sehen, wie zum ersten Mal so etwas wie Ärger in der sonst so unbewegten Miene des Paters aufblitzen, doch sogleich versteckte er den verdächtig zornigen Blick unter den sittsam gesenkten Lidern.

„Natürlich. Bitte folgt mir, meine Herren.“

Die Treppe, welche auf die Empore führte, war schmal und eng. Die drei Männer waren trotz ihrer schlanken Staturen gezwungen, hintereinander zu gehen. D’Artagnan ging hinter Pater Jacques, der trotz seiner Soutane geradezu leichtfüssig hinaufeilte. Mit ihren schweren Stiefeln und ihren klirrenden Waffen vollführten die beiden Musketiere in der stillen Kirche einen geradezu höllischen Lärm. Wäre Aramis bei ihnen gewesen, hätte er wohl tadelnd mit der Zunge geschnalzt.

Oben angekommen schwindelte es d’Artagnan kurz. Irgendwie hatte die Empore von unten weniger hoch gewirkt. Die Empore war für die eher kleine Kirche gross bemessen, ein Trupp Musketiere hätte wohl bequem hier hinaufgepasst. Nachdem er sich an die Höhe gewöhnt hatte, schlenderte d’Artagnan zum Geländer und linste vorsichtig über den Rand. Für einen Moment bildete er sich ein, in einen gähnenden Abgrund zu blicken, der nur darauf wartete, das nächste Opfer zu verschlingen. Wie würde es wohl sein zu fallen, immer tiefer, bis die menschliche Hülle schliesslich auf den Boden zersplitterte wie Glas? Ihm schauerte bei der Vorstellung und zugleich hatte sie etwas eigentümlich Faszinierendes, als berühre sie einen dunklen verborgenen Teil seiner Seele.

Auch Athos schien in Gedanken versunken zu sein. Er sah sich aufmerksam um und warf ebenfalls einen Blick nach unten, allerdings nicht um solche schwarzromantischen Überlegungen anzustellen. „Wieso?“, fragte er unvermittelt, die blauen Augen dabei fest auf Jacques gerichtet.

Dieser schien, wie d’Artagnan selbst, nicht zu wissen, wovon der Musketier sprach. „Wieso was?“

„Wieso hat Robert Dupont sich erhängt?“

„Wie ich bereits Monsieur Porthos erklärt habe, war Robert ein zutiefst zerrissener Mensch. Fromm und gut auf der einen Seite, voll lüsterner Sünde auf der anderen Seite. Es hat ihn innerlich aufgefressen. Bis er nicht mehr konnte.“ Jaques wirkte auf einmal sehr bewegt. In den dunklen Augen schimmerte es verdächtig und er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Verzeiht, es steht einem Priester wohl kaum zu, um einen Selbstmörder zu trauern. Doch Robert hat jahrelang bei mir gebeichtet und es schmerzt mich, dass ich ihn nicht auf den rechten Pfad zurückführen konnte. Ich habe versagt.“

 

Jähes Mitleid wallte in d’Artagnan auf. „Ihr dürft Euch nicht die Schuld geben. Manchmal kann man den Menschen nicht helfen, egal wie sehr man es sich wünscht.“

 

Jacques schenkte d’Artagnan ein dankbares Lächeln. „Es tut gut das zu hören. Aber Frieden werde ich erst finden, wenn mir Gott die Absolution erteilt. Und so lange werde ich die Bürde der Schuld tragen müssen.“

 

Der Mann schien ja zum Priester geboren zu sein, so sehr hatte er sich das Wort Gottes und seine Gesetze verinnerlicht. Wie salbungsvoll und leicht kamen diese gestelzten Worte über Jacques‘ Lippen. Er war eigentlich nicht unsympathisch, hatte sogar einen eigenwilligen Charme und setzte ihn gekonnt ein. Wenn ihm nur einfallen würde, wo er ihn schon einmal gesehen hatte! Und diese Stimme…sie kam ihm so bekannt vor…

„Duponts mögliche Gründe für einen Selbstmord sind mir bekannt. Aber wieso hat er sich ausgerechnet erhängt?“

War Jacques ärgerlich, dass Athos so wenig auf seine Trauer einging? Auf jeden Fall hatte die samtweiche Stimme einen deutlich härteren Klang, als er sagte: „Ich verstehe die Frage nicht, Monsieur Athos.“

Athos verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann werde ich es deutlicher formulieren: Ich frage mich, wieso Dupont beschlossen hatte, sich ausgerechnet hier zu erhängen.“

„Er war oft hier. Die Kirche war wie sein zweites Zuhause.“

Neben dem verrufenen Gasthaus der „Fröhlichen Gans“, dachte d’Artagnan, behielt aber einen bissigen Kommentar für sich. Athos schien auf etwas Bestimmtes hinauszuwollen und er wollte ihn nicht unterbrechen.

Athos strich nachdenklich über die Brüstung der Empore. „Aber wieso macht er sich die Mühe und erhängt sich? Wieso springt er nicht einfach von hier runter? Glaubt Ihr, ein Mensch würde es überleben, wenn er aus dieser Höhe auf den Boden stürzt? Ich glaube das nicht! Er würde sich sämtliche Knochen brechen. Ein weitaus rascherer und weniger schmerzhafter Tod als Erhängen, würde ich meinen.“

Er hatte Recht, erkannte d’Artagnan. Noch einmal sah er hinunter. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass Dupont den Sturz überlebt hätte, hätte er mit Sicherheit schwere Verletzungen davongetragen, die früher oder später zu seinem Tod geführt hätten.

„Vielleicht wollte er nicht, dass es schnell geht. Vielleicht war sein Schuldbewusstsein so gross, dass er glaubte, keinen schnellen Tod verdient zu haben“, argumentierte Jacques.

„Eine interessante Theorie. Nur gibt es einen Haken: Es muss nicht sein, dass man beim Erhängen langsam erstickt. Es kann auch vorkommen, dass man sich das Genick bricht. Ein schneller Tod also, was Duponts Wünschen nicht entsprochen haben dürfte.“

D’Artagnans Bewunderung für Athos wuchs wieder einmal ins Grenzenlose. Wie hatte er sich das alles zusammengereimt? Ihm selbst gelang es ja nicht einmal, sich daran zu erinnern, wo er diesem Priester schon einmal über den Weg gelaufen war!

Athos war jedoch noch nicht fertig mit seiner Glanzvorstellung. „Und selbst wenn ihm dieser Aspekt nicht klar war: Wieso riskierte er es, hierherzukommen um seinem Leben ein Ende zu setzen? Sicher, es gab emotionale Gründe. Doch er wusste, dass Ihr nebenan wohnt. Er wusste, dass Ihr regelmässig die Kirche aufsucht, bestimmt auch mal in der Nacht. Er musste damit rechnen, dass Ihr ihn entdecken und von seinem Selbstmord abhalten würdet. Trotzdem wählte er von allen Methoden ausgerechnet die des Erhängens, die eine gewisse Vorbereitungszeit benötigt. Und selbst wenn er davon ausgehen konnte, dass Ihr nicht zuhause seid, hätte  immer noch die Möglichkeit bestanden, dass eines Eurer Schäfchen die Kirche aufsucht und ihn stört.“

„Und nur weil sich der arme Dupont erhängt und nicht von der Empore gestürzt hat, sprecht Ihr in meiner Kirche von Mord?“

„Nein, das würde ich nicht wagen. Aber wir waren bei Duval, dem Leichenfledderer. Er hat Duponts toten Körper untersucht. Und er hat eine interessante Entdeckung gemacht. Der Strick, mit dem sich Robert angeblich erhängt hat, passt leider gar nicht zu den Würgemalen an seinem Hals.“

Alle Farbe wich aus Jacques‘ Gesicht. Der Arme wirkte bis auf die Knochen erschüttert. „Und das heisst?“, hauche er, als habe ihm das Entsetzen auch gleich die Stimme geraubt.

„Nun, ich erzähle Euch jetzt einfach mal, was ich vermute. Denn wissen kann ich es nicht. Ich vermute, dass Robert Dupont ermordet wurde. Er wurde hier in der Kirche erdrosselt, vermutlich von hinten, mit einem dünnen Strick. Daher die Würgemale. Der Täter wollte es wie Selbstmord aussehen lassen, deshalb schleppte er den Toten hier auf die Empore. Davon zeugen die zahlreichen blauen Flecken, die Duval auf dem Körper entdeckt hat. Er band der Leiche einen Strick um den Hals und hängte sie hier, so äusserst dekorativ hin, wo sie später von Monsieur Porthos entdeckt wurde. Ende der Geschichte.“

D’Artagnan und Pater Jacques starrten Athos mit offenen Mündern an, der eine mit glühender Hingabe, der andere mit sichtlichem Unwillen. „Ein Mord in meiner Kirche“, murmelte der Priester fassungslos, „das kann ich nicht glauben. Das will ich nicht glauben!

„Glaubt es lieber“, riet Athos kühl.

„Warum sollte jemand Robert Dupont umbringen?“

„Robert Dupont war ein wichtiger Zeuge in einem weiteren Mord. Er wusste zu viel. Ich hätte allerdings noch eine ganz andere Frage.“

„Um ehrlich zu sein habe ich für heute eigentlich genug Mordgeschichten gehört“, bemerkte Jacques matt und tatsächlich wankte der Priester unter diesen schauerlichen Enthüllungen so sehr, dass d’Artagnan ihm seinen Arm bot, auf den sich Jacques schwer abstützte.

Athos jedoch sah über das empfindsame Gemüt des Paters grosszügig hinweg. „Wie konnte ein Mord hier in dieser Kirche geschehen, ohne dass Ihr irgendetwas davon mitbekommt?“

Es wäre auch merkwürdig gewesen, wenn Athos zur Abwechslung mal jemanden nicht auf die Palme gebracht hätte. Die Empörung liess Jacques jedoch gleich seine Schwäche vergessen. Er liess d’Artagnan los und richtete sich zu seiner doch recht beachtlichen Grösse auf. „Was wollt Ihr damit andeuten?“

Athos riss die Augen auf, die auf einmal sehr gross und unschuldig wirkten. „Ich? Ich will Euch gar nichts unterstellen! Allerdings steht natürlich die Tatsache im Raum, dass Ihr sehr schnell bereit wart, an einen Selbstmord zu glauben, ja, dass Ihr uns den Gedanken förmlich aufgedrängt habt. Daraus ziehen wir natürlich schon unsere Schlüsse.“

Jetzt war Jacques Gesicht so krebsrot, dass es in der Halbdämmerung fast schon leuchtete. „Ihr unterstellt mir hier Ungeheuerliches!“

Athos‘ ruhiger Gesichtsausdruck war ein starker Kontrast zu Jacques wütender Miene. „Monsieur, mit keinem Wort habe ich eine Anschuldigung hervorgebracht. Es ist mir allerdings bewusst, dass Hunde, die getroffen werden, anfangen zu bellen.“

Jeder Trottel wäre imstande gewesen, diese versteckte Botschaft zu entschlüsseln und zu verstehen. Und Jacques war kein Trottel. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Ich glaube, es ist besser, wenn Ihr jetzt geht“, sagte er leise, aber mit einem drohenden Unterton in der Stimme.

Athos neigte mit seinem üblichen spöttischen Lächeln das Haupt. „Hat mich gefreut, ein wenig mit Euch zu plaudern, Pater Jacques!“

Nun ja, immerhin hat er nicht rumgebrüllt, dachte d’Artagnan, als er hinter Athos die gewundene Treppe hinunterstieg, und eigentlich hat er uns nicht einmal rausgeschmissen. Nur sehr eindringlich gebeten, doch bitte die Kirche zu verlassen. Bevor Athos und d’Artagnan jedoch das Flügeltor aufstossen konnte, hörten sie noch einmal die weiche Stimme von Paters Jacques: „Vielleicht solltet Ihr Gott noch um Schutz beten, meine Herren. Wer sich mit den falschen Mächten anlegt, kann diesen gut gebrauchen.“

 

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