Wem die Stunde schlägt von LadyAramis

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Kapitel Eine Sünde kommt selten allein

Kapitel 25

 

Eine Sünde kommt selten allein

 

 

„Entweder ist das einfach von Natur aus ein seltsamer Kerl oder er hat etwas zu verbergen.“

„Ich bewunderte deine Auffassungsgabe, d‘Artagnan“, bemerkte Athos spöttisch, aber er meinte es durchaus gutmütig. D’Artagnans Naivität war es immer wieder wert, ihn damit aufzuziehen, auch wenn der Junge mit jeden Tag mehr den Kinderschuhen entwuchs und seine rosarote Sicht auf die Dinge Stück für Stück ablegte. Manchmal bedauerte Athos das. D’Artagnan verkörperte für ihn die Frische der Jugend, die ihm aufgrund seiner hohen Geburt nie vergönnt gewesen war.

Er und d’Artagnan standen noch immer vor der Kirche, nachdem Pater Jacques sie so rabiat hinausbefördert hatte. Jetzt legte der Gascogner mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck die Hand auf die kalten Steine des Gemäuers, als könne er damit die Geheimnisse entlocken, die sich hinter diesen Mauern verbargen. „Wann hast du dir das eigentlich alles zusammengereimt? Du hast den armen Priester mit deiner Argumentation ja ganz schön in die Enge getrieben!“

Die Bewunderung, die d’Artagnans Stimme stets einen leicht höheren Klang verlieh, machte Athos immer ein wenig verlegen. d’Artagnan himmelte ihn manchmal an, als sei er die Verheissung Gottes und obwohl das seinem Selbstbewusstsein ungeheuer schmeichelte, ja es gar Balsam für seine Seele war, von jemanden so hoch geschätzt zu werden, lag ihm das treuherzige Vertrauen d’Artagnans manchmal schwer im Magen. Er hatte Angst, ihn zu enttäuschen.

Doch heute hatte er seinem jungen Freund glanzvoll bewiesen, dass ein wahrer Musketier auch mal Köpfchen beweisen musste. Manchmal war es gar nicht nötig, gleich mit den Degen rumzufuchteln. Und darauf war Athos ganz schön stolz. Er hatte für einen kurzen Moment die geheimnisvolle Aura die den Priester umgab durchbrochen und das wahre Gesicht freigelegt. Der Moment war kurz aber aufschlussreich gewesen. „Ich habe einfach meinen gesunden Menschenverstand gebraucht, d’Artagnan.“

„Solltest du öfters tun“, stichelte d’Artagnan.

„Ich hoffe immer, dass du irgendeinmal lernst mitzudenken, deshalb halte ich mich vornehm zurück.“

„Wie ungeheuer edel von dir.“

Athos liess den Blick über die Kirche schweifen. Eigentlich war es eine hübsche Kirche, frei von bedrückenden Prunk. „Jacques ist auf keinen Fall der harmlose Priester, den er allen vorspielt. Seine Frömmigkeit, seine salbungsvollen Reden. Auf mich wirkt das alles ein wenig gar einstudiert. So als glaube er, dass ein Priester sich so zu benehmen habe.“

D’Artagnan nickte selbstvergessen. „Kommt er dir eigentlich auch so bekannt vor?“, fragte er unvermittelt.

„Meine Güte, d’Artagnan, für mich sieht jeder Pfaffe gleich aus!“

D’Artagnan runzelte die Stirn. „Athos, du solltet nicht immer so respektlos von Gott sprechen.“

Es amüsierte Athos, dass seine saloppe Haltung zur Religion, d’Artagnan stets in tiefes Unbehagen stürzte. Im Gegensatz zu Porthos, der solche Äusserungen stets schulterzuckend überging und Aramis, der es längst aufgegeben hatte, Athos bekehren zu wollen, konnte er d’Artagnan mit solchen Aussagen stets reizen. „Du sorgst dich noch immer um mein Seelenheil, nicht wahr, d’Artagnan?“

„Irgendeiner von uns muss es ja tun“, grummelte der junge Musketier und seine offenkundige Besorgnis rührte Athos im gleichen Masse, wie sie ihn belustigte.

„Bete bei meiner Beerdigung für mich. Das sollte reichen für ein friedliches Jenseits.“

D’Artagnan öffnete den Mund für eine zweifellos gepfefferte Antwort, schloss ihn dann aber wieder, was ihm das nicht sehr intelligente Aussehen einer Forelle verlieh. Seine Zähne nagten heftig an seiner Unterlippe, eine Geste, die bei ihm immer scharfes Nachdenken bedeutete. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge und ihm entfuhr ein leises: „Oh.“

Athos konnte die lebhafte Mimik von d’Artagnan mühelos lesen und er erriet sofort, dass ihm gerade etwas äusserst Wichtiges eingefallen war. Er griff in einer fahrigen Geste nach Athos‘ Arm. „Athos…ich weiss jetzt, woher ich ihn kenne!“

„Und, verrätst du’s mir, bevor du mir den Arm rausreisst?“

Doch statt seinen Klammergriff zu lockern, griff d’Artagnan noch stärker zu. „Du kennst ihn auch!“

„Ich habe keine Priester in meiner näheren Umgebung, ausser Aramis und das ist nur ein halber Priester und deshalb auch halbwegs erträglich.“

„Nicht in deiner näheren Umgebung, Athos. Du bist ihn vor heute erst einmal begegnet, an einem ziemlich trübsinnig Ort, an einem ziemlich sonnigen Tag.“ D’Artagnan sah sich ja wirklich viel von ihm ab, sogar das Sprechen in Rätseln hatte er übernommen. Nur machte es Athos deutlich weniger Spass auf der anderen Seite zu stehen.

„Spuck‘ s schon aus, d’Artagnan, oder hast du dich auf einmal in eine Sphinx verwandelt?“

D’Artagnan legte eine weitere Kunstpause ein, bevor er mit tragischer Stimme verkündete: „Jacques, war der Priester, der Francis beerdigt hat!“

Athos starrte ihn an. Erst dachte er, d’Artagnan müsse sich irren, doch dann erinnerte er sich daran, dass auch Porthos erwähnt hatte, der Priester käme ihm seltsam bekannt vor. An Francis‘ Beerdigung waren sie in Trauer um ihren Kameraden gewesen, zudem hatte Aramis‘ drohendes Todesurteil schwer auf ihnen gelastet. Er konnte sich kaum noch an die Worte des Priesters besinnen, geschweige denn an sein Gesicht. Aber jetzt, wo d’Artagnan es sagte… „Du hast Recht. Doch nur weil er Francis‘ beerdigt hat, muss er nicht auch der Mörder sein.“

„Nein, natürlich nicht. Interessant ist auch was ganz anders: Damals, auf dem Friedhof, habe ich doch Fleur und Marie belauscht. Ich war nicht der Einzige, Jacques trieb sich ganz in der Nähe herum. Vielleicht hat er nicht nur die Hälfte des Gesprächs gehört wie meine Wenigkeit, sondern die ganze Unterhaltung! So könnte er von Francis‘ Brief an Marie erfahren haben!“

Langsam fügten sich die Teile zu einem Bild zusammen. „Wenn er mit Fleur unter einer Decke steckt, wäre es allerdings nicht nötig gewesen, sie zu belauschen“, gab er zu Bedenken.

D’Artagnan zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wollte er seiner Komplizin auch einfach nur beistehen. Wer weiss, wenn sie an einem weniger öffentlichen Ort gewesen wären, hätten sie vielleicht mehr getan, als nur auf Marie einzureden. Vielleicht hätten sie zu schlagkräftigeren Argumenten gegriffen!“

Athos nickte versonnen. Es gab noch immer viel zu viele Fragen, die eine Antwort verlangten. Und wenn sie ihnen niemand geben wollte, dann mussten sie sich eben holen. Es war an der Zeit, zu anderen Methoden zu greifen. Vertrauensvoll legte er den Arm um d’Artagnans Schulter: „Ich glaube, wir sollten einmal unsere liebe Freundin Madame Lilith besuchen.“

 

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Als Aramis aufwachte, war das für ihn, wie das Auftauchen aus einem tiefen dunklen Teich. Er schlug die Augen auf und machte die berauschende Entdeckung, dass seine Gedanken so klar und geordnet waren, wie schon lange nicht mehr. Sein Kopf war kein wirres Geflecht mehr aus Gefühlen, Erinnerungen und Träumen mehr. Seine Glieder dagegen fühlten sich entsetzlich schwer an, selbst die Arme zu heben erschien ihm wie eine unüberwindbare Hürde. Sich aufzusetzen, daran mochte er nicht einmal denken. Und er war immer noch müde.

Seine Lider senkten sich schon wieder, als ihn jemand unvermittelt den Arm drückte. „Aramis?“

Porthos‘ tiefe, warme Stimme klang schrecklich flehend und brachte Aramis dazu, die Augen ein weiteres Mal aufzureissen. Er blickte direkt in das so vertraute Gesicht seines Freundes, doch es erschien ihm ganz verändert. Die Lachfältchen hatten sich auf einmal in tiefe Sorgenfalten verwandelt, unter den Augen lagen tiefe Schatten und das Gesicht wirkte eingefallen, als hätte er schon länger nichts mehr gegessen.

„Du siehst furchtbar aus“, bemerkte Aramis, wobei die Worte leise und rau über seine Lippen kamen, die sich spröde und trocken anfühlten.

Porthos brach in schallendes Gelächter aus. Das verwirrte ihn etwas, weil seine Feststellung eigentlich ernstgemeint gewesen war. Porthos sah wirklich nicht gerade gesund aus. „Aus deinem Mund ist das wirklich eine sehr amüsante Feststellung! Du siehst aus, als hätte eine Kuh dich aufgegessen und wieder ausgespuckt.“

Es tat so gut, Porthos sprechen zu hören, die Lebhaftigkeit zu spüren, die von diesem Mann   ebenso ausging wie der ungebrochene Enthusiasmus und die unbezwingbare Fröhlichkeit. Er hätte gerne etwas erwidert, doch der unbarmherzige Husten packte ihn wieder. Keuchend rang er nach Luft, kämpfte um den kostbaren Atem, den sein Körper ihm zu verwehren schien. Die Angst vor dem Ersticken bäumte sich in ihm auf, verzweifelt krallte er die Finger in die Bettlaken.

Porthos‘ Arm um seine Schultern war wie ein Rettungsseil. Er richtete ihn so mühelos auf, als sei er eine Puppe. „Ganz ruhig Aramis. Atme mit mir. Langsam ein und aus. So ist es gut. Du machst das hervorragend.“

Als der Anfall vorüber war, liess Aramis den Kopf schwer auf Porthos‘ Schulter fallen. „Verdammt, Porthos. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so schlecht gefühlt zu haben“, murmelte er in die Halsbeuge seines Freundes.

„Sei guten Mutes, treuer Freund. Dein Fieber ist endlich gesunken. Sogar Bruder Mathias ist verhalten optimistisch, was deine Heilungschancen betrifft.“

„Ich glaube nicht, dass Bruder Mathias überhaupt weiss, was Optimismus ist“, schmunzelte Aramis. Ihm fielen schon wieder die Augen zu. Er fühlte sich so schwach und es war so warm in diesem Bett, so wohlig warm… Nur am Rande bekam er mit, wie Porthos ihn sanft zurück auf das Kissen legte, die Decke zurechtzupfte und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte. Und Aramis schlief zum ersten Mal seit langem mit der Gewissheit ein, dass er wieder aufwachen würde.

 

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In Madame Liliths Haus war es so stickig, dass d’Artagnan kaum Luft holen konnte. Er konnte nur schwer den Drang widerstehen, die Fenster weit aufzureissen. Stattdessen sass er in einem muffig riechenden Sessel, balancierte eine zierliche Teetasse in der Hand und hatte eine dicke Kater auf dem Schoss, der von dem Moment an, als er über die Schwelle getreten war, einen Narren an ihm gefressen hatte und ihm nicht mehr von der Seite wich. Merlin, wie Madame Lilith dieses rothaarige Ungetüm nannte, war ziemlich schwer und d’Artagnans Oberschenkel fühlten sich schon fast taub an.

Madame Lilith schien ein ähnliches Faible für Katzen zu haben wie Richelieu, aber damit hörte die Ähnlichkeit mit dem Kardinal auch schon auf. D’Artagnan hatte die Frau immer schon für reichlich wirr gehalten und ihr trautes Heim unterstützte diesen Eindruck noch. Die Fenster waren mit allerlei Tüchern verhangen, um eine dämmerige Atmosphäre zu schaffen, die von dem Rauch der vielen angezündeten Kerzen noch verstärkt wurde. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Kristallkugel und um sie herum verstreut lagen Spielkarten mit merkwürdigen Symbolen. Und überall standen Vasen voller Rosen, dunkelrote Rosen, die einen schweren, betäubenden Geruch verströmten.

 Kurzum: d’Artagnan fühlte sich hier mehr als nur unwohl.

Athos jedoch machte den Eindruck, als könnte er den ganzen Tag im Haus einer verrückten Wahrsagerin verbringen. Nur Athos brachte es fertig, in einem scheusslich gemusterten Sessel zu sitzen und trotzdem elegant zu wirken. Und er plauderte so liebenswert mit Madame Lilith, als würden sie sich schon eine Ewigkeit kennen.

Die Frau war ganz und gar hingerissen von Athos, der seinen Charme gnadenlos einsetzte. Gerade jetzt  schenkte er ihr eines seines seltenen Lächelns. „Madame, ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr es mich und meinen jungen Freund ehrt, dass Ihr uns empfängt.“

D’Artagnan konnte ein Schnauben gerade noch unterdrücken. Merlin bohrte gerade seine Krallen in seine Beine. Er war weit davon entfernt, Freude zu empfinden, aber wenn Athos meinte, man müsste der Hellseherin Honig ums Maul schmieren, würde er eben mitspielen.

Madame Lilith kicherte wie ein verliebter Backfisch. „Wobei ich noch immer nicht weiss, wieso Ihr mich mit Eurem Besuch beehrt. Eurem Freund Porthos schien meine Anwesenheit eher Unbehagen zu bereiten.“

„Nun, die Botschaft die Ihr für ihn hattet, war auch nicht unbedingt erfreulich“, entgegnete Athos.

Sie warf ihm unter ihren langen Wimpern einen verschmitzten Blick zu. „Aber ich hatte Recht oder? Eurem Freund ging es tatsächlich schlecht.“

D’Artagnan fühlte sich unangenehm berührt. Die Frau war wirklich gruselig. Er verstand immer noch nicht ganz, wie sie Aramis‘ Gesundheitszustand so präzise hatte voraussehen können. Hatte sie etwa in ihre Kugel geblickt oder die Karten gelegt?

Athos nutzte die Gelegenheit um gleich noch ein wenig mehr zu schleimen. Er rutschte an die Kante seines Sessels und stellte seine Tasse ab, um die verblühte Hand von Madame Lilith zu ergreifen. „Leider traf Eure Prophezeiung zu. Unserem Freund geht es tatsächlich nicht sehr gut…“

„Oh, er befindet sich inzwischen auf den Weg der Besserung.“

D’Artagnan und Athos tauschten einen erstaunten Blick. Ob die Hellseherin auch diesmal richtig lag? Zur Abwechslung wäre das ja mal eine gute Nachricht.

Madame Lilith tätschelte Athos‘ Hand. „Vertraut mir, noch hat die Stunde Eures Freundes nicht geschlagen.“ D’Artagnan versteckte sein Grinsen gerade noch hinter seiner Teetasse. Die Finger der Frau strichen geradezu zärtlich über Athos‘ Ärmel. Wenn der ehemalige Graf seinen Charme nicht bald zügelte, würde sie in hier und jetzt vernaschen.

 „Eure Prophezeiung hat uns sehr beeindruckt. Ich will Euch nicht verhehlen, dass wir anfangs nicht recht an das zweite Gesicht glauben wollten“, nahm Athos den Faden wieder auf. Geschickt fing er die wandernde Hand ein, umschloss sie aber beinahe zärtlich mit der seinen, was Madame Lilith erröten liess. Athos konnte, wenn er es darauf anlegte, Frauen offenbar genauso schnell um den Fingern wickeln, wie Aramis.

 

„Das geschieht mir öfters. In unserer engstirnigen Welt, schenkt man den spirituellen Dingen leider zu wenig Beachtung. Aber für mich lüftet sich manchmal der graue Schleier des Alltäglichen und enthüllt mir Dinge, die anderen verborgen bleiben. Manchmal ist das eine Last.“

„Eine schwere Last, wie ich mir vorstellen kann. Aber, Madame, wir sind gekommen, um eine bestimmte Auskunft zu erbitten.“

„Bitte und du wirst erhört werden“, erwiderte Madame Lilith gutgelaunt.

„Ich kann mir vorstellen, dass es für Euch ein heikles Thema ist, deshalb spreche ich es nur ungern an. Es geht nämlich um Pater Jacques.“

Die Worte taten sogleich ihre Wirkung. Madame Liliths zog ihre Hand so schnell aus der von Athos, als hätte sie sich verbrannt. „Oh, dieses Scheusal, dieses elende Scheusal“, schimpfte sie und zerrte heftig an ihren glitzernden Schals. Merlin schien die Unruhe seiner Meisterin zu spüren. Er bohrte seine Krallen noch tiefer in d’Artagnans Beine, der einen gequälten Laut von sich gab, der jedoch sowohl von Kater, als auch von den beiden Menschen ignoriert wurde.

„Woher rührt der Hass auf diesen Priester?“, hakte Athos unbeirrt nach.

Madame Lilith schürzte missbilligend die Lippen. „Priester? Das ist kein Priester. Das ist ein Mörder!“

Nun, endlich hatte das schreckliche Gesäusel ein Ende und die Sache wurde konkret. D’Artagnan fühlte sich berufen, auch einmal ins Gespräch einzugreifen. „Eine schwere Anschuldigung.“

Sie richtete ihre schillernden Katzenaugen auf ihn. „Ich würde sie nicht erheben, wenn ich nicht triftige Gründe dafür hätte. Dieser Mann hat einen Bund mit dem Teufel geschlossen. Einen Teufel in Frauengestalt!“

„Ja, so jemanden kannten wir auch mal“, murmelte d’Artagnan und dachte an Milady.

Athos überging diese Bemerkung. „Einen Teufel in Frauengestalt? Was für eine Frau?“

Die Wahrsagerin schloss die Augen und presste ihre Hand auf ihre Brust. Ihre Nasenflügel bebten. „Sie ist schön, sogar sehr schön. Doch ihr Herz ist so dunkel wie die Nacht, in deren Schutz sie ihm stets aufsucht.“

Das war ja nicht gerade eine aufschlussreiche Beschreibung. Könnte es Fleur sein? Schön war diese zweifellos. Nur in welcher Beziehung stand sie zu Jacques? Er konnte da keine Verbindung erkennen. Mehr schien Madame Lilith allerding nicht preisgeben zu wollen. Sie schlug die Augen auf und nahm dann einen Schluck Tee, ganz als würden sie sich hier über so harmlose Dinge wie Hofklatsch unterhalten und nicht über Teufel, die bei Priestern ein – und ausgingen.

„Wer ist Pater Jacques?  Ein gefallener Engel?“, fragte Athos, nun mit einem drängenden Unterton in der Stimme.

Madame Lilith schüttelte langsam und bedächtig den Kopf. „Ihr versteht nicht. Der Mann, von dem Ihr sprecht ist nicht Pater Jacques! Er ist ein Wechselbalg, ein Teufel!“

D’Artagnan wurde das wieder alles zu übersinnlich. „Naja, nur weil Ihr ihn nicht mögt, müsst Ihr ihn nicht gleich mit einem Geschöpf der Hölle gleichsetzen.“

Das sonst so entrückte Gesicht der Seherin, nahm den Ausdruck einer wütenden Furie an. Während sie Athos ansah, als sei er die Erlösung von allen Sünden, blickte sie d’Artagnan nun an, als sei er ein besonders ekelerregendes Insekt. Dann verzogen sich die grell geschminkten Lippen zu einem herablassenden Lächeln „Ihr denkt, ich sei einfach nur eine schusselige alte Dame in deren Kopf nicht viel mehr ist, als in dem von Merlin oder? Aber ich plappere nicht einfach Unsinn. Pater Jacques ist nicht der für den er sich ausgibt!“

„Dann erzählt uns von ihm! Teilt Euer Wissen mit uns!“ Vielleicht war er ja zu forsch, aber d’Artagnan hatte keine Lust, den ganzen Tag mit diesem Brocken von Kater auf dem Schoss zu verbringen. Und wenn Athos‘ Süssholz raspeln nichts mehr brachte, mussten eben härtere Geschütze ausgefahren werden.

Er schien aber den richtigen Ton getroffen zu haben. Madame Lilith setzte sich aufrecht hin und ihre Stimme hatte den rauchigen Klang verloren, als sie fragte: „Was wollt Ihr wissen?“ 

„Woher kommt dieser Mann eigentlich? Lebte er schon immer in Paris?“, erkundigte sich Athos.

„Oh, nein. Bevor er hierherkam wirkte hier ein anderer Priester. Pater Michael. Nun, er war nicht gerade mit viel Intelligenz gesegnet, aber ein braver, anständiger Mann voller Gottesfurcht. Als er starb, wurde uns Pater Jacques versprochen…“ sie schwieg kurz und fügte dann nach einer kleinen Pause hinzu: „Ich erinnere mich, als sei es erst gestern gewesen. Es war eine regnerische Nacht und er war bis auf die Knochen durchnässt. Ich sah vom Fenster aus, wie er von seinem Maultier stieg. Ich öffnete das Fenster und fragte ihn, ob ich ihm helfen könne. Er wandte mir das Gesicht zu - es war ein gutes, freundliches Gesicht, im Mondschein klar zu erkennen -  und winkte lachend ab. Er war so ein sympathischer Mensch! Ich spüre, wenn jemand ein gutes Herz hat und das hatte Pater Jacques!“

Jetzt war d’Artagnan verwirrt. Gerade hatten sie sich ewig lang Madame Liliths Geschimpfe über Pater Jacques angehört und plötzlich war dieser ein herzensguter Mensch? Er öffnete schon den Mund, schloss ihn aber wieder, als er Athos‘ nachdrückliches Kopfschütteln sah.

Madame Lilith setzte ihre Geschichte fort. „Der nächste Tag kam, ein strahlender Sommermorgen. Es klopfte an meine Türe, ich machte auf und sah in das Gesicht eines Fremden. Ein schönes Gesicht bei flüchtiger Betrachtung. Ich jedoch sah dahinter und was ich sah gefiel mir nicht, denn in dieser Seele taten sich tiefe Abgründe auf. Und dieser Fremde erzählte mir, er sei Pater Jacques!“

D’Artagnan begriff. „Es war also nicht derselbe Mann, den Ihr in der Nacht gesehen hattet?“

„Nein! Der Teufel war in menschliche Gestalt geschlüpft und hat den armen Pater Jacques getötet um seinen Platz einzunehmen!“ Madame Lilith schlug mit ihrer kleinen Faust auf die Sessellehne und ihre Stimme hatte sich zu einem hysterischen Kreischen gesteigert. Das erschreckte Merlin, der von d’Artagnans Schoss sprang und mit seinem Schwanz die Tasse aus seiner Hand fegt. Der Tee ergoss sich über d’Artagnans Beine, der sich einen Schmerzensschrei gerade noch verbeissen konnte. Heute war einfach nicht sein Tag. Offenbar hatten sich die überirdischen Mächte gegen ihn verschworen. Vielleicht sollte er seine skeptischen Gedanken was Madame Liliths Geisteszustand betraf etwas in Zaun halten.

Athos‘ Augen hatten den fiebrigen Glanz eines Jägers angenommen. „Madame Lilith, habt Ihr einen Beweis für Eure Behauptung? Oder wisst Ihr, was mit dem echten Pater  geschehen ist?“

Doch Madame Lilith schien wieder in anderen Sphären zu schweben. Sie hatte den Blick auf die Decke gerichtet, ganz so, als stünde dort die Offenbarung des Herrn. Ihre Brust hob und senkte sich schwer. „Der zu Unrecht Ermordete“, durchbrach sie schliesslich die die erwartungsvolle Stille, „ruht zu Füssen des Engels.“ Und mehr war aus ihr nicht mehr herauszubringen.

 

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„Also, viel Gescheites hat sie ja nicht gewusst“, brummte d’Artagnan verstimmt, kaum hatte Madame Lilith die Tür hinter ihnen geschlossen. Die gute Frau hatte sie mehr oder weniger rausgeschmissen. Die Fragen seien zu viel für ihr zartes Gemüt, hatte sie ihnen erklärt, sie benötige jetzt Ruhe. Athos hatte eher den Verdacht, dass sie ihren Besuch überaus genossen hatte und das Ganze als grosse Bühne für ihren Auftritt genutzt hatte. Jetzt wo der letzte Vorhang gefallen war, war das Publikum entlassen.

„Im Gegenteil, sie hat uns sehr viel gesagt“, widersprach Athos. Er war mehr als zufrieden. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht, Madame Lilith war nicht einfach nur eine Spinnerin, sondern wusste erstaunlich viel. Sie war schlauer und durchtriebener als es den Anschein machte.

D’Artagnan warf ihm einen ungnädigen Blick zu. Er sah derangiert aus, mit seinen vom Tee verschmutzten Hosen und seine Stimmung schien endgültig auf dem Tiefpunkt angelangt zu sein. „Gut, sie hat behauptet, dass unser Pater Jacques, den wir kennen und lieben, nicht der richtige Pater Jacques ist. Aber wie sollen wir das beweisen? Madame Lilith ist nicht gerade eine glaubwürdige Zeugin.“

„Nun, dann müssen wir eben nach Beweisen suchen.“

„Und wo willst du sie suchen? Willst du ins Pfarrhaus einbrechen und seine Sachen durchwühlen?“, schnaubte d’Artagnan.

„Ja.“

D’Artagnan sah Athos an, als hätte er ihm gerade vorgeschlagen, die Sonne zu stehlen. „Du willst bei einem Priester einbrechen?“

„Es besteht der Verdacht, dass es gar kein richtiger Priester ist.“

„Trotzdem! Athos, wir sind Musketiere keine Einbrecher! Wir haben einen Ehrencodex.“

Athos verdrehte die Augen. Manchmal hatte der Junge einen schlimmeren moralischen Tick als Aramis. Ausser, wenn es um eigene Herzensangelegenheiten ging. „Ach, weisst du, solche Regeln sind ja doch mehr Richtlinien.“

Der Zweifel stand d‘Artagnan ins Gesicht geschrieben. „Bestimmt ist es Sünde in ein Pfarrhaus einzubrechen!“, jammerte er.

„Ach, weisst du, mit den Sünden ist das so eine Sache: Wenn man schon einmal damit angefangen hat, lohnt es sich auch nicht mehr damit aufzuhören.“

 

D’Artagnan fügte sich seufzend in sein Schicksal. „Oder wie es so schön heisst: Eine Sünde kommt selten allein.“