Wem die Stunde schlägt von LadyAramis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 10 BewertungenKapitel Das Haus des Priesters
Kapitel 26
Im Haus des Priesters
Inzwischen war Tréville so oft im Arbeitszimmer von Richelieu, dass er schon daran dachte, hier sein Feldbett aufzuschlagen. Doch trotz seiner häufigen Besuche hatte sich das Verhältnis zwischen dem Kardinal und dem Hauptmann nicht gerade verbessert. Auch wenn sie ein gemeinsames Ziel, die Ergreifung dieses mysteriösen Mörders, hatten, waren die eigentlichen Differenzen zwischen den beiden noch immer unüberbrückbar und das schlug sich in giftigen Auseinandersetzungen nieder. Auch heute ging es alles andere als harmonisch zu.
Tréville rieb sich, am Ende einer nervenaufreibenden Diskussion, die schmerzenden Schläfen. „Und wieso darf ich nicht mit Pierre sprechen? Gibt es irgendeinen triftigen Grund dafür oder fällt das einfach unter Eure üblichen Schikanen?“
Richelieu verschränkte die Arme und dank der weiten Ärmel seiner roten Robe wirke er in dieser Pose wie eine missmutige Fledermaus. Sein Gesucht drückte dieselbe erschöpfte Gereiztheit aus, die auch Tréville empfand. „Der Grund dafür ist, dass ich immer noch nicht fertig mit Pierre bin. Er will mir nichts sagen. Weder über diese ominöse Fleur, noch über Duponts gewaltsamen Tod.“
„Genau deshalb will ich ja mit ihm sprechen! Mir gegenüber ist er vielleicht auskunftsfreudiger“, beharrte Tréville auf seinem Standpunkt. Irgendwie war es noch anstrengender mit Richelieu zu arbeiten, als gegen ihn. Vielleicht warf er ihm aber auch einfach aus purer Gewohnheit Knüppel zwischen die Beine.
„Ich bitte Euch, Tréville! Ihr seid ein guter Soldat, aber in Sachen Verhörtechniken viel zu weich. Wenn es mir und meiner roten Garde nicht gelingt diesem verfluchten Kerl das Maul zu öffnen, dann gelingt es keinem!“, knurrte Richelieu und aus dem Tonfall entnahm Tréville, dass ihm die tapfere Schweigsamkeit Pierres, ganz schön fuchste. Tréville zollte Lefèvre innerlich Respekt. Der zierliche Gastwirt musste robuster sein, als er aussah.
„Meine verweichlichten Verhörmethoden könnten in diesem Fall der Schlüssel sein. In Euch sieht Lefèvre nur einen Feind. Eure Beziehung ist vorbelastet, mit was auch immer. Ich dagegen könnte als Freund auftreten.“
In Richelieus Augen blitzte es gefährlich. „Und Euch mit ihm verbrüdern? Das würde Euch in den Kram passen!“
Richelieu war ja immer feindselig, aber immer wenn es um diesen Pierre ging, gebärdete er sich regelrecht paranoid. Tréville quälte die Neugier. Was verband diese zwei so ungleichen Männer? Teilten sie ein Geheimnis, dessen Entdeckung Richelieu um jeden Preis verhindern wollte? Gut möglich, allerdings ging es Tréville nicht um Richelieus Sünden. Dass dieser davon reichlich besass, wusste er. Aber er brauchte Pierres Aussage, um endlich Licht in diese Sache zu bringen und Aramis endgültig zu entlassen. „Glaubt mir, Kardinal, auf den Strassen gäbe es genug Verbündete gegen Euch, da bräuchte ich mich nicht in den Schmutz eines Gefängnisses zu begeben.“
„Für einen Mann, der etwas von mir will, seid Ihr äusserst unhöflich, Hauptmann.“
Tréville seufze schwer. Auf dem üblichen Weg kam er hier nicht weiter. Er musste es anders versuchen. „Kardinal, ich bitte Euch: Einer meiner Männern steht noch immer unter Mordverdacht. Ich sehe es als meine Pflicht, ihn von diesem schrecklichen Vorwurf zu befreien und das kann ich nur, indem ich den wahren Mörder finde. Erstaunlicherweise sind wir übereingekommen, unsere Kräfte zu vereinen, damit wir auf die Hilfe des jeweils anderen zählen können. Jetzt brauche ich diese Hilfe. Lasst mich mit Pierre sprechen, ich bitte Euch!“ Den letzten Satz brachte er nur schwer über die Lippen. Es widerstrebte ihm sehr, den Kniefall vor seinem persönlichen Lieblingsfeind zu machen. Aber wenn es der Wahrheit diente, musste man auch mal Kompromisse mit sich selbst schliessen.
Richelieu lehnte sich mi einem so selbstzufriedenen Grinsen zurück, dass Tréville sich beherrschen musste, es ihm nicht aus dem Gesicht zu schlagen. Stattdessen bohrte er die Fingernägel in die Handfläche. Ich tue das für Aramis, beschwor er sich selbst, ich tue es, um seine Unschuld zu beweisen. Mon Dieu, ich schwöre dir Aramis, wenn ich deinen Hals gerettet habe, wirst du zur Strafe für alle meine Unannehmlichkeiten erstmal sämtliche Stiefel der Garnison putzen!
„Ihr bittet mich, Hauptmann Tréville? Das sind wahrlich ungewohnte Töne! So demütig kenne ich Euch gar nicht. Vielleicht sollte öfters mal einer Eurer Männer unter Mordverdacht stehen. Das macht Euch so umgänglich.“
„Diese Umgänglichkeit solltet Ihr nicht allzu sehr ausreizen!“, warnte Tréville mit leiser, aber durchdringender Stimme. Er war nie ein Mann gewesen, der sich mit Brüllen Respekt verschaffen musste. Seine klare, kühle Stimme, seine kerzengerade Haltung und sein stolzer Blick verschafften ihm eine natürliche Autorität.
Und die beeindruckte manchmal sogar Richelieu. „Ich weiss nicht ob ich Eure Hartnäckigkeit ärgern oder bewundern soll. Aber da Ihr mich ja quasi auf den Knien anfleht…“ Bei diesen Worten bohrte Tréville die Nägel so fest in seine Haut, dass es zu bluten anfing, trug aber ein tapferes Haifischlächeln zur Schau, „will ich mal nicht so. Ihr dürft morgen mit Pierre reden. Eine Stunde! Nicht länger.“
Ein kleiner Sieg, dennoch unbestreitbar ein Sieg. Dennoch verkniff sich Tréville ein triumphierendes Lächeln, um Richelieu nicht weiter zu verärgern und sich so wohlmöglich gleich wieder um das mühsam erarbeitete Zugeständnis zu bringen. „Ich danke Euch vielmals! Ich werde Euch Eure Hilfsbereitschaft nicht vergessen.“ Die Ironie in Trévilles Stimme war unüberhörbar.
„Ich bin schliesslich dafür bekannt, ein äusserst grosszügiger und grossmütiger Mensch zu sein. Und weil ich mich jetzt um all die armen Seelen von Frankreich kümmern muss, wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr Euch entfernen könntet!“
Dermassen aus dem Zimmer herauskomplementiert, beschloss Tréville, gleich noch einen Abstecher zum König zu machen, um diesen über die neusten Entwicklungen zu informieren. Es bestand immerhin die kleine Chance, dass Louis Aramis jetzt schon begnadigen würde, schliesslich hatten sich Ellens Anschuldigungen in Luft aufgelöst. Zudem war Louis ausgesprochen guter Laune. Seine Schwester, die Herzogin von Savoy, hatte ihm als Geschenk einen wunderbaren reinrassigen Hengst geschickt und er war ganz aus dem Häuschen darüber. Da Louis berühmter Gerechtigkeitssinn immer von seiner Stimmung abhing, rechnete Tréville sich durchaus Chancen aus.
Als er zu den königlichen Gemächern abbiegen wollte, kreuzten sich seine Wege mit einer Zofe. Er nahm sie nur aus den Augenwinkeln war, deshalb ging er erst achtlos an ihr vorüber, bevor er sie erkannte. Es war Marie, die Cousine von Francis. Jenes Mädchen, das dem Kardinal den Brief übergeben hatte, der ihn direkt in die Bibliothek geführt hatte. Hatte eigentlich schon irgendjemand daran gedacht, sie zu befragen? Sie war dem Toten wahrscheinlich näher gestanden als jede andere, vielleicht mit Ausnahm der geheimnisvollen Geliebten.
Er fasste einen schnellen Entschluss. „Marie?“, rief er ihr hinterher.
Sie drehte sich zu ihm um. „Ja, Hauptmann?“, fragte sie scheu und kam einige Schritte näher. Sowohl ihre Gesichtszüge, als auch ihre Bewegungen erinnerten Tréville schmerzhaft an Francis. Selbst die Art, wie sie jetzt die eine Hand in die Hüfte stemmte und ihn sowohl ehrerbietig als auch unverhohlen neugierig anblickte, war genau die ihres verstorbenen Cousins.
Einer spontanen Regung folgend, griff er nach ihrer Hand und drückte sie. „Erst einmal möchte ich Euch mein Beileid ausdrücken. Ich mag mir kaum ausmalen, was für ein Verlust Francis‘ Tod für Euch bedeutet.“
Ihre warmen braunen Augen füllten sich mit Tränen und sie sah beschämt zu Boden, um sie zu verbergen. „Er war wie ein Bruder für mich“, sagte sie mit leiser, tränenerstickter Stimme.
Tréville reichte ihr mitfühlend ein Taschentuch, dann legte er den Arm um sie und führte sie zu einer der Fensternischen, um ein wenig privater mit ihr sprechen zu können. Normalerweise wurden diese Plätze eifrig von Liebespaaren benutzt, weil man sich hinter den Vorhängen so geschickt verbergen konnte, aber für ein vertrauliches Gespräch, das nicht jeder mithören sollte, waren sie ebenfalls geeignet.
„Francis war ein tapferer und ehrenhafter Mann mit einem sonnigen Gemüt. Es war mir eine Ehre, ihn in meinem Regiment zu haben und ich bedaure es, dass er so früh und unverdient aus dem Leben geschieden ist.“
„Ich habe gehört, dass ein anderer Musketier ihn getötet haben soll. Ein Musketier namens Aramis.“ Es klang nicht wirklich vorwurfsvoll, eher fragend, beinahe neugierig.
„Das ist nicht wahr. Aramis war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich und meine Männer suchen den wahren Mörder. Um Francis‘ Gerechtigkeit zu bringen.“
Ein Ausdruck grosser Erleichterung trat auf Maries sommersprossiges Gesicht. „Da bin ich froh. Francis hat oft von Aramis erzählt. Es hätte mich sehr geschmerzt, wenn mein Cousin durch die Hand eines Freundes hätte sterben müssen.“
„Ihr habt euch oft getroffen?“
„So oft es mein Dienst und sein Dienst erlaubte. Es war manchmal schwierig uns zu treffen, aber für kurze Gespräche hatten wir immer Zeit. Und in letzter Zeit war er sehr viel im Palast.“
Tréville horchte auf. „Öfters als sonst?“
„Ja. Auch wenn er keinen Dienst hatte. Erst habe ich mich gefreut, weil ich dachte, er käme meinetwegen öfters vorbei. Aber wenn wir uns sahen war er immer kurz angebunden und konnte mich gar nicht schnell genug loswerden.“
„Nicht sehr charmant.“
„Oh, Ihr dürft nicht denken, dass er sich schlecht um mich gekümmert hat. Er trug mich auf Händen. Er vernachlässigte mich nur dann, wenn…“ Sie zögerte auf einmal und brach verlegen ab.
Tréville verstand sofort auf, was sie anspielte. Immerhin hatte Francis viele Jahre unter ihm gedient und er kannte dessen Laster, so wie er die Schwächen aller seiner Männer genau kannte. „Nur dann, wenn er eine neue Geliebte hatte“, beendete er ihren Satz.
Maire nickte, eine Spur beschämt. „Ich sage nicht gern Schlechtes über einen Toten, aber Francis war ein Schlitzohr was Frauen betraf. Für keinen Rock war er sich zu schade. Besonders von verheirateten Frauen konnte er einfach nicht die Finger lassen. Und er hatte Erfolg, denn er war freundlich, witzig und charmant. Er stellte keine Ansprüche und war sehr diskret.“
Irgendeinmal, schwor Tréville sich im Stillen, würde er bei seinen Musketieren die Auflage einführen, dass jeder der den Eid schwor, in der Lage sein musste, mit dem Kopf statt mit dem Schwanz zu denken! Das war ja wirklich ungeheuerlich in was für Schwierigkeiten sich diese Romanhelden ständig brachten. Und er durfte es dann ausbaden. „Wisst Ihr denn, wer Francis‘ letzte Geliebte war?“
Zu seiner grenzenlosen Enttäuschung schüttelte Marie den Kopf. „Francis prahlte nie mit seinen Eroberungen. Schon gar nicht vor mir.“
Tréville verbiss sich einen Fluch. Wäre ja auch zu einfach gewesen. „Aber wenn er öfters im Palast war als sonst, muss es jemand gewesen sein, der viel Zeit hier verbringt, der möglicherweise sogar hier wohnt. Habt Ihr wenigstens eine Vermutung?“
Ein Hauch von Ärger blitzte in Maries Augen auf. „Ich habe meine Nase nicht in die Angelegenheiten meines Cousins gemischt. Mir war es lieber, nichts von seinen amourösen Eskapaden zu wissen.“ Verwundern tat Tréville das eigentlich nicht. Marie war eine Zofe. Sie war dazu erzogen, Geheimnisse für sich zu bewahren und sie wusste, dass es gefährlich sein konnte, sich in Hofintrigen zu mischen. In diesem Fall war es allerdings ärgerlich.
„Marie, ich frage Euch nicht, um meine persönliche Neugier zu befriedigen. Ich muss das wissen, um nachvollziehen zu können, wer ein Motiv hatte, Francis zu töten!“
Das schien Marie zu beruhigen. „Es ist nicht so, dass ich Euch nicht vertraue. Ich weiss, Ihr seid ein Mann von Ehre. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich mich immer mehr in diese Geschichte verstricke, ohne es zu wollen“, sagte sie entschuldigend.
Dieses Gefühl kannte Tréville nur zu gut. „Wir alle sind jetzt darin verstrickt, ob wir wollen oder nicht. Und wenn wir uns aus diesem Netz befreien wollen, müssen wir Licht ins Dunkel bringen. Auch wenn wir dabei vielleicht Dinge sehen, die uns nicht gefallen.“
„Ich weiss wirklich nicht, wer Francis‘ Geliebte war. Aber sie muss etwas Besonderes gewesen sein. Er war sehr verliebt. Wer auch immer sie war, sie hat ihn sehr glücklich gemacht. Er hat immer gestrahlt. Bis auf seinen letzten Besuch. Da war er auf einmal so niedergeschlagen. Am Boden zerstört.“
„Hat er Euch den Grund für seine schlechte Stimmung genannt?“
„Er wollte erst nicht recht darüber reden. Dann meinte er, einer seiner Kameraden sei in England als Spion entlarvt und hingerichtet worden. Das ging ihm wohl ziemlich nahe.“
Tréville runzelte verwirrt die Stirn. Der Kamerad, auf den Francis sich bezogen hatte, war Isaac, den er selbst unter einer falschen Identität nach England an Buckinghams geschickt hatte, um für Frankreich zu spionieren. Zwei Jahre lang hatte das reibungslos geklappt und Isaac hatte sie mithilfe von verschlüsselten Botschaften über jeden Schritt des ehrgeizigen Herzogs informiert. Bis dann, völlig unerwartet, Isaacs Deckung aufflog. Bevor Tréville, Richelieu oder Louis hätten intervenieren können, hatte Buckingham den Musketier schon einen Kopf kürzer gemacht. Die ganze Garnison hatte Trauer getragen. Francis hatte es besonders hart getroffen, denn er und Isaac waren fast so unzertrennlich gewesen wie Athos, Porthos, Aramis und d’Artagnan.
Dennoch verwunderte es ihn, dass Francis so kurz vor seinem Tod, deshalb deprimierter Stimmung gewesen war. Denn Isaac war schon seit fast einem halben Jahr tot. Warum überwältigte ihn jetzt auf einmal wieder die Trauer? Das erschien ihm mehr als seltsam. „Und sonst hat er nichts gesagt?“
„Doch. Er hat mir einen gegeben und liess mich schwören, dass ich diesen im Falle seines Todes nur dem Kardinal Richelieu übergebe.“
„Und Ihr habt den Brief nicht gelesen?“
Sie sah ihn ehrlich entrüstet an. „Natürlich nicht! Er hat mir eingeschärft, dass der Inhalt des Briefes nur für die Augen des Kardinals bestimmt sind.“
Tréville hob entschuldigend beide Hände. „Ich wollte Euch nichts unterstellen. Also, abgesehen von Euch wusste niemand von den Brief?“
Diese Frage brachte Marie in sichtliche Verlegenheit. Ihr Gesicht nahm einen deutlich rötlicheren Teint an und sie strich nervös die Hände an ihrem Rock ab. Dieses Mädchen war ein offenes Buch, gewiss nicht geschaffen für solche Intrigen, in die Francis sie offensichtlich verwickelt hatte. „Hauptmann, denkt bitte nicht schlecht von mir. Aber ich habe meiner Freundin Fleur von dem Brief erzählt. Bei Francis‘ Beerdigung. Ich konnte auf einmal nicht mehr schweigen. Ich hatte solche Angst, weil ich nicht wusste, um was es in dem Brief ging. Ich dachte, es sei etwas sehr Schlimmes, das unter Umständen auch mich in Schwierigkeiten bringt!“
Also doch. Fleur hatte davon gewusst! „Und sie wollte nicht, dass Ihr den Brief Richelieu gebt?“
„Sie wollte, dass ich ihn zerreisse. Sie meinte, der Kardinal sei ein böser Mann, mit dem man sich auf keinen Fall einlassen darf!“
Nun, damit hatte die Dame gewiss nicht ganz Unrecht. Allerdings hatte es wohl einen anderen Grund für ihren Rat gegeben. Es passte alles zusammen: Francis hatte irgendetwas über Fleur erfahren. und dieses Geheimnis war so einschneidend und gefährlich gewesen, dass es ihm das Leben gekostet hatte. Doch vielleicht hatte er geahnt, dass er in Gefahr schwebte und hatte das tödliche Geheimnis diesem ominösen Brief anvertraut. Fleur schien das auf jeden Fall gefürchtet zu haben.
„Marie…Kann es sein, dass Fleur diese ominöse Geliebte von Francis war?“
„Fleur?“, fragte Marie, in einem Ton, als hätte er gefragt, ob Fleur vielleicht eine heisse Affäre mit einem Schafsbock gehabt hätte.
„Wir vermuten, dass ihr Verschwinden mit Francis‘ Tod zusammenhängt.“
Bei diesen Worten wurde Marie schreckensbleich und begann bedrohlich zu wanken. Tréville fasste sie gerade noch rechtzeitig am Ellbogen. „Aber…Fleur ist doch…sie ist meine Freundin!“, stammelte Marie, während sie Tréville mit ihren grossen braunen Augen, die keine Bosheit und keine Falschheit kannten, anblinzelte. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, aber am königlichen Hof streute man mit solchen Gesten allzu schnell Gerüchte.
„Ich weiss. Manchmal stellt sich heraus, dass wir die Menschen, denen wir am nächsten stehen, eigentlich am schlechtesten kennen. Ich weiss, dass ist kein Trost. Aber zumindest eine Erklärung“, sagte Tréville sanft.
Es war nicht von ungefähr, dass Tréville bei seinen Männern so beliebt war. Er war unnachgiebig und streng. Die Treue zu seinem König ging ihm über alles und dieselbe bedingungslose Liebe, die er seinem Dienstherrn entgegenbrachte, verlangte er auch von seinen Männern. Doch zugleich gelang es ihm durch Menschlichkeit und Herzenswärme stets Verständnis für seine Musketiere zu zeigen. Er hatte für jeden ein offenes Ohr und seine Ratschläge waren zwar stets klug und durchdacht, jedoch ohne bevormundenden Unterton. Stets fand er einen Weg in die Herzen seiner Männer und vermochte es so, sie wieder auf den rechten Weg zu führen.
Auch auf Marie zeigte Trévilles ruhige, mitfühlende Worte sofort Wirkung. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die beiden…Naja, Fleur ist schon kein Kind von Traurigkeit. Und sie hat gewiss ihre kleinen Geheimnisse.“
Tréville horchte auf. „Kleine Geheimnisse?“
„An manchen Abenden war sie einfach plötzlich unauffindbar. Wenn ich sie fragte, wo sie war, hat sie nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, sie habe eine Reise in ihre Vergangenheit gemacht.“
„Aber über ihre Vergangenheit hat sie nie gesprochen?“
„Nein. Ihr müsst wissen, es gab immer viel Gerede über Fleur. Sie scheint keine einflussreichen Verwandten zu haben, dennoch hat sie die begehrte Stelle als Hofdame bekommen. Und als sie hierherkam war ihr Auftreten so ganz anders, als man es sonst von Edeldamen gewohnt ist. Heute merkt man es kaum noch, aber ihre Sprache war…eine Spur zu unverblümt. Ihre Manieren waren so schlecht, dass man sie die „Gossenhofdame“ nannte. Aber sie lernte schnell. Nach einem halben Jahr war davon nichts mehr zu merken. Nur ihren beissenden Spott, den hat sie behalten.“
Eine Hofdame, die wie ein Strassenmädchen sprach? Das war in der Tat etwas merkwürdig, aber Tréville konnte sich keinen Reim darauf machen. Dennoch war die Unterhaltung mit Marie ergiebig gewesen. Er hätte schon viel früher auf das Mädchen zugehen müssen. Immerhin war sie Francis einzige noch lebende Verwandte.
„Marie, ich bin Euch zu Dank verpflichtet. Ich hoffe sehr, dass es mir gelingen wird, Francis‘ Mörder zu finden. Damit kann ich zwar Euren Schmerz nicht lindern, aber zumindest für ein Stück Gerechtigkeit sorgen.“ Er beugte sich über ihre Hand und küsste sie.
„Hauptmann Tréville, wenn es mehr Männer wie Euch gebe, wäre Frankreich ein gesegnetes Land.“ Und sie küsste ihm flugs auf die Wange, bevor sie flinken Schrittes weiter ihres Weges ging.
Dieses Kompliment liess den gestandenen Kriegshelden, gefeierten Strategen und wichtigen Berater des Königs erröten wie eine Jungfrau, die zum ersten Mal einen grossen Ball besuchte.
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Es war ein schöner, warmer Tag und d’Artagnan hätte einiges damit anzustellen gewusst. Zum Beispiel Hand in Hand mit Constance der Seine entlangspazieren. Ein kleines Übungsgefecht mit Porthos im Hof der Garnison. Philosophieren mit Aramis bei einem guten Glas Wein. Was man eben so tat wenn man jung und lebensdurstig war und zudem in der schönsten Stadt der Welt lebte. Könnte man meinen.
Stattdessen hatte er diesen schönen Sommertag verborgen hinter einem dichten Busch verbracht, den Bauch platt auf den Boden gedrückt, den Blick auf ein Pfarrhaus gerichtet, indem angeblich unheimliche Dinge vor sich gingen. Inzwischen hoffte d’Artagnan beinahe auf das Erscheinen eines blutrünstigen Geistes so sehr langweilte er sich inzwischen.
Der einzige Trost war, dass Athos wohl in einer ähnlich unbequemen Pose verharrte. Laut diesem war es zwingend notwendig, das Pfarrhaus von verschiedenen Seiten zu beobachten, damit sie Pater Jacques ja nicht verpassten, sollte der einen Fuss nach draussen setzen. Nur war der gute Priester ausserordentlich häuslich. Ein Sonnenuntergang wäre spannender zum Betrachten gewesen, als dieses kleine, unschuldig wirkende Häuschen.
Schliesslich wurde es Abend. Die belebten Strassen leerten sich, der Lärm ebbte ab, das Sonnenlicht nahm stetig ab, bis es schliesslich ganz verschwand und auch alle Wärme mit sich nahm. Sanftes Mondlicht ergoss sich über die Stadt, tauchte sie in ein mystisches Licht und auf einmal sah Paris nicht mehr aus wie der turbulente und farbige Mittelpunkt der Welt, sondern wie eine Märchenstadt, die in Schlaf gesunken war.
D’Artagnan wurde jäh aus seinen träumerischen Gedanken gerissen, als er von weither das Schnauben und Stapfen von Pferden vernahm. Und war das nicht das Geräusch von rollendem Rädern auf Pflastersteinen? Tatsächlich, wie auf ein unsichtbares Stichwort fuhr eine schlicht aussehende Kutsche in d’Artagnans Sichtfeld. Sie trug weder Wappen noch auffälligen Schmuck. Die Pferde jedoch, das erkannte d’Artagnans geübter Blick auf Anhieb, waren edle Tiere. Wer auch immer in dieser Kutsche reiste, wollte vielleicht den Anschein von Bescheidenheit wecken, doch d’Artagnan hätte seinen kostbaren Degen darauf verwettet, dass die Pferde aus einem adeligen Stall stammten.
Die Kutsche hielt direkt vor dem Pfarrhaus. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür, Pater Jacques huschte in die Dunkelheit und verschwand in der Kutsche, die sogleich weiterfuhr. Das alles geschah so schnell, dass d’Artagnan sich einen Moment tatsächlich fragte, ob es wirklich geschehen war oder ob er sich die Kutsche vor lauter Langeweile nur eingebildet hatte.
„Wer mag das wohl gewesen sein?“
Vor Schreck sprang d’Artagnan auf die Füsse und riss noch während des Sprunges den Degen hoch. Nur Athos‘ schnellen Instinkten war es zu verdanken, dass d’Artagnan nicht seinen eigenen Waffenbruder in Scheiben schnitt.
„Athos! Bist du wahnsinnig dich so anzuschleichen?“, keuchte d’Artagnan. Seine Hand zitterte, als er seinen Degen wegsteckte. Zumindest hatte Athos dafür gesorgt, dass seine fast schon eingeschlafenen Sinne jetzt wieder geschärft wie die einer Raubkatze waren.
Athos hob auf jene überhebliche Art und Weise die Augenbrauen, wie es nur jemand konnte, der ganz genau wusste, dass seine geistigen Fähigkeiten diejenigen gewöhnlicher Leute weitaus überragten. „Ich wollte dich nur daran erinnern, dass man sich nie auf ein einziges Ziel konzentrieren soll, sondern auch beachten soll, was hinter einem geschieht“, mahnte Athos.
„Ich werde es mir merken“, murrte d’Artagnan verstimmt. Nach einem anstrengenden Tag hinter Büschen gingen ihm Athos‘ Beleherungen, die er sich sonst stets sehr zu Herzen nahm, eher auf die Nerven. Ausserdem sah Athos geradezu unverschämt entspannt aus. Während d’Artagnan von oben bis unten mit Staub bedeckt war, sah Athos so sauber und gepflegt aus, als sei er auf dem Weg zu einem Gartenfest beim König. Wo hatte er wohl seinen Beobachtungsposten bezogen?
Als hätte Athos seine Gedanken gelesen, musterte er den jungen Mann kritisch. „Was hast du eigentlich gemacht? Dich im Dreck gewälzt?“
„Du bist lustig! Du hast mich schliesslich in diesem Busch gesteckt. Und wo warst du eigentlich?“
„In der Taverne gleich gegenüber. Da hast du einen wunderbaren Blick auf das Pfarrhaus. Und sie haben ein ausgezeichnetes Bier“, entgegnete Athos launig.
D’Artagnan traute seinen Ohren nicht. „Wie bitte? Du hast dich einfach an den Tisch gesetzt und Bier getrunken? Während ich hier auf dem Bauch liegen und Schlange spielen musste?“, empörte er sich und stemmte zornig die Hände in die Hüfte. Den ganzen Tag hatte er sich nur mit dem Gedanken eines ebenso verrenkt liegenden Athos bei Laune gehalten, nur um jetzt zu erfahren, dass dieser im Gegensatz zu ihm einen äusserst angenehmen Nachmittag verbracht hatte.
Athos sah ihn mit grossen, unschuldigen Augen an. „Es sollte eigentlich nur ein Witz sein. Aber als du dann so brav unter dem Busch gekrochen bist, dachte ich: Schaden wird’s dem Jungen nicht.“
Für einen Moment hatte d’Artagnan ein klares Bild vor Augen. Er sah ganz deutlich wie er seine Hände langsam um Athos‘ Hals legte und genüsslich zudrückte. Tatsächlich fühlte er sogar schon ein Zucken in den Fingern. Er begnügte sich dann allerdings mit einem kräftigen Hieb gegen Athos‘ Schulter. „Was habe ich dir denn getan, dass ich eine solche Strafe verdient habe?“
„Gar nichts. Ich finde einfach, du solltest deine Naivität endlich ablegen und anfangen meine Befehle auch mal zu hinterfragen.“
„Naivität? Ich bin doch nicht naiv! Ich bin einfach nicht so misstrauisch und menschenfeindlich wie du!“, fauchte d’Artagnan.
Athos hob begütigend die Hände. „Reg dich nicht so auf, d’Artagnan. Schon vergessen? Wir zwei Hübschen hatten noch etwas vor!“ Er deutete vielsagend auf das Pfarrhaus.
Hatte d’Artagnan noch nie recht Lust gehabt genau dort einzubrechen, war seine Motivation nun erst recht am Boden. Naiv…so eine Frechheit! Nur weil sie ein paar Jährchen älter waren, behandelten ihn seine Freunde immer als sei er ein kleines Kind. Dabei war er durchaus reif und erwachsen. Und bestimmt nicht viel naiver als der stets gutgläubige Porthos und der bei Frauen immer schwach werdende Aramis!
Dennoch nagte Athos‘ Einschätzung an ihm. Weil ihm die Meinung seines Mentors eben doch wichtig war. „Du findest wirklich, ich bin naiv?“, fragte er beunruhigt.
„Am besten gehen wir durch den Garten. Dort können wir uns gut hinter Grünzeug verstecken...“, sinnierte Athos, der offenbar kein Wort von dem gehört hatte, was d’Artagnan gesagt hatte.
„Ich bin schon nett. Ich bin sogar ziemlich nett, aber ich halte das nicht zwangsläufig für eine schlechte Charaktereigenschaft. Im Gegenteil. Natürlich muss man als Musketier auch mal Härte zeigen, aber sein gutes Herz sollte man dabei schon bewahren oder?“
„Ohne Spur einzubrechen, das können wir wahrscheinlich vergessen. Was dumm ist, weil Jacques möglicherweise schlau genug ist, um uns zu verdächtigen. Allerdings wird es schwer für ihn sein, dass zu beweisen. Und wenn wir erst einmal nachweisen können, dass der gute Pater Dreck am Stecken hat, wird es niemanden interessieren, wie wir an die Beweise gekommen sind…“
„Und die Frauen mögen auch lieber ein bisschen naive Männer, als so kalte Durchtriebene…“
„Wir können auf die grosse Eiche klettern. Von dort sollte es ein Leichtes sein, die oberen Fenster zu erreichen und so können wir in das Haus einsteigen…“
„…aber du hast natürlich Recht, manchmal bin ich schon eine Spur zu gutgläubig!“
Athos seufzte schwer und drehte sich zu d’Artagnan um. „Gut, wenn es so an dir nagt: Ich nehme es zurück. Du bist nicht naiv, d’Artagnan. Du bist einfach ein netter Mensch. Können wir uns jetzt wieder auf die Tatsache konzentrieren, dass wir in ein Haus einbrechen müssen?“
Was sie dann auch taten. Es war allerdings eine mühsame Angelegenheit. Sie mussten darauf achten, möglichst leise vorzugehen, denn schliesslich sollte niemand sehen, wie zwei Musketiere bei einem ehrbaren Pfarrer einbrachen. Zur Sicherheit hatten sie ihre Uniformen abgelegt und kletterten nun in Hemd und Hose auf die grosse Eiche. Es verschaffte d’Artagnan grosse Befriedigung, dass es ihm mit Leichtigkeit gelang auf die Äste zu klettern, während Athos eher wirkte wie ein altersschwaches Eichhörnchen. Manchmal hatte es eben seine Vorteile als einfacher Bauer geboren zu sein.
Die nächste Herausforderung war es, das Fenster einzuschlagen. Ohne Lärm war das nicht möglich. Doch der Zufall kam ihnen zu Hilfe. Eine Gruppe betrunkener Soldaten zog grölend durch die Strasse und Athos nutzte den Lärm. Blitzschnell schlug er die Scheibe ein. D’Artagnan hörte das Splittern von Glas, dicht gefolgt von einem gezischten Fluch von Athos.
„Was ist passiert?“, flüsterte d’Artagnan aufgeschreckt.
„Verdammte Scherben! Ich hab mir die Hand aufgeschnitten.“
D’Artagnan klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Eine Verletzung, die einem Helden gebührt! Aber jetzt beweg deinen Hintern, ich will nicht auf dem Baum übernachten.“
„Die Ungeduld ist das Vorrecht der Jugend“, lamentierte Athos, tat aber wie geheissen. Noch einmal griff er mit der Hand hinein und öffnete das Fenster von innen. Nun war es leicht, die Fensterflügel aufzustossen und in das Haus zu steigen. Bevor d’Artagnan jedoch das Haus betrat, machte er zur Sicherheit noch das Kreuzzeichen.
Himmlischer Beistand konnte schliesslich nie schaden. Besonders, wenn man in das Haus eines Pfarrers einbrach.
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Jacques lehnte sich in seinem Sitzpolster zurück. Es tat gut, wieder mit ihr zusammen zu sein. Sie war der einzige Mensch, bei dem er ganz sich selbst sein konnte, bei der er nichts zu verstecken hatte und bei der er diese lächerliche Verkleidung des Priesters endlich fallen lassen konnte. Sie dagegen war noch immer maskiert, trug selbst hier in der Kutsche einen schwarzen Schleier, der nicht nur ihr Gesicht verhüllte, sondern dem Treffen auch etwas Geheimnisvolles gab. Ihre Schwäche für das Dramatische würde ihnen eines Tages noch zum Verhängnis werden.
„Zwei Musketiere waren bei mir. Sie waren äusserst misstrauisch.“
„Haben sie Fragen gestellt?“
„Ja. Und es waren gute Fragen. Sie glauben nicht, dass dieser Schwachkopf Dupont sich selbst umgebracht hat.“
Sie schnalzte wütend mit der Zunge. „Womit sie ja auch Recht haben. Verflucht, sie sind uns zu nahe auf den Fersen.“
Er nickte grimmig. Dieser Athos war ein durchtriebener und sehr kluger Mann. Er hatte ihn ganz schön in die Ecke gedrängt. Und er würde nicht lockerlassen. Das hatte Jacques in seinem Blick gesehen. Er war wie ein Hund, der sich festgebissen hatte. „Vielleicht sollte ich Paris verlassen. Zumindest für eine Weile."
Selbst unter dem schwarzen Schleier sah Jacques ihre Katzenaugen aufleuchten. „Und mich hier allein lassen? Kommt gar nicht in Frage. Bis jetzt konnten wir uns immer schützen. Es wird uns auch diesmal gelingen. Die Musketiere können doch nur Vermutungen anstellen. Sie haben keine Beweise.“
„Wenn sie auf mich gekommen sind, besteht die Möglichkeit, dass sie auf die Verbindung zwischen uns stossen. Und dann, meine Süsse, fliegt auch deine Tarnung auf“, gab er zu bedenken. Er widersprach ihr nur ungern, denn sie hatte ein äusserst heftiges Temperament, das so schnell und abrupt auflodern konnte, wie ein Waldbrand.
So auch jetzt. Ihre Hände schossen vor wie die Klauen eines Raubvogels und griffen nach den seinen. Ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die empfindsame Haut, dennoch kam kein Laut des Schmerzens über seine Lippen. Es war gefährlich, vor ihr, Schwäche zu zeigen. „Meine Tarnung wird nicht auffliegen, mein Lieber. Glaub mir, ich habe alle Fäden in der Hand. Meine Marionetten tanzen noch immer nach meinem Lied. Und meine Lieblingspuppe ist mir noch immer hörig.“
Behutsam löste er die Hand aus ihrem Griff. „Ich wollte dich nur daran mahnen, vorsichtig zu sein. Ich kenne deinen Hang zu Übermut.“
„Ich weiss, was ich zu tun habe. Ich werde nicht versagen. Wir werden nicht versagen.“ Ihre Stimme klang nun wieder warm und zärtlich, wie ein schnurrendes Kätzchen. Kein Wunder waren die Männer hinter ihr her. Wenn sie schon ihn, ihren Bruder mit solcher Leichtigkeit um den Finger wickeln konnte, wie mochte es dann Männern gehen, die sich von ihr Zuneigung und Liebe erhofften? Ihre Schönheit war ihre stärkste Waffe und die setzte sie gekonnt ein.
„Wäre es nicht einfacher, die Musketiere einfach…verschwinden zu lassen?“, schlug er schliesslich vor. Er empfand nicht das leiseste Bedauern bei dem Gedanken, einen Menschen zu töten. Mitgefühl und Skrupel, das waren die ersten Gefühle, die man bei ihrem Geschäft verlernte.
Sie legte den Kopf schräg. „Das wäre äusserst unüberlegt. Hauptmann Tréville würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn wir noch einen seiner geliebten Männer töten würden. Und Tréville hat das Ohr des Königs. Nein, wir verfahren genau auf die Weise, wie wir es geplant haben.“
Ihr Ton signalisierte deutlich, dass sie sich auf keine weitere Diskussion mehr einlassen würde. Seufzend ergab er sich seinem Schicksal und gab ihr, als Zeichen seiner Zustimmung, einen Handkuss. Dennoch konnte er das ungute Gefühl in seiner Magengegend nicht verdrängen. Die lauernden, stechend blauen Augen des Musketiers Athos‘ wollten ihm nicht aus dem Kopf.
Vielleicht bildete er es sich ja nur ein, aber er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er seiner persönlichen Nemesis begegnet war.
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Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wühlte Athos in den Schubladen eines fremden Mannes. Als er sich für den Dienst als Musketier gemeldet hatte, hatte Tréville diesen Aspekt seiner Pflichten vergessen zu erwähnen, dachte Athos grimmig, während er sich durch eine beachtliche Anzahl von schmutzigen Soutanen kämpfte. Auch wenn es ziemlich unwahrscheinlich war, dass Jacques seine finsteren Pläne in seiner Wäsche versteckte, er wollte alles durchsuchen.
Jacques schien ein Sammler zu sein. Das hübsche Haus war mit allem möglichen vollgestopft. Allein mit den Kerzenständern hätte man eine ganze Stadt erleuchten können, dazu kamen die dazu passenden Kerzen in allen Formen und Grössen. Dazu kamen noch aus Holz geschnitzte Heiligenfiguren, die allerdings so grob und dilettantisch wirkten, dass Athos vermutete, dass Jacques selbst Hand angelegt hatte. Dazu kam noch eine respektable Sammlung an verschiedenen Bibelausgaben, nicht weiter erstaunlich für einen Priester. Da waren die vielen Wein – und Schnapsflaschen schon irritierender. Probeweise nahm Athos aus einer bauchigen Flasche einen Schluck und verzog das Gesicht. Ganz schön stark. Bestimmt nicht als Messwein geeignet.
D’Artagnan war unterdessen damit beschäftig, das reich bestückte Bücherregal genauer zu untersuchen. Nachdenklich zog er Buch um Buch heraus und blätterte in rasender Geschwindigkeit durch die Seiten, wohl in der halbherzigen Erwartung, dass irgendwo ein verräterischer Zettel stecken könnte. Schliesslich hob er stirnrunzelnd den Kopf. „Ist es eigentlich normal, wenn ein französischer Priester lauter englische Bücher besitzt?“
„Englisch sprechen und lesen zu können ist kein Verbrechen, d’Artagnan.“
„Das weiss ich, aber ich finde es trotzdem seltsam.“
„Es wundert mich ehrlich gesagt, dass du Englisch kannst, Bauernjunge.“
Es war nicht so, dass Athos d’Artagnan wirklich für seine niedrige Herkunft verachtete. Auch wenn er sich eingestehen musste, dass er manchmal dazu neigte, Menschen nach ihrem Stammbaum zu bewerten, hatte d’Artagnan ihm schon hundertfach bewiesen, das in seiner Brust das Herz eines Löwen schlug. Dennoch konnte er es nicht lassen, den am Hof noch immer reichlich unbeholfen und linkisch auftretenden d’Artagnan mit seiner schlechten Bildung aufzuziehen.
Doch d’Artagnan reagierte überraschend würdevoll. „Ich habe nicht gesagt, dass ich es lesen kann, aber ich erkenne einen Engländer, wenn ich einen vor mir habe. Selbst wenn es sich nur um einen englischen Satz handelt.“
„Gut gekontert“, lobte Athos. Er schlenderte zu einem Schrank, der aussah, als hätte er auch schon bessere Zeiten gesehen. Als Athos jedoch daran rüttelte, erwies sie sich als erstaunlich widerstandsfähig.
D’Artagnans Pfiff liess ihn herumfahren. Da er sich von den Büchern offenbar nichts mehr erhoffte, hatte er sich dem Bett zugewandt. Und war offenbar fündig geworden. In seiner Hand hielt er einen filigran gearbeiteten Degen, dessen tödlicher Zweck trotz seiner Schönheit unverkennbar war.
„Wo hast du denn dieses hübsche Stück gefunden?“
„Unter dem Strohsack, auf dem unser bescheidener Priester sein Haupt bettet.“ D’Artagnan schwang den Degen prüfend durch die Luft. „Eine gute Waffe.“
Athos rief sich noch einmal Jacques‘ Gestalt vor Augen. Da war etwas in seiner Körperhaltung und seinem Gang gewesen, das sogar nicht in das Bild des braven Priesters passen wollte. Die katzenhafte Anmut eines Mannes, der es gewohnt war zu marschieren, zu kämpfen und seinen Körper zu stählen. Ein Soldat. „Nur weil er ein Priester ist, heisst das nicht, dass er kein Genussmensch sein kann. Denk an Aramis“, gab er dennoch zu bedenken und wandte sich wieder dem störrischen Schrank zu. Mit einem heftigen Ruck gelang es ihm endlich die verklemmte Tür zu öffnen.
Eine Wolke von Staub schlug ihm entgegen und er konnte gerade noch zur Seite springen, sonst wäre er unter einer Lawine von Messgewändern begraben worden. Athos schob den Stoffhaufen mit seinem Fuss weg – hoffentlich war Gott nicht kleinlich was die Kleidung seiner Bediensteten anging – und nahm den Schrank dann genauer in Augenschein. Zuerst dachte er, abgesehen von den Kleidern, sei dieser leer. Dann bemerkte er jedoch die kleine Kiste, die in der hinteren Ecke beinahe verschwand.
Neugierig zog Athos sie hervor. Es war eine schön gearbeitete Kiste, die ihn an die erinnerte, die er in der Kindheit besessen hatte. Er und sein kleiner Bruder Thomas hatten darin solche Schätze wie schön geschliffene Steine, Vogelfedern und gestohlene Haarbänder ihrer Mutter aufbewahrt. Jacques schien für diese Kiste einen ähnlichen Verwendungszweck gefunden zu haben, denn als Athos sie öffnete, erblickte er als erstes ein Bündel Briefe um die ein Medaillon geschlungen war.
Athos löste das Medaillon von den Briefen und öffnete es neugierig. Es enthielt eine rote Haarlocke, zusammengehalten von einer blauen Schleife. Hatte der brave Priester etwa nicht nur einen Degen, sondern auch eine Geliebte? Dass allein war allerdings noch kein Verbrechen, allerdings eine interessante Kleinigkeit.
Er klappte das Medaillon wieder zu und legte es zur Seite, dann machte er sich daran, das Bündel Briefe auseinander zu falten. Doch die Buchstaben, die sich über die Seiten drängten, machten keinen Sinn, es schien nur undeutliches Gewirr von Kinderhand zu sein. Aber wieso sollte jemand so etwas aufbewahren? Mit gerunzelter Stirn glitt Athos‘ Blick immer wieder über die Zeilen….Dann lächelte er. Eine Geheimschrift. Wäre doch gelacht, wenn er diese nicht entschlüsseln könnte.
Ohne die Spur eines schlechten Gewissens steckte Athos die Briefe ein. Natürlich war es heikel irgendetwas mitlaufen zu lassen. Dass Jacques sie so sorgfältig verborgen hatte, deutete darauf hin, dass sie wichtig waren, was die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass er auch den Verlust bemerken würde. Und mit der zerbrochenen Fensterscheibe würde er auch den Schluss ziehen, dass die Diebe die Briefe eingesteckt hatten. Aber Athos wollte die Briefe. Vielleicht lag in ihnen der Schlüssel zu den Rätseln, die den Priester umgab.
Athos packte das Medaillon in die Kiste und schob diese zurück in die Ecke. Auch die Messgewänder stopfte er wieder in den Schrank, dann knallte er die Türen hastig zu, bevor ihm die ganze weisse Pracht wieder entgegenstürzte.
„Hast du noch was gefunden?“, fragte er d’Artagnan, der nur mässig begeistert dabei war eine Kommode zu durchwühlen.
„Nichts, absolut nichts“, seufzte d’Artagnan und schloss geräuschvoll die Schublade.
„Ich dafür. Lass uns lieber verschwinden, bevor unser feiner Herr Priester zurückkommt.“
„Was hast du denn entdeckt?“ Wenn es etwas gab, das noch grösser war als d’Artagnans Appetit schlug, dann war es die brennende Neugier dieses Jungen.
„Ein paar hübsche Liebesbriefe, die wir uns näher ansehen sollten. Und jetzt sollten wir unsere süssen Hintern hier rausbewegen.“
Athos marschierte entschlossen zum Fenster, um auf demselben Weg wieder rauszukommen, wie er reingekommen war. Als er jedoch das Bein durch das zersplitterte Fenster schieben wollte, hörte er plötzlich ein sanftes Rauschen, dann spürte er wie etwas Kühles, Weiches seine Wange streifte und dann sah er plötzlich in das Gesicht des Leibhaftigen. Spitze, kleine Zähne, in einem zu einem grauenhaften Fauchen geöffneten Mund, bösartig glitzernde Augen…und es hing direkt in seinem Gesicht! Athos konnte nichts anders, er stiess einen gellenden Schrei aus. „Ein Geist!“, kreischte er. Hätte er d’Artagnans Warnungen nur ernster genommen! Jetzt rächte es sich, dass er das Übernatürliche stets als unmöglich abgetan hatte! Ein Teufelsgeist war erschienen, um sich an ihm zu rächen! Ermattet schloss er die Augen. Er wollte dieser Fratze nicht länger ins Gesicht sehen, da starb er lieber in Dunkelheit!
Glücklicherweise war er nicht alleine, d’Artagnan eilte schon zu seiner Rettung. „Hab ich dich, du gemeines Biest! Wie kannst du es wagen, meinen tapferen Freund hier anzugreifen?“ d’Artagnans theatralischer Tonfall weckte Athos‘ Misstrauen. So redete der junge Musketier eigentlich nur, wenn ein weibliches Wesen in der Nähe war oder wenn er gerade in ironischer Stimmung war. Jetzt tippte Athos auf Letzteres, allerdings hielt er es für einen äusserst unpassenden Augenblick für ironische Bemerkungen, immerhin versuchte gerade ein Geist sein Gesicht zu essen.
„Athos? Du kannst die Augen wieder aufmachen.“
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: d’Artagnan war keineswegs besorgt, er amüsierte sich köstlich. Also schlug Athos widerstrebend die Augen wieder auf und sah direkt in das breitgrinsende Gesicht d’Artagnans. Und zwischen seinen beiden Handflächen hielt er ein possierliches Tierchen, das mit scheuen Knopfaugen um sich blickte. Es sah keineswegs mehr beängstigend aus, eher…niedlich.
„Das, mein lieber Athos, ist wirklich ein extrem seltenes und sehr gemeines Exemplar eines Hausgespenstes: Bei uns in der Provinz nennen wir es allerdings einfach: Fledermaus.“
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