Wem die Stunde schlägt von LadyAramis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 10 BewertungenKapitel Lügen haben schöne Beine
Kapitel 6
Lügner haben schöne Beine
„Ellen lügt.“ Mit diesen Worten schlug Porthos die Tür von Trévilles Arbeitszimmer zu. Der Luftzug der Türe liess die Blätter auf dem Tisch rascheln und einige davon zu Boden flattern. Doch Tréville schien zu erschöpft um sich darüber zu ärgern. Er bückte sich lediglich, hob sie auf und warf sie dann achtlos auf ihren Platz zurück, bevor er seinen Hut und Degen ebenso lieblos in die Ecke pfefferte.
Athos wusste, es war kein gutes Zeichen, wenn der Captain sich so offensichtlich gehen liess. Aber es war ein langer Tag gewesen und er hatte ihnen allen an den Kräften gezerrt. Aramis war vorläufig gerettet, aber jede Stunde die ihr Freund im Kerker verbringen musste, war eine Stunde zu viel. Und draussen sah man bereits wieder das Abendrot hereinbrechen.
„Wir müssen sie dazu bringen die Wahrheit zu sagen“, grollte Porthos und er wäre wohl gleich aus dem Zimmer gestürmt, wenn Athos ihn nicht noch rechtzeitig am Ärmel gepackt hätte. Dank diesem Kunststück kugelte er sich beinahe die Schulter aus, denn Porthos zurückzuhalten hatte immer etwas von einem Kampf mit einem Stier.
„D’Artagnan und ich werden das übernehmen“, bestimmte Athos und erwiderte den zornblitzenden Blick seines Freundes ruhig.
„Und wieso übernehmt ihr das?“, giftete Porthos, die Hände in die Hüfte gestemmt.
„Weil wir ihr nicht gleich eine reinhauen werden, wenn sie vor uns steht und man grundsätzlich besser aussagen kann, wenn man in Besitz aller seiner Zähne ist“, übernahm d’Artagnan die Erklärung. Besser hätte man es auch gar nicht auf den Punkt bringen können, wie auch Tréville mit heftigen Nicken bestätigte.
Porthos öffnete den Mund um zu widersprechen, schloss ihn dann aber wieder. Seinem mürrischen Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er sich nur widerwillig fügte. „Ich will ihm nur helfen“, seufzte Porthos schwer, nahm den Hut ab und löste sein Kopftuch. Ohne diesen piratenhaft anmutenden Schmuck wirkte er auf einmal furchtbar müde und mutlos, ein Anblick, der Athos ins Herz traf. Porthos war nie entkräftet, er war immer voller Energie und Tatendrang.
„Porthos, du solltest versuchen den Abend zu geniessen. Du hast getan, was du konntest. Geh zu deiner Liebsten und lass dich von ihr verwöhnen“, riet Athos.
„Sag mal Athos, bist du verrückt? Mein Freund sitzt krank in einer Zelle und ich soll mich vergnügen?“, fragte Porthos, wobei er jedes Wort in die Länge zog um seinen Zorn Ausdruck zu verleihen.
„Klingt nach etwas, was Aramis vorschlagen würde“, sagte d’Artagnan mit einem feinen, ironischen Lächeln. Seine Bemerkung entlockte allen drei Musketieren ein Lachen. Ja, das wäre wohl tatsächlich Aramis‘ Methode mit einer solchen Situation umzugehen: Sich neben einer hübschen Frau ins Bett legen und sie nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Oder er würde weise Bibelverse rezitieren, je nachdem ob er gerade in frommer oder liebestoller Stimmung war.
Gott, es schmerzte so, dass Aramis nicht bei ihnen sein konnte.
Tréville riss Athos aus seiner düsteren Stimmung, indem er mit den Fingerknöcheln auf seinen Schreibtisch klopfte. „Nun, meine Herren, wir verbringen den Abend folgendermassen: Athos und d’Artagnan werden die reizende Ellen besuchen, ich werde die Gaststätte ‚Zur Fröhlichen Gans‘ aufsuchen, um noch einmal mit dem Wirt zu sprechen und Porthos wird das Andenken seines Freundes ehren, indem er dessen liebster Beschäftigung frönt.“
Es war humoristisch gemeint, doch Porthos Gesicht wurde mit einem Schlag wieder todernst. „Sprecht nicht von Andenken. Ich muss mir kein Andenken von Aramis bewahren, denn er ist nicht tot. Er wird leben bis wir beide alt und grau sind und uns sogar zum Gang auf dem Abtritt gegenseitig stützen müssen!“
Athos war sich nicht sicher, ob das ein Versprechen oder eine Drohung war.
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Tréville kannte das Gasthaus „Die fröhliche Gans“ nicht. Er vermied es bewusst, dieselben Spelunken wie seine Soldaten aufzusuchen. Es gab Dinge, die wollte er nicht wissen und was seine Musketiere in der Nacht taten gehörte gewiss dazu. Dennoch hatte er eine bestimmte Vorstellung von der Kneipe, die seine Männer anzog wie die Motten des Lichts; und weil er deren zweifelhaften Geschmack kannte, stellte er sich ein schmutziges, heruntergekommenes Gebäude mit vor Staub blinden Fenstern und Huren vor der Türen vor.
Deshalb musste er zweimal blinzeln, als er vor der Gaststube stand. Das Schild, das über dem Eingang prangte war auffallend bemalt mit einer rosafarbenen Gans, die eine quietschblaue Schleife um den Kopf gebunden trug. Die Schrift war knallrot und so verschnörkelt, dass sie kaum zu lesen war. Aber auch ansonsten hatte man sich farblich ausgetobt. Die geblümten Vorhänge strahlten in einem satten Gelb und wirkten fürchterlich unpassend zu dem wuchtigen Gebäude, das mit grässlichen Wasserspeiern in Form von Engeln verziert war. Oder zumindest nahm Tréville an, dass die geflügelten, dickbäuchigen Babys Engel darstellen sollten. Die Fassade war wohl ursprünglich kunstvoll mit einer riesigen Gans bemalt gewesen, doch die Jahre hatten die Farbe abblättern lassen und den Vogel verblassen lassen, der, wenn Tréville richtig sah, ebenfalls eine dieser fürchterlichen Schleifen trug, allerdings in rosa. Dieses Haus wirkte bunt und zusammengewürfelt, so als hätte sich ein Maler nicht richtig entscheiden können, welchen Stil er ausprobieren sollte und einfach alles schnell hingekleckst.
Doch trotz des ungewöhnlichen Äusserem: Als Tréville das Gasthaus betrat, musste er sich beinahe mit Gewalt den Weg zum Tresen bahnen, denn es war rappelvoll und das, obwohl die Inneneinrichtung ebenfalls sehr gewöhnungsbedürftig war. Es gab rote Sofas, die eher in das Boudoir einer Dame gepasst hätten, als in einen Gasthof, überall auf den Tischen standen goldene Kerzenständer, an den Wänden hingen Bilder von schönen Damen und Herren und als Tréville den Kopf in den Nacken legte, erblickte er einen Kronleuchter, der so schief hing, als würde er jeden Moment herunterkrachen. Die Schankmädchen hatten weiss geschminkte Gesichter, aufgemalte Schönheitsflecken und aufgetürmte Frisuren; sie bewegten sich geziert und anmutig, als seien sie Prinzessinnen. Der Raum war erfüllt von Lachen, Gesprächen und Geschrei; eine bunte Ansammlung von Leben. Nun verstand Tréville, wieso Athos einmal gesagt hatte, er begleite Aramis grundsätzlich nur an dessen Geburtstag in die „Glückliche Gans“. Allein die Vorstellung des immer ernsten Musketiers, umgeben von diesen überdrehten Menschen, reizte ihn schon zum Lachen.
Zum Lachen reizte ihn dann auch die Gestalt des Wirtes, der hinter dem Tresen stand. Seine Kleidung war mehr als zusammengewürfelt, so trug er einen grossen, ausladenden Hut mit einer riesigen Pfauenfeder, die bei jedem Schritt neckisch auf und ab wippte, dazu einen roten Mantel, der ihn bis zu den Knie ging und mit goldenen Stickereien verziert war. Um den Hals hatte er sich einen türkisfarbenen Seidenschal geschlungen, der fast dieselbe Länge hatte, wie der Mantel. Er hatte blondes Haar, das ihn in mädchenhaften Ringellocken auf die Schultern fiel und einen feinen Schnurrbart, so perfekt gestutzt, das jeder Höfling hätte neidisch werden können. Obwohl umgeben von Bier und Rauch roch der Mann, als sei er gerade in einen Rosenstrauch gefallen.
Als er Tréville erblickte, breitete sich ein sonniges Lächeln auf seinem rundlichen Gesicht aus. „Was kann ich für Euch tun, mein lieber Captain!“, flötete er. Er hatte eine hohe, gezierte Stimme, die eher zu einer Dame, als zu einem Herren gepasst hätte.
Tréville konnte seine Verblüffung nicht ganz verbergen. „Ihr kennt mich?“
Der Wirt zog einen Schmollmund. „Oh, mon chéri, ich verbringe einen Grossteil meiner Zeit damit, die Kotze Eurer Männer wegzuwischen!“, rief er aus. Dann schenkte er Tréville einen fast schon neckischen Augenaufschlag. „Und ständig erzählen sie mir von ihrem tapferen Captain, den grossen Monsieur Tréville. Ich muss sagen, Euer Antlitz lässt mich glauben, dass all diese Geschichten sogar noch untertrieben waren.“
Tréville beschloss, auf dieses schamlose Gebaren nicht einzugehen. Er wusste, es gab Männer, die andere Männer liebten, aber für ihn war dies nicht nur unnatürlich, sondern widersprach auch Gottes Wort und er wollte nichts damit zu tun haben. Ohnehin fand er, dass ein zu ausschweifendes Liebesleben nur Probleme bereitete und fühlte sich durch die immer neuen Liebestragödien seiner Männer auch stets bestätigt.
„Und mit wem habe ich das Vergnügen?“, erkundigte sich Tréville betont kühl.
Elegant lüftete der Mann seinen Hut. „Monsieur Lefèvre, zu Ihren Diensten! Aber natürlich könnt Ihr mich auch getrost, Pierre nennen.“
Tréville ignorierte das unverschämte Angebot. „In Eurem Hinterhof ist ein Mann getötet worden.“
Monsieur Lefèvre verzog das Gesicht. „Das werde ich wohl nicht so schnell vergessen. Diese schrecklichen roten Gardisten, die sich alle plötzlich so brennend für meinen Laden interessierten! Und Ihr wisst ja was passiert, wenn Rote Gardisten und Musketiere aufeinandertreffen. Ich musste einen ganzen Tag lang schliessen, um die Sauerei wieder wegzumachen.“ In einer dramatischen Geste fasste er sich an den Kopf, gerade so, als führe schon die Erinnerung zu einem Schwächeanfall.
„Kanntet Ihr den Toten?“
Lefèvre schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Leider nicht wirklich. Ich weiss, dass er Francis hiess, ein Musketier war, ein mehr als angenehmes Äusseres hatte und gerne meinem Wein zusprach. Und leider meine Mädchen mehr mochte als mich.“ Bei den letzten Worten warf er einem Schankmädchen eine Kusshand zu.
„Francis war aber verlobt.“
Theatralisch griff Lefèvre sich ans Herz. „Er war verlobt? Und er hat trotzdem andere Frauen auf seinen Schoss gezogen? Ich bin empört! Entsetzt! Dass es so etwas gibt!“
„Seine Verlobte war aber nie hier?“
„Frauen kommen eher selten in mein bescheidenes Haus. Nein, Francis war immer mit Aramis hier. Ihr wisst schon: Dieser Musketier mit den dunklen Haaren und den feurigen Augen.“ Ein träumerischer Ausdruck glitt über Lefèvres Gesicht.
Tréville räusperte sich entnervt. „Ich weiss, wie meine Männer aussehen“, blaffte er. Sobald das alles hier vorbei war, würde er Aramis dafür bezahlen lassen, dass er sich seinetwegen mit diesen süsslichen Kerl unterhalten musste.
Eine fein gezupfte Augenbraue wanderte in die Höhe. „Aber wisst Ihr es auch zu schätzen?“
Der ohnehin schon arg lädierte Geduldsfaden von Tréville riss endgültig. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. „Ich führe ein Regiment und kein Bordell. Und ich bin nicht zu meinen Vergnügen hier, sondern um herauszufinden, wer meinen Musketier ermordet hat“, bellte er.
Lefèvre riss erschrocken die blauen Augen auf. „Mon chéri, ich wollte Euch nicht ärgern! Und natürlich liegt auch mir daran, herauszufinden wer den armen Francis ermordet hat. Nur leider, kann ich Euch nicht wirklich helfen. An dem Abend, als es passiert ist, meinte einer meiner Gäste, er müsste sich an den Kronleuchter hängen. Mit äusserst unangenehmen Konsequenzen.“
„Also habt Ihr nichts gesehen und nichts gehört“, resümierte Tréville gereizt.
„Das habe ich nicht gesagt. Sehen und hören tu ich hier immer viel, aber da Ihr mir ja etwas verklemmt scheint, will ich Euch nicht mit diesen Dingen behelligen.“ Sein Lächeln war spitzbübisch und verriet, das hinter dieser lächerlichen Aufmachung tatsächlich so etwas wie Ironie und Intelligenz steckte und beinahe widerwillig musste Tréville zurücklächeln.
„Aramis ist des Mordes an Francis angeklagt.“
Das tat die gewünschte Wirkung. Auf einmal wirkte Lefèvre ehrlich betroffen. „Auf so einen lächerlichen Gedanken können nur Rote Gardisten kommen. Aramis würde doch Francis nie etwas antun. Die beiden waren ein Herz und eine Seele!“
Tréville beugte sich vor. „Ich weiss das, Ihr wisst das. Aber das nützt nichts. Ich muss es beweisen können. Ich habe einen meiner Männer verloren. Ich werde nicht noch einen zweiten verlieren.“
Lefèvre strich sich mit einem Seufzen das Haar hinter die Schultern. „Das ist ja alles so grauenhaft. Ich werde heute Nacht nicht schlafen können. Aber vielleicht kann ich Euch tatsächlich helfen.“ Graziös tänzelte er hinter dem Tresen hervor und verschwand so schnell zwischen seinen Gästen, dass er beinahe versucht war, an Zauberei zu glauben. Genauso schnell tauchte er wieder auf und zog einen Mann mit sich.
Dieser war rein äusserlich das Gegenteil von Lefèvre. Schlank, hochgewachsen, mit strengen Gesichtszügen, ganz in schwarz gekleidet, mit sorgfältig gestutzten Haaren und Bart, der Gang steif und stolz. Er reichte Tréville höflich die Hand. „Monsieur Dupont, zu ihrem Diensten.“
„Robert war an besagten Abend mit Aramis und Francis zusammen“, erläuterte Lefèvre.
Dupont nickte ernst. „Ich hoffe, ich kann Aramis helfen.“
Tréville jubelte innerlich. Endlich, eine Spur! Er nickte Lefèvre dankbar zu, der beflissen lächelte und dann davoneilte, um einen Streit zwischen zwei Männern zu schlichten, die gerade dazu übergingen sich die Gläser gegenseitig auf den Schädel zu hauen.
„Ihr wisst, was an jenem Abend geschehen ist?“, fragte Tréville.
„Ich muss Euch enttäuschen, Captain. Ich weiss nicht, was auf dem Hinterhof passiert ist. Da hatte ich den Gasthof schon längst verlassen. Aber ich sass an dem Abend mit Aramis und Francis zusammen und ich weiss: Die zwei hatten keinen Händel miteinander.“
Ein pures Glücksgefühl durchströmte Tréville und am liebsten hätte er den Mann geküsst. „Francis‘ Verlobte behauptet, sie und Aramis hätten ein amouröses Verhältnis gepflegt. Sie hätte es beendet und Aramis wäre wütend geworden.“
Dupont schüttelte ungläubig den Kopf. „Ellen behauptet das?“
„Sie hat es vor Gericht ausgesagt und damit Aramis schwer belastet. Er sitzt im Kerker.“
„Das verstehe ich nicht. Aramis ist gewiss kein Kind von Traurigkeit, aber mit Ellen hat er sich nie eingelassen. Wisst Ihr, sie ist eine anstrengende Frau. Selbst Francis hat sie kaum ausgehalten und sich nur zu gerne mit anderen Frauen getröstet. Weiss der Himmel, wieso sich die zwei verlobt haben! Die grosse Liebe war das nicht mehr.“
Dieses Miststück hatte also eiskalt gelogen. Genau wie sie vermutet hatten. „Die Stimmung an dem Abend war also friedlich?“
Nun zögerte Dupont und legte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Nun ja, friedlich würde ich nicht sagen. Aramis war ausgeglichen und fröhlich wie immer, aber Francis wirkte abwesend und fahrig. Irgendwie nervös. Etwas schien ihn zu beschäftigen, doch er wollte nicht darüber reden. Deshalb bin ich dann auch schnell gegangen. Aber Aramis wollte bei ihm bleiben.“
Das klang schon weniger vielversprechend, dennoch würde Duponts Aussage Aramis entscheidend entlasten. Er konnte bestätigen, dass Aramis die Wahrheit gesprochen hatte und Ellen eine Lügnerin war. Und er wusste, dass Francis seiner Verlobten nicht immer treu gewesen war. Das deutete ganz klar auf Ellen als Täterin hin. Selbst der Kardinal konnte das nicht einfach beiseite wischen.
„Wärt Ihr bereit, diese Aussage auch vor Gericht zu wiederholen?“, drängte Tréville.
Dupont neigte das Haupt. „Ich stehe ganz zu Euren Diensten. Bestellt mich in den Palast, sobald Ihr mich braucht. Meine Wohnung liegt in der Rue de la Lune.“
Von jäher Erleichterung erfüllt trat Tréville auf Dupont zu und schüttelte ihm herzhaft die Hand. „Ich kann Euch nicht genug danken!“
„Ihr braucht mir nicht zu danken, Captain. Aramis ist mein Freund. Je schneller er aus dem Gefängnis ist, desto besser.“ Dupont lächelte noch einmal, bevor er sich an den Hut tippte und sich verabschiedete.
Und auf einmal fand Tréville das Gasthaus gar nicht mehr so schrecklich.
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D’Artagnan gab sich gar nicht erst die Mühe galant zu sein, sondern hämmerte gleich mit der Faust gegen Ellens Tür, eine Verhaltensweise, die er sich von Porthos abgeguckt hatte. Er stellte fest, dass es etwas unglaublich Befriedigendes hatte, seinen Frust an der hilflosen Haustüre auszulassen, auch wenn es ihm einen tadelnden Blick von Athos einbrachte, der noch nie viel von sinnloser Energieverschwendung gehalten hatte.
Zu seiner Verblüffung war es aber nicht Ellen, welche die Tür öffnete sondern ein beleibter Herr mit einem riesigen Schnurrbart trug, der äusserst missmutig dreinblickte und zum Nachthemd auch noch die passende Schlafmütze angezogen hatte. In der Hand hielt er einen Kerzenständer. Erst da fiel d’Artagnan ein, das Ellen ja wohl kaum alleine lebte, sondern noch bei ihren Eltern, zumindest bis sie endgültig unter der Haube war. Er hätte sich ohrfeigen können.
Schnell nahm d’Artagnan den Hut ab und bemühte sich um eine charmante Verbeugung, wobei er leider Athos auf den Fuss trat, was der ganzen Geste etwas von ihrer Galanterie nahm. „Monsieur Chopine, verzeiht die späte Störung. Wir wollten eigentlich mit Ellen sprechen.“
Das war definitiv ein ungeschickter Einstieg ins Gespräch gewesen. Monsieur Chopine kniff die Augen zusammen, während er die beiden Musketiere abschätzend von oben bis unten musterte. „Das sich die Soldaten des Königs nicht schämen sich nicht schämen, dermassen unverschämt einer Dame nachzustellen!“, giftete er.
D’Artagnan hob abwehrend die Hände. „Nichts läge mir ferner als Eurer Tochter nachzustellen…Also nicht, dass Eure Tochter nicht hübsch wäre, aber sie ist eine feine Dame und ich nur ein Musketier…obwohl ich ja gerne ein Musketier wäre, ein ganz und gar ehrenwertes Gewerbe….“ Er warf einen hilfesuchenden Blick zu Athos, der allerdings nur grinsend die Arme verschränkt hatte und die Szene sichtlich genoss. Schöner Freund.
Monsieur Chopine stemmte die freie Hand in die rundliche Hüfte. „Meine Tochter hat mich gewarnt, dass Ihr kommen werdet! Dass Ihr sie mit Euren widerlichen Angeboten bedrängt und dass Ihr jedem Rock nachläuft.“
„Also, es ist ja wohl leicht übertrieben zu sagen, dass ich jedem Rock hinterherjage…Moment, was soll das heissen, widerliche Angebote?“ d’Artagnan war verwirrt. Er und Athos trugen Uniform, sie hatten saubere Gesichter, gestutzte Bärte und sahen weder aus wie Schürzenjäger, noch wie Strassenräuber. Dieses ablehnende Verhalten war ungewöhnlich.
Monsieur Chopine stiess ihn den Zeigefinger hart in die Brust. „Sie hat mir alles erzählt!“
Athos trat einen Schritt vor. „Wie schön. Dann erzählt uns doch, was sie euch erzählt hat, damit wir alle wissen worum es geht.“
D’Artagnan bewunderte Athos dafür, dass er alleine mit seiner Ausstrahlung, Menschen für sich einnehmen und einschüchtern konnte. Doch seine Aura schien sich nicht auf zornige Väter erstrecken, denn obwohl Athos ihn um Haupteslänge überragte, betrachtete Chopine ihn, als sei er ein Schuljunge. „Ihr seid ein lüsterner, alter Bock, der die Finger nicht von meinem Mädchen lassen kann! Sie hat mir alles erzählt! Dass Ihr unter den Musketieren gewettet habt, wer sie schneller ins Bett kriegt und sie seitdem alle verfolgt, wie ein Jagdhund seine Beute!“
Athos schnaubte abschätzig. „Keiner von uns Musketieren würde sich mit Eurer Tochter einlassen, Monsieur, da müsst Ihr Euch keine Sorgen machen.“
„Was soll denn das heissen? Das meine Tochter nicht gut genug für Euch ist?“ Monsieur Chopine holte mit den Kerzenständer aus, doch Athos war geistesgegengewärtig genug auszuweichen.
D’Artagnan gelangte zu der Einsicht, dass Chopine alles missverstehen würde, dass Athos und er vorbrachten. Offensichtlich hatte Ellen geahnt, dass die Musketiere nachforschen würden und sie hatte mit ihren Lügen dafür gesorgt, dass ihre Eltern ihr den Rücken deckten. Wenn er dieses intrigante Biest in die Finger bekäme! Aber was sie konnte, konnte er schon lange.
In einer schwungvollen Bewegung griff d’Artagnan nach Chopines Hand. „Oh Monsieur Chopine, Ihr habt ja so Recht! Wir sind untröstlich!“
„Ach, sind wir das?“, fragte Athos ungläubig, doch d’Artagnan ignorierte seinen Einwurf einfach und fuhr unbeirrt mit seiner Komödie fort. „Ja, es war schlecht von uns diese unsägliche Wette anzunehmen, aber es sollte nicht mehr sein als ein Scherz.“
„Ein Scherz auf Kosten der Ehre meiner Tochter“, brummte Chopine, aber d’Artagnan konnte spüren, dass er ihn schon etwas beschwichtigt hatte.
„Ja, es war wahrlich ein übler Gedanke. Die Schönheit Eurer Tochter hat unseren Geist benebelt. Sie ist eine begehrenswerte Frau, klug, intelligent, sinnlich und warmherzig. Jeder würde sich wünschen, sie sein Weib nennen zu können. Aber nun haben wir die Wette abgebrochen und wollten Ellen um Vergebung bitten, damit unsere gepeinigten Seelen Erlösung finden können.“
Es funktionierte. D’Artagnans Lobrede auf Ellens Qualitäten, liess Chopine vor Stolz ganz rot werden und seine Stimme klang schon freundlicher als er erwiderte: „Nun, dies ist ein nobles Ansinnen. Aber Ellen ist leider nicht hier.“
„Wo ist sie denn?“, fragte Athos in seiner üblichen, kurzangebundenen Art und ohne auf d’Artagnans blumige Sprechweise einzugehen.
„Sie hat sich zu ihrem Verlobten zurückgezogen.“
„Ihren Verlobten?“, fragten die Musketiere wie aus einem Mund.
Chopine missverstand ihren ungläubigen Tonfall und wurde ein wenig nervös. „Ich weiss ja, dass es sich nicht geziemt für eine Dame vor ihrer Hochzeit bei einem Mann zu nächtigen, aber sie sind ja verlobt und halten gewiss alle Regeln des Anstands ein. Das Mädchen war so verzweifelt.“
Verzweifelt war d’Artagnan auch. War Chopine übergeschnappt? Ellen konnte gar nicht bei ihren Verlobten sein! „Es wäre uns aber ein Anliegen, uns so schnell wie möglich bei Ihr zu entschuldigen. Könnt Ihr uns sagen, wo dieser Verlobte wohnt?“
„Damit Ihr ihr weiter nachstellt? Kommt nicht in Frage. Ich werde Ihr Nachricht senden, dass sie getrost zu uns zurückkehren kann. Gute Nacht, meine Herren!“
„Gute Nacht Monsieur Chopine“, verabschiedete sich d’Artagnan freundlich und lächelte auf seiner charmanteste Art, bis die Tür wieder ins Schloss gefallen war.
Dann fuhr er zu Athos herum. „Wie kann das sein? Ihr Verlobter ist tot! Hat sie sich vielleicht zu ihm ins Leichenschauhaus gelegt oder was?“
„Sei nicht albern. Es heisst einfach, dass unsere unschuldige Mademoiselle Ellen ein Geheimnis hütet. Und ich bin schon sehr gespannt darauf, es zu lüften.“
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Porthos konnte an nichts anderes denken, als an Aramis‘ erschöpftes Gesicht und seine leise Stimme. Er konnte an nichts anderes denken, als an den Blick aus seinen dunklen Augen, als sie ihn wieder fortgeschleppt hatten. Und das schlechte Gewissen nagte an ihm, weil er hier auf seine Geliebte wartete, während sein Freund krank im Kerker sass. Aber was hätte er tun sollen? Was konnte er für ihn tun? Porthos wünschte sich sehnlichst, er könnte einfach den Degen ziehen, das Gefängnis stürmen und Aramis da rausholen. Und dann, flüsterte eine Stimme in ihm, was dann? Ein Leben auf der Flucht, gejagt von ihrem eigenen Land, als Geächtete behandelt? Es würde sie beide ins Unglück stürzen.
Die Wut in ihm loderte erneut auf. Aramis brauchte ihn. Und er konnte nichts tun, absolut nichts um ihn zu helfen. Mit einem Schrei liess er die Faust gegen den Baumstamm krachen, in der Hoffnung sich danach etwas besser zu fühlen. Doch alles was er erreichte war, dass seine Hand schmerzte.
Warme Arme schlangen sich um ihn. „Hab ich dir etwas getan, dass du unseren Baum so misshandelst oder hältst du das für männlich und stark?“
Er drehte sich um und sah direkt in Adelinas lächelndes Gesicht. Sie trug eine Kapuze, wie üblich wenn sie sich heimlich aus dem Palast stahl, um sich mit ihm hier zu treffen. Vor Monaten waren sie sich hier zum ersten Mal begegnet, damals im Herbst als Adelina von ihrem Pferd gestürzt war und er ihr geholfen hatte. Seitdem arrangierten sie ihre heimlichen Treffen gerne hier, weil ihnen der Wald vorkam wie ein magischer Ort. Und Porthos lief hier wenigstens nicht in Gefahr in Frauenkleidern rumrennen zu müssen.
Als Adelina ihre Kapuze in den Nacken schlug, sog Porthos ihren Anblick in sich auf. Ihr leicht schräges Lächeln, die feinen Sommersprossen auf ihrer kleinen, zierlichen Nase, die schwarzen Augen, die geschwungenen Augenbrauen. Sie hatte ihre roten Locken im Nacken zu einem Knoten geschlungen, doch einige widerspenstige Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten ihr herzförmiges Gesicht. Sie war schön, sie war witzig, sie war geistreich. Und sie war Balsam für seine Seele.
„Adelina. Ich brauche dich.“ Er schlang die Arme um sie, als sei sie das Letzte, was ihn in dieser Welt halten konnte. Und sie stellte keine Fragen, auch nicht als er ihre Kleider abstreifte und auch nicht, als er sich den seinigen entledigte und auch nicht, als er sie liebte, als sei es das letzte Mal in seinem ganzen Leben.
Später, als sie nebeneinander im Gras lagen und er mit weit aufgerissenen Augen in den mit Sternen gesprenkelten Himmel sah, legte sie die Hand auf seine Brust und fragte mit weicher Stimme: „Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“
Er wandte sein Gesicht zu ihr und fuhr mit dem Finger ihren Lippen nach. Bis jetzt war alles zwischen ihnen einfach, spielerisch und fröhlich gewesen, ohne dass persönliche Dramen ihre Beziehung berührt hätte. Doch jetzt erzählte er ihr alles. Er berichtete ihr von Aramis, der seit Jahren sein Freund war, sein treuester und bester Freund, der mit ihm gelacht, gekämpft und gelitten hatte. Sein Freund, der so voller Lebensdurst war, das er sich ständig in Schwierigkeiten brachte. Und er berichtete ihr von Francis, der erstochen worden war und dass der Kardinal glaubte, Aramis habe es getan. Er sagte ihr, wie sehr er fürchtete, dass es ihnen nicht gelang, seine Unschuld zu beweisen und dass sie ihn verlieren würden. Sie hörte ihm schweigend zu, während ihre Hand unaufhörlich durch seine Haare strich, als sei er ein Kind, das es zu beruhigen galt.
Als er geendet hatte, hauchte sie ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ihr werdet seine Unschuld beweisen.“
Er lächelte sie traurig an. „Du kennst ihn ja nicht einmal. Wie kannst du so sicher sein, dass er unschuldig ist?“
Ihre Hand schob sich in seine. „Weil er dein Freund ist. Und wenn du so eine hohe Meinung von ihm hast, kann er kein schlechter Mensch sein. Denn du, Porthos, bist der beste Mann, den ich je kennengelernt habe.“
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Anmerkung: Ja, ich gebe zu, bei der Gestaltung der Fröhlichen Gans sind die Pferde mit mir durchgegangen. Erst wollte ich ja so eine klassische Gasthausszene schreiben, ihr wisst schon: Finstere Gestalten, mürrischer Wirt, jemand spielt Klavier im Hintergrund…aber dann dachte ich: Eigentlich wäre es doch schön so eine Art Schwulenbar zu beschreiben.
Natürlich ist mir bewusst, dass Homosexualität ein schwieriges Thema ist und damals streng geahndet wurde. Allerdings war diese Zeit auch dafür bekannt, dass sie sehr ausschweifend war und die Franzosen genossen das Leben durchaus in vollen Zügen, auch in sexueller Hinsicht. Also dachte ich: Ich mach’s einfach.
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