Wem die Stunde schlägt von LadyAramis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 10 BewertungenKapitel Die Frauen der Musketiere
Kapitel 8
Die Frauen der Musketiere
Wenn Aramis sich auf etwas immer hatte verlassen können, dann war es sein unbändiger Überlebenswillen und seine Lebensfreude. Aber er konnte förmlich spüren, wie ihm beides entglitt, als er anhören musste, wie Robert ihn verriet. Ellen konnte er verschmerzen, aber Robert war sein Freund. Sicher nicht so ein enger Freund wie Athos und d’Artagnan, ganz gewiss nicht auf die Art wie Porthos. Dennoch hatte er viel mit Robert geteilt, weil dieser – im Gegensatz zu Porthos – seinen Glauben an Gott nicht nur nachvollziehen konnte, sondern ihn sogar teilte.
Und jetzt unterschrieb Robert mit seiner Aussage sein Todesurteil.
Aramis vernahm Richelieus Urteil und fühlte, wie sein Herz stehen blieb. Er liebte das Leben, schon immer hatte er es in vollen Zügen genossen und jeden Moment ausgekostet. Natürlich, er hatte dem Tod schon hundert Mal ins Auge geblickt, das blieb nun einmal nicht aus, wenn man Soldat war, aber es auf diese Art und Weise aufzugeben, als Mörder verurteilt und hingerichtet, das war ein entsetzlicher Gedanke. Er spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich.
Seine Beine wollten ihm den Dienst versagen, doch Porthos eiserner Griff um seine Hüften verhinderte, dass er zu Boden sackte. Für einen Moment fand Aramis Trost in der Umarmung seines Freundes, in Athos‘ Hand, die seine Schulter streichelte und in d’Artagnan, der in sein Ohr wisperte. „Vertrau auf uns, Aramis.“
Doch dann wurde er erbarmungslos fortgezerrt. Er hörte Portos‘ Grollen und d’Artagnans lauten Protest, beides verpuffte jedoch wirkungslos. Bevor der Gardist ihn jedoch grob aus dem Raum stiess, warf Aramis noch einmal einen Blick zurück. Er wollte nicht sterben, ohne vorher in die Gesichter jener gesehen zu haben, die für ihn alles waren. Lautlos formte er mit dem Mund Einer für alle. Und sie antworteten mit einem ebenso stummen: Und alle für einen.
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Tréville war ausser sich vor Wut und zum ersten Mal, seit langer Zeit, vergass er sich. Kaum war Aramis aus dem Zimmer geführt worden, packte er Dupont grob am Kragen und schüttelte ihn heftig. „Wieso habt Ihr das getan? Wieso stürzt Ihr Aramis ins Unglück? Warum stürzt Ihr Euren Freund ins Unglück?“
„Captain, Ihr sollet Euch kein Beispiel am flegelhaften Benehmen Eurer Männer nehmen.“ Richelieus Stimme, süss und klebrig wie Honig, drang durch Trévilles vor Zorn rauschende Ohren hindurch. Schweratmend liess er Dupont los. Wenn er ihn erwürgte, würde Richelieu gleich noch einen zweiten Musketier verhaften können und das würde dem König wohl kaum gefallen.
Richelieu glitt wie eine Schlange an Duponts Seite und legte ihm in scheinbarer Brüderlichkeit den Arm um die Schultern. „Ihr habt Recht getan, Monsieur. Ihr habt Euch rechtzeitig für die Wahrheit entschieden“, flötete er.
Tréville schnaubte. „Wahrheit. Ihr wisst ja nicht einmal, wie man das Wort schreibt, Kardinal Richelieu.“
„Immer wenn Euch etwas nicht gefällt, nennt Ihr es Lüge“, sagte Richelieu, die Augen so kalt wie Eis, die Hand immer noch in Duponts Schulter vergraben.
„Wenn Ihr Eure Spiele spielt, geht es auch äusserst selten um die Wahrheit.“
Richelieu musterte ihn mit kalter Geringschätzung und wieder kräuselte dieses überhebliche Lächeln, das Tréville so hasste, seine schmalen Lippen. „Das ist keines meiner Spiele, Tréville. Stellt Euch den Tatsachen, Captain: Aramis hat seinen Freund umgebracht. So sehr Ihr Euch auch wünscht, dass es eine von mir angezettelte Intrige ist, ich muss Euch enttäuschen.“
Richelieu klang durchaus aufrichtig und ehrlich, aber Tréville kannte niemanden, der so aalglatt lügen konnte, wie der Kardinal. Und als er zusah, wie Richelieu den Saal hocherhobenen Hauptes verliess, wobei er Dupont mit sich zerrte, war er geradezu überzeugt, dass er es diesem schleimigen Kirchenmann zu verdanken hatte, dass sein Zeuge so schlagartig seine Meinung geändert hatte.
Das nächste Problem nährte sich mit grossen Schritten. Athos baute sich drohend vor seinem Captain auf, das Gesicht wie immer eine reglose Maske, die Haltung wie immer locker und entspannt. Nur der Sturm in seinen Augen verriet seine aufgewühlte Seele. Athos griff nach Trévilles Arm, nicht gerade grob, aber nachdrücklich. „Ich dachte, der Zeuge sollte Aramis entlasten und nicht belasten“, zischte er.
Tréville befreite seinen Arm. „Mässigt Euch! Ich bin immer noch dein Hauptmann, Athos. Und stell dir einmal vor, ich habe mir das alles auch anders vorgestellt oder meint Ihr es macht mir Spass zuzusehen, wie einer meiner Musketiere zum Tod verurteilt wird?“, sagte er, eine Spur schärfer als beabsichtigt. Aber er hatte die Nase voll davon, dass jeder so tat, als hätte er diese Katastrophe absichtlich verursacht.
Ein kurzes Lächeln blühte in Athos‘ Gesicht auf und der Hauptmann wusste, es war seine Art sich entschuldigen. Mehr konnte er nicht erwarten. „Der Kardinal muss herausgefunden haben, wer Euer Zeuge ist und ihn unter Druck gesetzt haben“, sprach Athos den Verdacht aus, den auch Tréville insgeheim hegte.
„Das müssen wir beweisen. Und das werden wir“, versprach Tréville.
In Athos Augen glomm ein verzweifelter Funken auf, den der Hauptmann nur zu gut kannte. So hatte der Graf ausgesehen, als er vor Jahren um Aufnahme bei den Musketieren gebeten, wobei eher, gebettelt hatte. Bevor er Freundschaft mit Aramis und Porthos geschlossen hatte, hatte er genauso ausgesehen. Leer, ausgelaugt und voller Hass auf sich selbst. „Wir haben keine Zeit mehr. In vier Tagen ist Aramis tot.“
Tréville biss sich auf die Lippen. Er wusste, er war ein guter Hauptmann, weil er auch in der Lage war, schwierige Entscheidungen zu treffen. Zum Wohle Frankreichs stellte er nicht nur sein eigenes Wohl, sondern auch das Wohl seiner Männer in den Hintergrund. Aber er würde nicht zulassen, dass Aramis wegen einer Intrige sein Leben verlor. Und wenn er dafür seinen Rang und sein Ansehen beim König aufs Spiel setzen musste, dann würde er es tun.
„Ich erwarte Euch zusammen mit Porthos und d’Artagnan in meinem Büro“, sagte er brüsk und er wusste, dass Athos verstanden hatte, was er damit ausdrücken wollte: Wir werden nicht aufgeben.
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Porthos‘ grösste Angst war es nicht, sein eigenes Leben zu verlieren. Aufgewachsen als Waisenkind im gefährlichsten Ort von Paris, im Verbrechernest, dass der Hof der Wunder genannt wurde, hatte der Tod immer zu seinem Leben gehört und er hatte ihn akzeptiert. Aber der Gedanke daran, dass Athos und d’Artagnan zu verlieren war unerträglich, der Gedanke daran, Aramis zu verlieren schlicht unmöglich. Und jetzt wurde sein schlimmster Alptraum wahr.
Wie so oft in den letzten Tagen standen sie in Trévilles Büro. Vielleicht sollten sie gleich hier übernachten, dachte Porthos bitter. Niemand sagte ein Wort, ihnen allen steckte die grauenhafte Szene von vorhin noch in den Knochen und jeder hing seinen Gedanken nach.
Er hätte seinem Captain gerne Vorwürfe gemacht. Statt Aramis zu helfen, hatte er alles noch einmal schlimmer gemacht. Doch Tréville war so aschgrau im Gesicht, dass Porthos es einfach nicht übers Herz brachte. Er war von dieser falschen Schlage Dupont genauso verraten worden wie Aramis selbst. Wenn Porthos an das totenbleiche Gesicht seines Freundes dachte, als er sich Roberts Vorwürfe hatte anhören müssen, musste er die Zähne fest aufeinander pressen um seiner Wut Herr zu werden.
„Dupont wirkte ängstlich. Ich bin sicher er wurde bedroht.“ Athos ruhige Stimme durchbrach das Schweigen.
„Hm, dann überlegen wir mal: Wer will unbedingt, dass Aramis seinen Kopf verliert“, überlegte d’Artagnan gespielt angestrengt und legte die Stirn in Falten, „ich lehne mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und sage: Der Kardinal!“
Porthos wusste, er neigte als Musketier dazu, Richelieu an allem die Schuld zu geben, von schlechtem Wetter bis hin zu der Erbsünde. Dennoch, in diesem Fall drängte sich Richelieu als Verdächtiger geradezu auf. Er hasste die Musketiere und er hasste Aramis. Und er war ein Mann, der über ein ausgezeichnetes Spionagenetz verfügte, das ihn laufend mit Informationen fütterte. Vielleicht hatte eines seiner Vögelchen ihm auch gezwitschert, dass Dupont Aramis entlasten könnte?
„Das Problem ist nur: Wir haben Ellen, die lügt und offensichtlich etwas verbirgt. Jetzt haben wir auch noch Dupont, der bedroht wird. Es wird seine Zeit dauern, bis wir dieses ganze Geflecht aus Lügen aufgelöst zu haben. Zeit, die wir in Gottes Namen nicht mehr haben!“, fauchte Porthos.
„Ich weiss, Porthos!“ Trévilles sonst so gelassene Stimme, war laut und schneidend geworden.
„Und was sollen wir dann tun? Uns eine schöne Grabrede für Aramis ausdenken?“, fragte Athos, in einem Anflug von morbiden Humor. Es war typisch für ihn, sich in Sarkasmus zu flüchten, wenn es brenzlig wurde und oft sorgten seine unerwarteten, trockenen Kommentare selbst in den schlimmsten Situationen für Lacher, aber jetzt rang er ihnen allen nur ein müdes Lächeln ab.
„Ihr wisst, was wir tun müssen: Wir müssen Aramis erst aus dem Gefängnis holen und dann seine Unschuld beweisen.“
„Und wie wollt Ihr ihn aus dem Gefängnis holen, wenn wir nichts haben um ihn…oh.“ Mit einem Mal begriff Porthos, was sein Hauptmann sagen wollte. Er redete nicht davon, Aramis offiziell auszuholen. Er wollte genau das tun, was er ihnen sooft vorwarf: Mit dem Kopf durch die Wand und Aramis mithilfe des Degens oder zumindest mit List zu befreien. Und Porthos konnte sich nicht helfen: Wenn er sich Richelieus dummes Gesicht vorstelle, wenn er erfuhr, dass Aramis unter seiner Nase aus dem Gefängnis entkommen war, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
Athos dagegen wirkte skeptisch. „Das wäre Verrat am König“, gab er zu bedenken.
„Und es wäre Verrat an Aramis, wenn wir nichts tun“, entgegnete Porthos heftig.
„Versteh mich nicht falsch, Porthos. Für Aramis würde ich mich sogar mit dem Papst anlegen. Aber ich will einfach, dass wir uns gut überlegen, was wir tun und nicht kopflos ins Gefängnis rennen. Sonst landen wir gleich mit ihm auf dem Schafott und so gerne ich Zeit mit euch verbringe, ich will nicht unbedingt mit euch den Weg ins Himmelreich antreten.“
Tréville verdrehte die Augen. „Athos, glaubt Ihr wirklich, dass ich mir meinen Degen schnappe, ins Gefängnis marschiere und anfange Soldaten niederzumetzeln? Ich hoffe, Ihr traut mir mehr Stil zu! Nein, um Aramis zu retten brauchen wir einen verdammt guten Plan. Und ich habe schon eine Idee, wie er aussehen soll…“
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Noch in derselben Nacht sattelte d’Artagnan sein Pferd und verliess Paris, um die Person aufzusuchen, deren Nähe er unbedingt hatte meiden wollen. Während des Rittes überschlug er noch einmal Trévilles Plan…und musste zugeben, dass er mehr als raffiniert war. Es hatte wohl seinen Grund, dass der Hauptmann als genialer Stratege galt. Dennoch gefiel d’Artagnan die Rolle, die ihm in diesem Spiel zugefallen war, nur bedingt.
Das Problem an dieser Befreiungsaktion war, wo sie Aramis verstecken sollten. Die Garnison fiel schon einmal aus, da Richelieu da bestimmt als erstes suchen würde. Ein Kloster wäre eine Option gewesen, aber die Macht der Kardinals war in den kirchlichen Institutionen schier unermesslich. Und da war d’Artagnan Constance eingefallen, die ihre Beziehung – falls man das was sie gehabt hatten überhaupt so nennen konnte – so abrupt beendet hatte.
Er liebte Constance. Sie war schön, sie war mutig, sie war voller Witz und Grazie. Dass sie in einer Ehe mit diesem hirnlosen Wicht Bonacieux gefangen war, war tragisch genug, dass sie ihre Liebe einfach weggeworfen hatte um zu ihm zurückzukehren, war furchtbar. Er wurde immer noch zornig, wenn er daran zurückdachte. Endlich war sie so weit gewesen, sich auf eine Affäre mit ihm einzulassen und dann hatte Bonacieux, dieser feige Hund, einen Selbstmordversuch unternommen. D’Artagnan war sich sicher, dass er nicht ernsthaft vorgehabt hatte, sich das Leben zu nehmen. Er hatte lediglich mit diesem Trick versucht, Constance wieder an sich zu binden. Und das hatte er geschafft. Sie war zu ihm zurückgekehrt, reumütig und zerknirscht.
Und hatte d’Artagnan damit das Herz gebrochen.
Ein kleiner Teil von d’Artagnan, der nicht vor Eifersucht raste, konnte sie sogar verstehen. Der wesentlich grössere Teil war wütend auf sie. Er ertrug ihren Anblick nur schwer, sie immer wieder zu sehen und zu wissen, dass sie niemals zu ihm gehören würde, war die reinste Tortur. Deshalb war er ganz froh gewesen, als er erfahren hatte, dass sie sich gemeinsam mit ihren Mann auf ein Landhaus ausserhalb von Paris zurückgezogen hatte. So war die Gefahr gebannt ihr zufällig über den Weg zu laufen.
Doch jetzt musste er sie aufsuchen und um Hilfe bitten. Ein Landhaus, weit ab von Kardinal Richelieu war geradezu perfekt als Versteck geeignet. Und Constance würde ihm seine Bitte nicht abschlagen, auch wenn sie nicht gut auf ihn zu sprechen war. Sie hatte die drei Unzertrennlichen schon gekannt, bevor er nach Paris gekommen war und immer ein freundschaftliches Verhältnissen zu ihnen unterhalten. Ausserdem hatte sie ihnen schon oft aus der Patsche geholfen. Und auch wenn sie ihm vermutlich mehr Ohrfeigen gegeben hatte als jede andere Frau, mochte sie Aramis.
Das einzige Problem war Monsieur Bonacieux. Er würde sie zweifellos verraten, wenn er verstand, was da vor sich ging. Allerdings würde es bei seiner begrenzten Intelligenz wohl kaum schwierig sein, ihm irgendeine Lüge aufzutischen und wenn er trotzdem den Braten roch, würde ihn d’Artagnan mit dem grössten Vergnügen höchstpersönlich in den Keller sperren.
D’Artagnan hielt sein Pferd an, als er sein Ziel erreichte. Landhaus war eigentlich ein zu hoch gegriffener Begriff für das schlichte, doppelstöckige Gebäude mit dem roten Dach, aber es wirkte sauber und ordentlich. Constance hatte ihm einmal davon erzählt, dass sie es hasste, wenn Bonacieux sie hierherschleppte, weil sie sich hier immer zu Tode langweilte und er hatte scherzhaft gefragt, ob sie ihm den Weg beschreiben könne, damit er sie retten könne. Wer hätte gedacht, dass ihm dieses Wissen einmal ernsthaft nützen würde.
Ein Lichtschein tanzte durch die Fenster und für einen Moment erkannte d’Artagnan Constances zierliche Silhouette. Sein Herz wurde schwer vor Sehnsucht. Die Monate, die er bei ihr gelebt hatte, waren eine schöne Zeit gewesen. Nicht nur weil er sich unsterblich in sie verliebt hatte, sie hatten auch wunderbare Momente der Freundschaft und der Verbundenheit erlebt. Bei ihr hatte er sich geborgen gefühlt, hatte Frieden gefunden, nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters. Jetzt war alles so furchtbar kompliziert geworden.
Während er sein Pferd anband, überlegte er, wie er es am besten anstellen sollte, mit Constance zu reden. Anklopfen war keine Möglichkeit. Die Wahrscheinlichkeit das Bonacieux öffnete, war einfach zu gross. Wenn erst d’Artagnan auftauchte und dann zwei Tage später plötzlich ein Musketier sich bei ihm einquartierte, würde sogar der tumbe Tuchhändler misstrauisch werden.
Also griff er zu derselben Methode, wie zahlreiche abgewiesene Liebhaber vor ihm. Er warf Steinchen gegen die Fenster. Es machte sogar auf eine abstruse Art und Weise Spass, fast so, als werfe er Steine gegen Bonacieux selbst. Ein Steinchen in sein selbstgefälliges Gesicht, ein Steinchen in seine kostbarsten Teile, ein Steinchen in seine…
„Autsch!“
D’Artagnan zuckte zusammen. In seiner Selbstvergessenheit hatte er völlig verpasst, dass Constance das Fenster geöffnet hatte. Der Stein hatte sie direkt an der Stirn getroffen, die sie sich jetzt mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb. D’Artagnan verbiss sich einen Fluch. Das war ja ein toller Anfang für ihr Wiedersehen.
Er trat aus dem Schatten. „Ich bin es“, rief er leise.
Eine Weile blieb es still, dann wurde das Fenster geschlossen. D’Artagnan schluckte schwer. Sie war wohl noch wütender, als er angenommen hatte. Wobei er nicht ganz nachvollziehen konnte, wieso sie jetzt beleidigt war. Sie hatte ihn ja abgewiesen. Aber Frauen waren eben kompliziert, pflegte Aramis zu sagen, der sich ja immer wieder opferte, um auch die letzten Mysterien des schönen Geschlechts zu entschlüsseln.
D’Artagnan überlegte schon, wie er es seinen Freunden schonend beibringen soll, dass sie sich ein neues Versteck für Aramis suchen mussten, da öffnete sich zu seiner Verblüffung die Tür und Constance stand im Türrahmen.
Ihr Anblick war nach all den Monaten, als tauche man seinen Kopf in eisiges Wasser. Sie hatte ihr Haar gelöst und es fiel ihr in schönen, gleichmässigen Locken um das herzförmige Gesicht. Die braunen Augen hatten noch immer ihre vertraute Wärme und für einen Moment wollte d’Artagnan nichts mehr, als sie in seine Arme schliessen. Aber dann erinnerte er sich daran, dass er dieses Privileg verloren hatte.
Sie lächelte nicht, aber ihre Stimme klang durchaus freundlich als sie sagte: „Du brauchst dich nicht hierherzuschleichen wie ein Dieb in der Nacht. Mein Mann ist nicht hier. Komm rein.“
In d’Artagnan stimmte ein Orchester eine Ode der Freude an. Bonacieux war gar nicht hier. Das war ja geradezu fantastisch! Das konnte man ja fast also Zeichen Gottes sehen. Dennoch, als er in Constances Haus trat, fühlte er, wie die Nervosität wieder nach ihm griff. Er war hier mit der Frau, die er liebte…und er durfte sie nicht anrühren. Himmel, er wusste nicht einmal, was er ihr sagen sollte.
„Wie geht es dir?“, fragte er ungeschickt, während Constance die Tür hinter sich schloss.
Sie hob eine Augenbraue. „Bist du gekommen, um mich das zu fragen?“, fragte sie schnippisch, „nachdem du dich wochenlang nicht gezeigt hast? Mir nicht einmal geschrieben hast?“ Sie klang beleidigt und eingeschnappt. Fast, als wäre sie seine vernachlässigte Ehefrau.
„Du hast dich für deinen Mann entschieden!“, fauchte d’Artagnan.
„Damit habe ich nicht gemeint, dass du dich einfach ganz aus meinem Leben verabschiedest! Ich dachte, wir wären Freunde!“ Ihre Stimme schlug diesen heftigen, leidenschaftlichen Ton an, den d’Artagnan zu gut kannte. Die Ungerechtigkeit in ihrem Vorwurf kränkte ihn, denn er hatte seine Gründe, wieso er ihr ausgewichen war. Nicht so sehr, weil er zornig auf sie war, sondern weil es ihm schier unerträglich war in ihrer Nähe zu sein und sie nicht im Arm halten zu dürfen. Nur ihr Freund zu sein, das war schwerer, als ihr Feind zu sein.
Dennoch war er heute als Freund zu ihr gekommen. „Da sind wir auch. Und ich muss dich um etwas bitten.“
Sie legte ihre Stirn in Falten und seufzte dann schwer. „Das klingt nach einer längeren Geschichte. Komm, setzen wir uns in die Küche.“
Die Küche war geräumig und so gemütlich, wie die in Constances Pariser Haus. Es roch nach ihrem Tee und auf dem Tisch lag eine angefangene Näharbeit neben einer halb heruntergebrannten Kerze. Als er sich setzte, erwartete er beinahe, dass sie ihm das Essen auf dem Tisch stellte und ihn dann neugierig nach Palastgerüchten fragte. Aber das war vorbei.
„Wo ist dein Mann?“, fragte er schliesslich unvermittelt.
„In Calais. Es hat Schwierigkeiten gegeben mit einer Lieferung seiner Stoffe. Gestern ist er abgereist.“
„Dann kommt er in den nächsten Tagen nicht zurück?“
In Constances dunklen Augen blitzte es traurig auf und sie verschränkte in einer abwehrenden Geste die Arme vor der Brust. „Was soll das, d’Artagnan? Ich habe dir doch gesagt, dass das mit uns nicht geht und…“
„Ich bin nicht wegen uns gekommen. Constance, Aramis steckt in richtig schlimmen Schwierigkeiten.“
Ihre Miene wechselte von berührt zu besorgt und sie setzte sich ihm gegenüber. „Erzähl mir alles“, forderte sie.
Und d’Artagnan erzählte es ihr. Vom Francis‘ Tod, dem furchtbaren Verdacht, der auf Aramis lastete, dem Urteil der Königin, der geplanten Hinrichtung, von Ellen und Dupont, die logen und Aramis ins Unglück stürzten. Er erzählte von Trévilles Plan. Und wie immer, wenn er mit Constance sprach, erzählte er ihr noch viel mehr, von seiner Angst zu versagen, von seiner Angst Aramis zu verlieren und mit ihm auch einen grossen Teil von Porthos und Athos. An irgendeinen Punkt seiner Erzählung nahm Constance seine Hand in ihre und drückte sie, eine sanfte, unterstützende Geste.
„Und ihr wollt, dass ich Aramis zu mir nehme?“, vergewisserte sie sich am Ende seines Berichtes.
„Wenn dein Mann nicht hier ist, ist das Versteck geradezu perfekt. Und es geht ihm nicht so gut. Es wäre wichtig, dass jemand bei ihm ist, den er vertraut und kennt“, erklärte er Constance.
Sie nickte. „Gut. Mein Haus steht ganz zu eurer Verfügung. Und wenn Kardinal Richelieu es wagt sein hässliches Gesicht hier zu zeigen, wird er es bereuen!“ Sie wirkte so wild entschlossen, dass d’Artagnan es ihr ohne weiteres zutraute, Richelieu höchstpersönlich mit dem Besen zu verprügeln. Er wusste, Aramis war bei ihr in guten Händen.
Er räusperte sich. „Da gibt es aber noch etwas anderes, das du für uns tun musst…“
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Obwohl er den grössten Teil seines Lebens an diesem Ort verbracht hatte und ihn auf eine verquere Art und Weise immer noch sehr liebte, schauerte er leicht, als er den Hof der Wunder betrat. Hier herrschten andere Gesetze, hier ging es Tag um Tag ums nackte Überleben und er war mit dem Anlegen seines Waffenrocks zum Feind für seine ehemaligen Verbündeten geworden.
Obwohl die Nacht schon weit fortgeschritten war und die Strasse wie leergefegt, spürte Porthos die lauernden Blicke, die auf ihn gerichtet war. Er war nicht mehr Porthos, der Strassenjunge und König der Diebe, er war ein Musketier. Dennoch war er auch eine lebende Legende und deshalb liessen sie ihn unbehelligt, aus Furcht vor seinem Kampfkünsten.
Dann begann Porthos zu pfeifen. Eigentlich war es die Melodie eines albernen Kinderliedes, aber sie hatten sie verändert, so dass jetzt ein aggressiver und trotziger Ton mithallte, passend zu den Charakteren dieses Viertels, die sich mit erhobenen Kopf gegen die Härte des Schicksals stellten und dabei eben auch zu zweifelhaften Mitteln griffen. Sie pfiffen es, wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten steckte und manch einer hatte es gepfiffen, wenn er den traurigen Weg zum Schafott hatte antreten müssen. Es war das Zeichen zur Versammlung.
Als Porthos das Lied jetzt pfiff, kam niemand. Er hatte das auch nicht erwartet. Seine Hoffnung ruhte auf einer einzigen Person, die, obwohl zierlich von Angesicht mit einer scharfen Zunge und einem noch schärferen Degen gesegnet war. Seine grosse Jugendliebe, Floh, die geschickteste Diebin von ganz Paris und wehrhaft wie eine Katze.
Als er bei den zerbrochenen Brunnen ankam, der jahrelang als ihr Versteck für ihre reiche Diebesbeute gedient hatte, stieg so etwas wie Wehmut in ihn auf. Er hatte nie bereut den Musketieren beigetreten zu sein, aber einen Teil seines alten Lebens vermisste er sehr und dazu gehörte ganz klar Floh.
Mit einem traurigen Lächeln strich er über den kalten Stein, als eine vertraut spöttische Stimme hinter ihm sagte: „Wirst du nostalgisch, Porthos?“
„Es ist schwierig eine Frau wie dich zu vergessen.“
„Bis jetzt ist es dir ganz gut gelungen.“ Floh löste sich aus den Schatten der Nacht und ihr Anblick raubte Porthos den Atem. Ihre katzenhaft geschnittenen Augen funkelten wie Sterne in der Dunkelheit und als sie auf ihn zuschritt, hatten ihre Bewegungen die übliche Geschmeidigkeit, die Porthos schon immer fasziniert hatte. Sie war keine feine Lady, aber ihre wilde Anmut war ebenso anziehend wie Adelinas vollkommene Manieren.
Sie war fast einen Kopf kleiner als er und höchstens halb so breit, dennoch sah sie ihm furchtlos in die Augen. „Ich bin überzeugt, du hast einen Grund wieso du dich hierherwagst. Sag, was du willst.“
„Vielleicht will ich dich auch einfach nur besuchen?“
„Porthos. Bitte. Beleidige nicht meine Intelligenz.“
Porthos schenkte ihr sein verführerischstes Lächeln. „Sag mal, Floh: Hast du nicht schon immer davon geträumt, den Kardinal zu überfallen?“
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