Zwischen den Fronten von kaloubet , Rochefort, Aramis  und Armand-Jean-du-Plessis

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Kapitel Verräter?

Caporal Gaspard de Pontevy biss herzhaft in den köstlichen geräucherten Schinken. Sicherlich war dies das Beste, was er jemals gegessen hatte. Er bemühte sich langsam zu kauen und zu schlucken, aber es gelang ihm nicht so recht. Sein Körper schien der Vernunft nicht gehorchen zu wollen. Die Belagerung von Fort Saint Martin und vor allem der Hunger hatten ihren Preis gefordert. Ironie des Schicksals oder Gottes nicht zu verstehender göttlicher Plan? – Was von beiden war wohl geschehen, der junge Caporal konnte es kaum fassen. Zuerst die Belagerung durch die englischen Glaubensbrüder, der Hunger und die Verzweiflung. Er fürchtete den Tod im Kampf nicht, aber elendig an Hunger und Siechtum verrecken? Und jetzt die Rettung in letzter Minute. Und durch wen? Durch einen Entsatz der katholischen Mörder! Aber der Hunger war zu Ende. „Hunger“ – immer noch dröhnte das Wort in seinen Ohren – gierig verschlang er ein weiteres Stück des Schinkens. So sehr hatte er gehofft, dass die Belagerung durch einen gezielten Angriff bald vorüber gewesen wäre. Er hatte seine Glaubensbrüder doch mit allen wichtigen Informationen versorgt. Die Stellung der Kanonen, wie sie ausgerichtet waren, welchen Winkel sie schlecht abdeckten, die Truppenstärke, ja sogar die ungefähre Dicke der Mauern. Aber der entscheidende Angriff war nicht erfolgt. Hatte man den Boten entdeckt? Das war natürlich möglich. Dann war vielleicht sein Leben in Gefahr.

Würde er Francine je wiedersehen, mit ihr in der Blavet schwimmen gehen, sie in der Abendsonne in den Hügeln in den Armen halten und auf Pontevy herabblicken? Aber was sollten diese Gedanken?  -  Mit einem Ruck legte er das letzte Stück des Schinkens beiseite. Ein Gebet war angebracht, und nicht Gier nach Essen und romantische Fantasien. Er dankte Gott dem Herrn für seine Rettung. Sein Wille geschehe. Er hatte überlebt, also war ihm das vorbestimmt gewesen. Sein Schicksal stand bereits fest, auch wenn er es nicht kannte. Den verhassten Katholiken schuldete er keinen Dank. Seine Großmutter hatte ihn gelehrt, dass selbst gute Werke nicht zur Erlösung führen. Sie war einst eine Zeit lang bei Cathérine de Parthenay in Diensten gestanden, bevor sie sich zurückgezogen hatte, um ihren Enkel zu erziehen. Für Gaspard war sie nach dem frühen Tode der Eltern das Zentrum seiner Welt gewesen. Obwohl die Familie in den Hugenottenkriegen fast alles verloren hatte, hatte seine Großmutter ihm eine anständige, sittsame Erziehung zu Teil werden lassen und ihm den Weg einer bescheidenen militärischen Karriere ermöglicht. In früheren Zeiten hätte der Name und Rang „de Pontevy“ für ein Offizierspatent gereicht, aber Gaspard hatte es mit calvinistischem Fleiß auch so immerhin zum Caporal gebracht. Er tastete nach seinem rechten Knie, der Verband hielt noch, und die Schmerzen waren auch viel besser geworden. Er sollte seinen Platz im Lazarett wohl jemand anderem überlassen. Er wollte gerade aufstehen, da entstand etwas Unruhe, als ein neuer Patient mit viel Aufwand hereingebracht wurde. Aber das waren keine Kameraden aus dem Fort. Vorsichtig ließ sich der hugenottische Caporal wieder auf sein Lager sinken und wartete vorerst ab.

Zuerst konnte Gaspard nicht alles verstehen, was gesprochen wurde, doch dann wurde es deutlicher. Einige königliche Musketiere hatten einen verletzten Kameraden ins Lazarett gebracht und sprachen nun mit Leutnant de Tréguier. Der Verwundete war dieser Aramis. War der nicht als Unterhändler Lord Buckinghams ins Fort gekommen und hatte wegen eines Gefangenenaustausches verhandelt? Und jetzt war er hier und ein königlicher Musketier, ja hatte anscheinend auch an der Aktion teilgenommen, um Proviant hierher zu bekommen. Verdammter Musketier. Er war wahrscheinlich als Spion bei Buckingham gewesen, und diese Männer waren für das Scheitern der calvinistischen Sache verantwortlich. Dass sie ihn wahrscheinlich vor dem Hungertod gerettet hatten, war irrelevant. Darum also hatte ihn Gott der Allmächtige verschont. Für sein erstes Versagen war er bereits bestraft worden, als er schmählich vor Schwäche eingeknickt und eine Treppe am Wehrgang der Festung hinuntergefallen war. Sein Knie begann wieder zu schmerzen, als er daran dachte. Mit schierer Willensstärke schob er den Schmerz beiseite, er musste jetzt nachdenken. Was war seine Bestimmung? Diesen Aramis töten? Sollte er der Vollstrecker der göttlichen Strafe für Verrat sein? Oder sollte er versuchen, zu fliehen? Wenn Lord Buckingham von den neuen Verhältnissen im Fort Kenntnis erlangte, so konnte vielleicht doch noch ein Sieg errungen werden. Der Geheimgang! Er hatte schon während der letzten Tage so oft an ihn gedacht. Wenn er doch nur früher davon erfahren hätte. Seine Überraschung war damals grenzenlos gewesen, als die verschmutzte Gestalt aus dem Vorratskeller gekommen war. Doch die Übergabe der Papiere hatte nur wenig später stattgefunden, und er hatte damals keine Gelegenheit gehabt, herauszufinden, wo der Gang außerhalb der Mauern endete, um dies auf der Karte für die Engländer einzuzeichnen. Aber Toiras ließ den Zugang im Vorratskeller stets gut bewachen, und dazu kam sein verletztes Knie. Doch jetzt herrschte Euphorie in der Festung. Frisches Essen war ausgegeben worden, und so manche Flasche Wein. Jetzt wäre die Wachsamkeit wohl am geringsten. Das musste er ausnutzen. Ob er beide Pläne kombinieren konnte? Den Verräter eliminieren und durch den Geheimgang entkommen? Er hatte den Geheimgang in der Zeit der Belagerung nicht nutzen können. Und doch war dieser Gang der letzte Trumpf, den er noch hatte. Jetzt mussten die englischen Verbündeten davon erfahren. Dann, ja dann, konnte das Schicksal wieder den Lauf nehmen, den es nehmen sollte.

Vielleicht konnte er die Entbehrungen in seiner Heimat in der Bretagne wieder vergessen. Der raue Wind würde seinen Kummer verblasen, und er würde Trost in den Armen seiner geliebten Francine finden. Aber noch musste er sich gedulden, er durfte jetzt nicht unvorsichtig werden. Noch gab es keinen konkreten Verdacht gegen ihn. Zu lange durfte er aber auch nicht warten, denn die Zeit drängte. Es dämmerte schon fast, und das Ultimatum Lord Buckinghams zur Übergabe von Fort Saint Martin lief ab. Bei Tag wäre eine Flucht kaum mehr möglich.

Mühsam erhob sich Gaspard von seinem Lager. Der großgewachsene Musketier wachte am Bett seines Kameraden. Zwar schien auch dieser verletzt zu sein, wie man an seinem Verband unschwer erkennen konnte, doch der junge Hugenotte war unbewaffnet. Die Waffen lagen im Nebenraum des Behandlungszimmers. Er seufzte innerlich. Im Moment konnte er den Verräter also nicht richten. Mit seinem verletzten Bein war er sicher nicht schnell genug, sich die Waffen des Musketiers zu schnappen und beide zu töten. Und schon gar nicht lautlos – nein, das war leider keine Option – also der Geheimgang. Mit einem kurzen Gruß humpelte er nach draußen.

Caporal de Pontevy unterdrückte einen Fluch. Er hatte nicht gedacht, wie schwer ihm das Gehen fallen würde. Die kurzen Strecken im Lazarett waren doch so einfach gewesen, und er hatte jetzt seinen Waffen wieder, aber bereits die ersten Stufen waren die Hölle gewesen. Er hatte sich sogar einen Spaten als behelfsmäßige Krücke nehmen müssen. Als er beim Vorratslager ankam, erwartete ihn die nächste unangenehme Überraschung. Aus dem Keller kamen die Geräusche feiernder Kameraden. Sie hatten ihren Posten nicht wie gehofft verlassen, sondern einfach Wein und Braten nach unten gebracht. Aber vielleicht konnte er sich vorbeischleichen oder sie kurz wegschicken. Den Spaten stellte er weg, der war zu laut, auch wenn die Stütze höchst willkommen gewesen wäre.

Wie sollte er das bloß schaffen, im Geheimgang musste man ja sogar kriechen, und er quälte sich schon bei ein paar Kellerstiegen. Die beiden Soldaten unterhielten sich laut über die Lage. Sie freuten sich schon über die Gesichter der Engländer – wie man sie verhöhnen und das Ultimatum ablehnen würde. Fast war er unten angekommen, die Soldaten waren stark angeheitert und völlig unaufmerksam – doch da - plötzlich sackte sein rechtes Knie einfach weg, er verlor komplett das Gleichgewicht, polterte die letzten Stufen hinab und landete direkt vor den völlig verdutzten Wachen.

„Monsieur le caporal, was tut Ihr hier? Habt Ihr Euch verletzt?“

Gaspard stöhnte -  dieser unerträgliche Schmerz! „Ich wollte zu den Schinken und Hühnern“, röchelte er, „ein paar auf Spieße stecken und den Engländern entgegenschwenken, wenn sie kommen. Wäre das nicht köstlich?“

Die Wachposten lachten: „Und ob, Kamerad, aber Ihr seid ernsthaft verletzt. Euer Knie sieht nicht gut aus. Wir bringen Euch ins Lazarett“.

***

Hier war er also wieder. Doktor La Fleur hatte ihn angesehen, als ob er ihn abstechen und nicht verbinden wollte. „Verdammter Narr“ waren noch die nettesten Worte, die er zu hören bekam. Und ein verdammter Narr war er auch wirklich gewesen. Mit seinem kaputten Knie durch den Geheimgang zu entkommen war unmöglich, das wusste er jetzt. Aber die Geschichte mit dem Essen schwenken und die Engländer verhöhnen hatte man ihm abgenommen. „Mont Blond“, wie der hünenhafte Sanitäter von seinen Kameraden scherzhaft wegen seines strohblonden Haars und seine riesigen Gestalt genannt wurde, hatte ihn, nachdem er einen neuen Verband und eine Schiene erhalten hatte, wie einen nassen Sack zurück in den Lazarettraum getragen.

Am Triumph der französischen Besatzung und der Schmähung der Engländer hatte er nicht teilnehmen können. Es wäre ihm auch schwergefallen, die englischen Glaubensbrüder, die La Rochelle zur Hilfe gekommen waren, zu verspotten. Er hatte Frankreich und dem König bis jetzt treu gedient. Aber der König stand völlig unter dem Einfluss dieses Teufels in Rot. Dieser verhasste Kardinal Richelieu wollte die Hugenotten vernichten. Man durfte nicht abwarten, bis das Morden wieder losging. Gaspard hatte seinen Großvater in den Unruhen nach der Bartholomäusnacht verloren – einen Großvater, den er nie gekannt hatte, aber die Geschichten hatte ihm seine Großmutter wohl hunderte Male erzählt.

Am Bett des Verräters tat sich wieder einiges. Diesmal waren sogar noch mehr Männer gekommen. Gaspard versuchte angestrengt, durch die zugezogenen Laken zu lauschen, doch was er hörte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Diese Musketiere wussten von ihm, auch wenn sie ihm noch nicht persönlich auf der Spur waren. Und dieser Comte, hatte der Verräter ihn nicht Rochefort genannt? Den Namen hatte er schon gehört. Stand der nicht in Diensten Richelieus? Seine Gedanken überschlugen sich, wie einige Stunden zuvor. Was war der wirkliche Plan des Allmächtigen? Den Spion Aramis bestrafen? Gar diesen Comte de Rochefort erledigen? Aber die Engländer hatten die Festung noch nicht angegriffen. Das würden sie aber doch sicher noch! Sollte er während des Angriffs ein Feuer legen oder gar versuchen, die Pulverkammer zu sprengen? Er musste wieder zur Ruhe kommen, die Zeit war noch nicht reif. Lord Buckingham würde Fort Saint Martin sicherlich erstürmen lassen. Das war der Zeitpunkt, um zuzuschlagen. Jetzt wurde Aramis bewacht, und dieser Rochefort war zu aufmerksam. Zum jetzigen Zeitpunkt war es zu früh für ein Feuer, und an die Pulverkammer würde er nicht rankommen. Aber wenn die Schlacht tobte, sah die Sache vollkommen anders aus. Vielleicht sandte Gott ihm ein Zeichen, und er würde wissen, welchen Plan er umsetzen musste. Wichtig war jetzt auch, sein Knie noch ein paar Stunden zu schonen. Seine Zeit würde kommen – und er wäre Gottes Werkzeug. Wieder glitten seine Gedanken ab. Warum konnte er nicht einfach abwarten, wie die Schlacht ausging? War nicht das Schicksal der Menschen bereits vorherbestimmt? Vielleicht war es ihm vorherbestimmt, mit Francine glücklich zu werden, gemeinsame Kinder großzuziehen. Eine neue Generation Calvinisten, die Gott priesen und ihr Werk ihm zu Ehren taten. Er sehnte sich nach dem Rat eines Predigers, aber die wichtigsten Entscheidungen im Leben musste man immer alleine mit Gott treffen…