"Die Gräfin de Winter" von Rochefort
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 30 BewertungenKapitel Heimkehr
OT: Die letzten Absätze dieses Kapitels hat Armand-Jean du Plessis beigesteuert. Ganz lieben Dank dafür! :-))
In scharfem Tempo ritt Rochefort retour in Richtung Hauptstadt. Nach ihrem nächtlichen Zusammenstoß hatte Buckingham keinen weiteren Versuch unternommen, sich seiner Angebeteten in ungebührlicher Weise zu näheren. Als die Entourage von Prinzessin Henriette und Buckingham endlich in Calais ihre Schiffe bestieg und Königin Anna und Maria de Medici die Heimreise nach Paris antraten, hatte der Graf erleichtert aufgeatmet. Zumindest für diesmal war es gelungen, einen für das Staatswohl in höchstem Maß gefährlichen Skandal abzuwenden. Seine Gedanken wanderten weiter und blieben schließlich bei jener zweiten Person aus England hängen, die ihn nebst dem englischen Premierminister in den letzten Wochen intensiv beschäftigt hatte: Lady de Winter! Inzwischen konnten eigentlich bereits Nachrichten von seinen Informanten eingetroffen sein, die mittlerweile verstrichene Zeit hätte dazu reichen müssen…
Wenn er, von auswärts kommend, ins Palais Cardinal zurück kehrte, galt seine erste Frage stets dem Aufenthalt und Befinden Seiner Eminenz. Der Kardinal wäre zur Zeit im Louvre und bei Staatsgeschäften unabkömmlich, teilte ihm ein Gardist mit. Nun gut – dann hatte er inzwischen Zeit nachzusehen, was während seiner Abwesenheit an Neuigkeiten eingelangt war. Zielstrebig, eine Erfrischung und das Ablegen seiner verstaubten Reisekleidung auf später verschiebend, eilte der Graf durch die Gänge des Palais und betrat einen bis unter die Decke mit Büchern, Akten, Schriftrollen und sonstigen Dokumenten vollgestopften Raum, in dem jedoch, trotz der Fülle des angesammelten Materials, peinlichste Ordnung herrschte. Die Buchrücken reihten sich in makelloser Symmetrie aneinander, Akten waren sorgfältig beschriftet, Briefe sauber gebündelt. Auch auf dem großen, in der Mitte des Raumes stehenden Schreibtisch waren sämtliche Gegenstände mit akribischer Genauigkeit aufgereiht, fast so, als dienten sie bloß der Zierde und nicht dem ständigen Gebrauch.
Der Herr über dieses tadellose Muster eines Arbeitszimmers erhob sich, als Rochefort eintrat, mit einem freudigen „Ah, Monsieur le Comte, gut dass Ihr wieder da seid!" von seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch. Ein Mann um die Vierzig von mittelgroßer, eher schmächtiger Statur, hellbraunem Haar, der blassen Haut eines Menschen, der wenig an die frische Luft kommt und ganz und gar alltäglichen, unauffälligen Gesichtszügen. Das Paradebeispiel eines farblosen, biederen Beamten hätte man meinen können, wären da nicht diese lebhaften, klaren blauen Augen gewesen, deren Blick nichts aber auch absolut gar nichts zu entgehen schien.
Der Graf unterdrückte ein Schmunzeln. Er konnte sich nicht erinnern, nach längerer Abwesenheit von Hector jemals mit einem anderen als dem vorhin ausgesprochenen Satz begrüßt worden zu sein. Für Hector war seine akribische, schon an Pedanterie grenzende Genauigkeit und Perfektion bei der Arbeit sowohl Segen als auch Fluch. Er war bürgerlicher Herkunft und als einfacher Schreiber in Richelieus Dienste getreten; seine Talente wie auch seine bedingungslose Loyalität hatten ihn jedoch rasch die Karriereleiter nach oben klettern lassen. Rochefort hatte dann begonnen, ihn mit Aufgaben innerhalb seines Informationsnetzwerkes zu beauftragen. Heute war Hector nicht nur der vertrauteste Privatsekretär Seiner Eminenz – unter anderem besaß er die erstaunliche Fähigkeit, die Handschrift des Kardinals täuschend echt zu imitieren! – sondern, und das war mittlerweile eigentlich seine Hauptaufgabe, auch Rocheforts Stellvertreter in der Leitung des Geheimdienstes. Richelieu hatte seine treuen Dienste schon vor geraumer Zeit mit einer Erhebung in den Adelsstand gewürdigt.
Doch als ein Getriebener seines eigenen Perfektionismus, der noch dazu höllischen Respekt vor seinem Dienstherrn, dem Kardinal hatte, lebte er in der steten Furcht, dass er bei seiner Arbeit doch einmal etwas Entscheidendes übersehen und ihm ein folgenschweren Fehler unterlaufen könnte. So war jener Stoßseufzer der Erleichterung zu erklären, wenn sein Vorgesetzter Rochefort nach Paris zurückkehrte, denn dann ruhte nicht mehr die ganze Last der Verantwortung auf seinen, Hectors, Schultern.
Rochefort lächelte dem Mann am Schreibtisch kurz zu: „Die Freude ist ganz auf meiner Seite."
„Was ist mit Buckingham?" erkundigte Hector sich nun.
„Auf dem Weg zurück über den Kanal, Gott sei’s gedankt", knurrte sein Gegenüber. „Apropos England: Sind die Berichte eingetroffen, auf die ich warte?"
„Ja, gestern." Ein rascher Griff in eine der Mappen auf dem Schreibtisch und Rochefort hielt das Gewünschte in Händen. Hector hatte die Texte, die wie üblich verschlüsselt eingetroffen waren, bereits dechiffriert und in seiner ordentlichen Handschrift zu Papier gebracht.
Der Graf zog sich einen Stuhl heran und begann zu lesen. Die Informationen waren ausführlich – offenbar hatte die bewusste Dame am englischen Hof tatsächlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen und es wurde noch immer viel über sie geredet – doch im Wesentlichen deckten sie sich mit dem, was der Geheimdienstchef Seiner Eminenz in den Gärten von Amiens per Zufall erlauscht hatte.
„…außergewöhnliche Ausstrahlung … eine ungemeine Faszination, die sie auf Männer ausübt … ein untadeliger Lebenswandel … bezaubernder Charme und große Liebenswürdigkeit… geistreich und voll Esprit…" Solche und ähnliche Formulierungen kamen in den Berichten immer wieder vor. Wären da nicht die Gerüchte nach dem Ableben ihres Gatten gewesen, man hätte meinen können, es tatsächlich mit einem Engel in Menschengestalt zu tun zu haben. Nachdem der Graf das Geschriebene überflogen hatte, blickte er zu seinem Stellvertreter. „Und – was meint Ihr? Ist sie tatsächlich ein solches Unschuldslamm?"
Der Gefragte runzelte die Stirn. „Nein", meinte er knapp, um dann noch hinzuzufügen: „Aber vermutlich eine hervorragende Schauspielerin." Rochefort nickte nachdenklich, als er seine eigene Meinung bestätigt sah. „Aber es deutet in diesen Berichten nichts darauf hin, dass sie eine englische Agentin ist. Was hat Ihre Überwachung durch unsere Leute inzwischen ergeben?"
„Nichts Neues. Sie pflegt weiterhin vielfältige gesellschaftliche Kontakte, aber es gibt keine Hinweise darauf, dass sie Informationen an die Engländer oder sonst wen weiterleitet. Sie scheint tatsächlich aus eigenem Antrieb nach Frankreich gekommen zu sein."
„Gut." Rochefort wirkte zufrieden. „Dann werde ich das dem Kardinal so sagen und ihm noch die Unterlagen zur Durchsicht vorlegen, damit er sich sein eigenes Bild machen kann. Im Endeffekt muss er entscheiden …"
In diesem Moment waren vom Flur her Geräusche, Stimmen, die schweren Stiefelschritte von Gardisten zu hören. „… Seine Eminenz scheint zurück zu sein", unterbrach sich Rochefort. „Er wird mich sicher gleich sehen wollen." Er erhob sich, nahm die Mappe mit den Berichten an sich, nickte Hector zu und verließ raschen Schrittes den Raum. Als er Richelieus Gemächer erreicht hatte, trat gerade ein Kämmerer heraus, den scharlachroten Mantel des Kardinals über dem Arm. Respektvoll grüßte der Mann den Stallmeister. Armand durchquerte mehrere Vorzimmer, in denen es stets von Gardisten, Dienern, Pagen und adeligen Gefolgsleuten des Kardinals wimmelte. „Seine Eminenz befinden sich im Arbeitszimmer", teilte ihm einer der Soldaten an der Tür zu den Privaträumen mit. Der Graf genoss das Privileg, dass er hier zu jeder Tages- und Nachtstunde eintreten durfte, ohne sich vorher anmelden zu müssen.
Richelieu war gerade im Begriffe, Platz zu nehmen, als sein Geheimdienstchef in der Tür erschien. Ein Lächeln erhellte die ernste Miene des Ersten Ministers: „Ah, Rochefort! Ihr seid ja schneller hier, als ich es schaffe, mich hinter meinen Schreibtisch zu setzen – gerade wollte ich nach Euch schicken."
Über Armands Gesicht huschte ein jungenhaftes Grinsen. „Ihr kennt mich doch, Monseigneur …"
Mit ungeduldigem Blick streifte der Kardinal die zahlreichen Schriftstücke auf seinem Arbeitsplatz, die ihm seine Sekretäre zur Unterschrift vorgelegt hatten. „Das muss warten. Zuerst Euer Bericht."
Zwar hatte er bereits schriftliche Informationen über die Vorgänge auf Buckinghams Rückreise erhalten, doch es war ihm wichtig, auch noch die detaillierten Ausführungen seines besten Agenten dazu zu hören und zu diversen Punkten Fragen stellen zu können. Fast zwei Stunden verstrichen, bis alles hinreichend erörtert war.
„Habt Ihr noch Zeit für einen weiteren Bericht?" fragte Rochefort.
Richelieu schielte zögernd auf den Papierstapel vor sich auf dem Tisch. „Was ist es denn?"
„Die Informationen aus England über diese Gräfin de Winter sind eingetroffen."
„Lasst sehen!"
Der Graf reichte ihm die Unterlagen.
„Und? Was meint Ihr?", fragte er, als der Kardinal zu Ende gelesen hatte.
„Ausgezeichnete Informationen, mein lieber Rochefort, aber diesmal nicht ganz vollständig, oder sollte ich sagen, nicht ganz aktuell?" Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des Kardinals und er nahm eine weitere Mappe aus einer der zahlreichen Laden seines Schreibtisches. Diese war in feines schwarzes Leder gebunden und mit einem großen Kreuz aus Blattgold verziert. Rochefort erkannte sie sofort. Nur Pater Joseph verwendete solche Mappen. Neben ihm selbst war Pater Joseph der engste Vertraute von Kardinal Richelieu und der Kapuziner hatte so seine eigenen Informationsquellen. Sein Netzwerk war das der Diplomatie und des Klerus und er hatte seine Augen und Ohren in ganz Europa und auch darüber hinaus. Wenn er nicht so ein religiöser Eiferer gewesen wäre, so hätte Rochefort ihn gemocht, so zollte er ihm nur einen ehrlichen Respekt.
„Nun, Pater Joseph hat eine interessante Neuigkeit aus London erfahren: Lord Winter, der Bruder des seligen Gatten unserer schönen Mylady, hat soeben am Höchstgericht in London das Testament seines Bruders anfechten lassen. Angeblich geht es um ungeklärte Tatsachen rund um den Tod von Myladys Gatten. Beweise scheinen zu fehlen, aber wie wir wissen, ist das oft eine Nebensache. Lord Winter ist ein hoch angesehener Mann, enorm reich, und hat den Ersten Minister von England, Lord Buckingham, zum Freund. Daher hat das Gericht entschieden, dass bis zur Klärung der Angelegenheit, die Verwaltung der Güter und alle damit verknüpften Einnahmen bei der Familie Winter liegen. Ein möglicher Prozess würde Jahre dauern. Damit lebt unsere gute Mylady Charlotte…"
„…über ihre Verhältnisse, und weiß noch gar nichts davon", ergänzte der Comte der Rochefort den Satz des Kardinals. Jetzt gestatte sich der Graf auch die Anspielung eines Lächelns. „Wie ist weiter vorzugehen, Monseigneur?"
„Nun ich werde diese Frau selbst einmal in Augenschein nehmen", erwiderte Richelieu, „Ihr werdet mich informieren, sobald Mylady de Winter das nächste mal im Salon Rambouillet verweilt. Ich denke, ich sollte dort wieder einmal einen ungezwungen Abend verbringen. Der Salon hat so viele nette kleine Nebenzimmer, in denen man ein ungestörtes Gespräch führen kann. Inzwischen sollen Eure Leute heimlich alle offenen Rechnungen der Dame begleichen beziehungsweise aufkaufen. Eine so angesehene Dame sollte nicht damit belastet werden, dass sie praktisch in Kürze zahlungsunfähig ist. Sie wird es früh genug erfahren!"
„Es wird alles zur Zufriedenheit Eurer Eminenz geschehen." Mit diesen Worten und einer kurzen Verbeugung verließ Rochefort das Arbeitszimmer des Ersten Ministers von Frankreich.
„Nun, es wird sich heraus stellen, ob Mylady außer hinreißend schön auch noch klug genug ist zu erkennen, welche Vorteile es bringt Kardinal Richelieu als Gönner zu haben und wie gefährlich es sein kann ein wohlwollendes Angebot von einem Mann wie Richelieu abzulehnen", dachte er bei sich. Das könnte interessant werden. Er nahm sich vor bei diesem Gespräch anwesend zu sein, oder zumindest diskret zuzuhören. Einerseits war Rochefort ja immer um die Sicherheit des Kardinals besorgt und man konnte nie wissen – anderseits war er doch wirklich neugierig, wie dieser „Engel" reagieren würde, wenn man ihm ein wenig die Flügel stutzte.